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Ausführlich rezensiert:

Im Dokument Unternehmerin Kommune: (Seite 86-89)

Die Neuerfindung der Städte.

Metropolen sichern unsere Zukunft

2011 erschien aus der Feder von Petra Roth, von 1995 bis 2012 Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt am Main und von 1997 bis 2011 mehrfach Präsidentin des Deutschen Städtetages, das Buch „Aufstand der Städte.

Metropolen entscheiden über unser Über-leben“. Unseren Lesern haben wir den Titel in der Juniausgabe 2011 von UNTER-NEHMERIN KOMMUNE vorgestellt.

Vier Jahre später, im Frühjahr 2015, hat sich Petra Roth mit „Die Neuerfindung der Städte. Metropolen sichern unsere Zukunft“, einer kompletten Neubearbeitung des Buches aus 2011 – wieder im Frankfurter Westendver-lag – zu Wort gemeldet.

Der Rezensent verfasst die folgenden Zeilen quasi in einem Atemzug mit seinem Prolog – zu lesen am Anfang des Heftes – den er dem 25. Jahrestag der Deutschen Einheit gewidmet hat. Dass er dort zu ähnlichen Befunden und Wertungen kommt, wie Petra Roth kann beide nicht erfreuen. Schon 2011 war der „Aufstand der Städte“ ein Weckruf. Dass er komplett über-hört wurde, ist sicher der Hauptgrund dafür, dass sich die streitbare Oberbürgermeisterin a.D. aktuell noch einmal, und diesmal noch nachhaltiger und deutlicher zu Wort gemeldet

hat. Denn der zentrale Widerspruch, den sie völlig zutreffend identifiziert, besteht darin, dass die Ansprüche an die Städte wachsen, die Gestaltungsspielräume der Kommunen aber immer enger werden. „Deswegen“, so die Schlussfolgerung von Roth, „braucht dieses Land dringend eine Reform des Föderalismus, die der sich rasant verändernden Lage in der Republik gerecht wird.“ (S. 10)

Schon im Vorwort skizziert Roth, dass sie noch in ihrer Amtszeit über viele Jahre und weitestgehend erfolglos versucht habe, den Kommunen jene Aufmerksamkeit und Zuwendung zu verschaffen, die sie als Hort von Demokratie und Staatsgestaltung ver-dienen. Dieses redliche Mühen hat die tragischen Züge des Kampfes gegen die Flügel von Windmühlen. Ich will die kluge und integre Petra Roth damit nicht an die Seite von Don Quichote stellen. Real aber gibt es Gemeinsamkeiten und ich hätte mir deshalb von der Autorin auch den finalen Satz gewünscht, dass weder Bund, noch die Länder überhaupt auch nur bereit sind, die Städte und Gemeinden in das Zentrum des Staatswesens zu stellen. Das hätte nämlich die Konsequenz, Macht in erheblichem Umfang an die Basis abzugeben. Das wäre im echten Sinne ja gar kein Verzicht, sondern nur die Wiederherstellung eines Zustandes, der für mich die entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass unsere bürgerliche Demokratie auch umfassend funktionieren und gelebt werden kann. Machtdelegierung wäre in diesem Sinne also nur die Einsicht, dass Entscheidungen getreu dem Prinzip der Subsidiarität dort

getroffen werden müssen, wo die Kompetenzen für den jeweiligen Sachverhalt vorhanden sind.

Wenn man diesem Erfordernis genügt, dann folgt die Konsequenz auf dem Fuße, dass Kommunen im Prozess des Einsammelns und des Umverteilens der öffentlichen Finanzen nicht am Ende der Kette, sondern am Anfang stehen müssen.

Subsidiarität – das ist der Gedanke, der sich wie ein roter Faden durch das neue Buch von Petra Roth zieht – reduziert sich eben nicht darin, dass einer Kommune schon heute

„zugetraut“ wird, dass sie ihre Hundesteuer selbst festlegen darf. Vielmehr ist es so, und Roth zeigt das an den ganz großen Themen wie Energiewende, Bildung oder demografischer Wandel, dass zuvorderst in den Kommunen entschieden wird, wie derart gravierende gesellschaftliche Umwälzungen mit positiven Ergebnissen vorangebracht werden können.

Die Autorin zeigt aber auch, dass im Bund und den Ländern daraus keine Schlussfolgerungen gezogen werden. Es ist doch an Demagogie kaum zu toppen, wenn den Kommunen seit Ausruf der Energiewende nahezu täglich erklärt wird, dass die neue Energiewelt dezentral daherkomme, man sie aber bei der Entwicklung der übergreifenden politischen Umsetzungs-konzepte außen vor lässt.

Petra Roth hat viele Beispiele zusammen-getragen, um zu illustrieren, dass die Kommunen bei allen wichtigen gesellschaft-lichen und ökonomischen Prozessen real die größten Herausforderungen zu tragen haben.

Und sie zeigt überzeugend, dass diesen Körper-schaften alle wichtigen Instrumente vorent-halten werden, um dieser Verantwortung auch gerecht zu werden.

Aber wie schafft man es, dass jene ent-scheiden, die am nächsten an der Realität sind?

Ob bei der Energiewende oder der Bewältigung der Flüchtlingsströme.

Im schon erwähnten Vorwort lesen wir:

„Um allerdings eine Reform in Gang zu bringen, muss man gelegentlich einen Auf-stand wagen.“ Vermutlich wird’s nur auf diese Weise gehen. Darüber wie man dies unter Beachtung unserer demokratischen Regeln so organisieren kann, dass es ein Erfolg wird, sollte die Autorin ihr nächstes Buch schreiben.

Denn das Elend zu beschreiben ist auf Dauer müßig.

Es kommt doch bitte schön darauf an, die Dinge – frei nach Karl Marx – nicht zu inter-pretieren, sondern sie auch zu verändern. Wenn Petra Roth dafür in ihrem aktuellen Buch schon ein paar Anregungen formuliert hätte, wie die Reformen und wenn nötig auch der kommunale Aufstand realisiert werden kann, wäre die Zweitauflage ihres Buches nützlicher

gewesen. Denn der „Aufstand der Städte“ war schon der Titel im Jahr 2011……….

Rezensent: Michael Schäfer Bewertung: ****

Petra Roth:

Die Neuerfindung der Städte.

Metropolen sichern unsere Zukunft

Westend Verlag Frankfurt am Main 1. Auflage 2015

ISBN 978-3-86489-091-8

Neinsagerland. Wege zu einem Konsens für Fortschritt

Jährlich erscheinen in Deutschland rund 100 .000 Bücher. Wir reden nicht über Nachauf-lagen, sondern über Neuerscheinungen!!! Denis Scheck, inzwischen sitzt er unverrückbar auf dem Thron des Obergurus deutscher Literaturkritik, den vor ihm Marcel Reich-Ranicki gefühlte tausend Jahre innehatte, verfügt in „Druck-frisch“ leider nicht über genug Zeit, um all den Müll, der unter diesen jährlich 100.000 Titeln zu finden ist, wirkungsvoll in die Tonne zu treten.

Und die Idee einer Limitierung, etwa dadurch, dass eine intellektuell wie moralisch ausgewiesene Jury den Schrott aussortiert, bevor dafür Bäume sterben müssen, ist in einem Land, in dem die freie Meinungsäußerung gottlob ein unverrück-bares Grundrecht ist, glücklicherweise auch nicht umsetzbar, selbst dann nicht, wenn man sie mit dem Schutz des Ökosystems Wald begründen würde.

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UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / 3. 10. 2015 88

Also müssen wir damit leben, dass unter den 100.000 Büchern, die jedes Jahr – die Zahl ist in etwa konstant – das Licht der Welt erblicken, immer wieder Kostbarkeiten nicht zur Kenntnis genommen werden, weil sie von der Masse an literarischem Schrott, der uns zugemutet wird, regelrecht zugemüllt werden.

Ich bin mir sicher. Hätte Denis Scheck nicht nur seinen exzellenten Sachverstand, sondern auch noch Röntgenaugen, dann hätte er im Jahr 2011 jenes Buch entdeckt, auf das ich leider erst vier Jahre später, und dies auch nur per Zufall, stieß. Geschrieben hat es Rainer Knauber. Journalist von Hause aus, später Regierungssprecher im Saarland und im Bundesministerium für Verkehr und aktuell Kommunikationschef eines der beiden großen Berliner Energieunternehmen. Dort war ich mit ihm zu einem Gespräch verabredet. In den wenigen Minuten, die ich in seinem Büro auf ihn wartete, habe ich natürlich nicht seine Unterlagen auf dem Schreibtisch gesichtet!

Aber ein Blick in den Bücherschrank ist erlaubt.

Und dort stand das schmale Bändchen mit dem Titel „Neinsagerland“, und auf dem Buch-rücken las ich den Namen des Autoren, mit dem ich verabredet war.

Auf dem Heimweg in der S-Bahn habe ich mit dem Lesen der 135 Seiten begonnen, und spät am Abend die Lektüre beendet. Dass man Bücher erst aus der Hand legt, wenn man auf der letzten Seite angelangt ist, ist für die-jenigen, die diesen Text lesen – und das sind alles Bibliophile – ein bekanntes, gleichwohl aber eher seltenes Phänomen. Bei mir hat es mit seinen ersten Wallander-Krimis (später wurde es leider immer seichter) Henning Mankell geschafft. Knauber ist unter den Sachbuch-autoren (mindestens 80 Prozent meiner Lektüre betreffen dieses Genre) der erste.

Das ist aber nur ein Grund, warum ich ihnen dieses Buch ans Herz lege. Erschienen ist es übrigens im Vorwärts Verlag der SPD.

Das muss sie aber nicht erschrecken, falls Sie das CDU-Parteibuch in Ehren halten, denn Knaubers Text ist von der ersten bis zur letzten Zeile eine sachbezogene, ideologiefreie Bestandsaufnahme. Ich weise nur deshalb auf den Verlag hin, weil dort natürlich nicht die Ressourcen verfügbar sind, um das eher schmale Buchprogramm so zu promoten, das es einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangt.

Mit dieser Rezension, die leider nur die wenigen Tausend Leser von UNTER-NEHMERIN KOMMUNE lesen, werde ich

„Neinsagerland“ auch nicht zum Bestseller machen. Aber immerhin – und das ist das zweite Motiv für diese Rezension – spreche ich eine Zielgruppe an, für die der Titel

Pflichtlektüre ist. Denn Knaubers Thema ist nicht nur ein Gesellschaftspolitisches, es ist in erster Linie ein Kommunales. Das macht er schon im Vorwort deutlich: „Wer bei Google die Worte ‚Bürgerinitiative gegen‘ eingibt, erhält einen Mausklick später mehr als eine halbe Million Möglichkeiten in Deutsch-land gegen etwas zu sein. Der Katalog ist bunt: Man kann wahlweise gegen Flughäfen, LKW-Verkehr, Windkraft, Stromleitungen, Islamisierung, Gasbohrungen, ja sogar gegen Tierversuche in Wohngebieten protestieren.

Das deutschsprachige Feuilleton und die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wies-baden haben den Akteuren des Dagegenseins auch sogleich einen Namen verpasst: Die ‚Wut-bürger‘ wurden medial getauft. Aus dem Land der Ingenieure und Tüftler sei ein Land der Bedenkenträger und Verhinderer geworden, ist einerseits zu lesen. Andere hingegen feiern die Wutbürger gar als neue ‚Mutbürger‘, die höchste Anerkennung verdienen.“

Soweit die Gegenstandsbeschreibung aus Knaubers Feder. Dem Text entnehmen Sie, dass der Widerstand, den der Autor zum Inhalt seines Buches gemacht hat, in der Tat in den Kommunen seine Heimstatt hat. Zum anderen habe ich Ihnen mit dieser kurzen Lese-probe auch den Beleg dafür geliefert, dass der Autor ausgesprochen gut konsumierbare Texte fabriziert. Das wiederum ist Grund drei für meine Leseempfehlung: Populärwissenschaft-liches – und dieses Prädikat würde ich Knaubers Buch ausdrücklich geben – kommt bei vielen Sachbuchautoren ausgesprochen flach daher.

Der flotten, oft sogar reißerischen Schreibe fällt Fundiertheit und semantische Präzision in viel zu vielen Publikationen zum Opfer. Nicht bei Knauber. Er hat für sein vergleichsweise kurzes Buch sehr viel bei anderen gelesen, fundiert damit eigene Wertungen und liefert gleichsam ganz nebenbei einen sehr guten Überblick darüber, was zum Thema vertiefend noch zur Hand genommen werden könnte.

Nun zum vierten, und für mich wichtigsten Grund meiner Empfehlung: Allein in Berlin haben es in den letzten Jahren unter ganz vielen lokalen Bewegungen drei Initiativen geschafft, die Millionenmetropole nicht nur in Bewegung, sondern an die Wahlurnen bzw. kurz davor zu bringen. Der „Berliner Wassertisch“ leitete die Rekommunalisierung der Berliner Wasserbetriebe ein, der Berliner Energietisch brachte die analoge Debatte für die Netze von Vattenfall und Gasag in Gang, und ganz aktuell schaffte es eine wohnungs-politische Initiative, dass sich der Berliner Senat – übrigens strategisch und politisch durchaus gekonnt – mit den Akteuren an einen Tisch setzte, um gemeinsam einen Gesetzentwurf zu

Papier zu bringen, der mit großer Wahrschein-lichkeit auch das Berliner Abgeordnetenhaus passieren wird.

Ob diese Themen einer Metropolregion oder das Schließen eines Schwimmbades in einer 5.000-Einwohnergemeinde – allen liegt eine Bürgerinitiative zugrunde. Knauber beschreibt die Mechanismen, er benennt Ursachen und er gibt profunde Hinweise dafür, wie der Dialog mit wütenden und/oder mutigen Bürgern in Gang gesetzt werden und möglichst zum konstruktiven Ergebnis geführt werden kann.

So dicht, so gut strukturiert, so fakten-reich und so qualifiziert in der Bewertung habe ich zum Thema „Bürgerbewegungen“ – und damit befasse ich mich seit vielen Jahren publizistisch und auch wissenschaftlich – vor Knauber nichts gelesen. Jeder Entscheidungs-träger in Kommunen und kommunalen Unter-nehmen sollte deshalb „Neinsagerland“ zur Hand nehmen. Es macht ihn klüger. Aber das ist nicht der einzige Effekt. Gehen Sie, liebe Leserinnen und Leser, ganz einfach davon aus, dass sich die Bürger in Zukunft noch viel mehr als schon jetzt außerhalb der tradierten Foren, Gremien und Parteien zu Wort melden und Druck ausüben werden. Das ist für mich zum einen die logische Konsequenz aus dem Versagen dieser Institutionen und der Tatsache, dass sie sich immer mehr vom Menschen ent-fernt haben. Zum anderen wird Kommune in einer abstrakten und intransparenten Globali-tät immer mehr zur Heimat. Und hier wollen, und hier können Menschen noch gestalten. Es muss uns gelingen, diese Prozesse konstruktiv und produktiv zu machen. Das wird erstens nur möglich sein, wenn sich die Entscheidungsträger regelrecht in diese integrieren. Und zweitens muss es gelingen deutlich zu machen, dass jedes Nein ebenso wie jedes Ja Konsequenzen und Alternativen hat. Wer das Schwimmbad erhalten will, muss auch wissen, dass das nur geht, wenn z.B. die Müllgebühren steigen.

Es geht also für die kommunalen Ent-scheider darum, Bürgerbewegungen mitzu-gestalten. Wenn Sie Knaubers „Neinsagerland“

lesen, sind Sie dafür deutlich besser gerüstet!

Rezensent: Michael Schäfer

Bewertung: *****

Rainer Knauber:

Neinsagerland.

Wege zu einem Konsens für Fortschritt

Vorwärts Buch GmbH, Berlin 1. Auflage 2011

ISBN 978-3-86602-436-6 www.vorwaertsbuchverlag.de

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Der Schmuggel über die Zeitgrenze

Chaim Noll, deutsch-israelischer Schriftsteller und Sohn des bekannten DDR-Literaten Dieter Noll („Die Abenteuer des Werner Holt“), hat mit

„Der Schmuggel über die Zeitgrenze“ autobio-graphische Erinnerungen vorgelegt. Noll lässt darin seine ersten 30 Lebensjahre Revue passieren.

Als Hans Noll 1954 in Ost-Berlin geboren, wächst er in einer staats- und SED-treuen Familie unter privilegierten Bedingungen auf, mit Zugängen zu Menschen und Möglichkeiten, etwa Reisen in die Sowjetunion. Er lässt sich dennoch nicht einnehmen. Mit seinem Talent und der familiären Herkunft hätte er es sich bequem in der DDR einrichten können, als Teil des staatlich getragenen und den Staat tragenden Kunst- und Kulturbetriebes. Zunächst scheint es auch danach

auszusehen, dass sein Weg diesen Verlauf nimmt.

Noll studiert an der Kunsthochschule Weißen-see Malerei, wird Mitglied der SED. Doch seine Erinnerungen an die DDR enden mit der Aus-reise in die Bundesrepublik im Jahr 1984.

Den Weg dorthin erzählt Noll präzise, anekdotenreich und reflektierend: Das Ost-Berlin der 1950er mit Schutthaufen im Straßenbild, aus-gebrannten Hinterhöfen und Luftschutzbunkern, in denen immer noch Leichen gefunden werden.

Der im Verborgenen liegenden jüdischen Her-kunft seiner Familie spürt Noll nach, das Miss-trauen seiner Eltern gegenüber ihrer Umwelt bei gleichzeitigem Bekenntnis zum neuen, „anti-faschistischen“ Staat entgeht der kindlichen Psyche nicht. In der Familie ist dieses Kapitel tabu, den jungen Hans interessiert es dafür umso mehr. Noll gelingt es, Eindrücke und Stimmungen authentisch wiederzugeben und ein Gefühl für die Zeit zu ver-mitteln. Die kleinen jüdischen Gemeinden in der DDR fristen ein Schattendasein. Zwar sind im Staatsapparat nicht wenige Menschen mit jüdischer Herkunft zu finden, von denen aber viele ihr Jüdischsein zugunsten der kommunistischen Sache als ein überwundenes Kapitel betrachten.

Die Schilderungen Nolls sind Innenansichten aus dem Milieu seiner Herkunft, der DDR-Kulturelite. Sie zeigen, wie sich Noll als junger Mann von diesen Kreisen innerlich entfremdet und schließlich ganz abwendet, seinen eigenen Weg geht, gegen Widerstände und für den Preis seiner sozialen und bürgerlichen Einbettung in der DDR-Oberschicht. Er nimmt den Bruch mit seinem prominenten und staatstreuen Vater in Kauf, für den die Entwicklung des eigenen Sohns Enttäuschung und Ansehensverlust bedeuten.

Die Vorgeschichte und die Umstände der Ausreise aus der DDR stellt Noll in seinen Einzelheiten dar: Wehrdienstverweigerung, psychiatrische Behandlungen, Behörden- und Spießrutengänge, das Abwenden von Menschen, aber auch manche heimliche, unerwartete Solidaritätsbekundung.

Das Buch ist gespickt mit zahlreichen detail-reich erinnerten Geschichten, Begegnungen, Begebenheiten, Auftritten von Personen aus der DDR-Öffentlichkeit, aber auch unbekannten Zeitgenossen. Noll ist ein genauer Chronist, der viele Dialoge wiedergibt, wohl basierend auf Tagebuchaufzeichnungen, der die Brille und Sichtweise seiner Jugend aufsetzt und mit Wertungen aus der Distanz von heute ver-knüpft. Dabei gelangt er zu positiven aber auch unschmeichelhaften Urteilen.

In einem Appendix geht Noll unter der Überschrift „Meine Akte, ein Spiegelbild“ auf die Bespitzelung durch die Stasi ein. Die Akte ist die Chronik von Nolls Weg zum Außen-seiter in der DDR, ein Zeitdokument, in der er sich unverhofft als Kind und jungem Mann (wieder-) begegnet ist. Viel Belangloses, viel

Gerede findet sich darin, mehrere Abteilungen, diverse Quellen, offizielle und inoffizielle, haben sich mit ihm befasst. Für Noll zeigt sich in den Akten der Stasi allgemein ein deutsches Phänomen, nämlich „die Sucht, möglichst gründlich vorzugehen, möglichst alles über diese vielen Personen in Erfahrung zu bringen, und den ungeheuren Fundus der gesammelten Nachrede, einen Vorrat an geheimen Möglich-keiten, buchhalterisch festzuhalten und zu verwalten.“ Er weist auf die Schwierigkeiten im Umgang mit Stasi-Akten hin, dass sie keine endgültigen Antworten auf offene Fragen geben und Grund für Fehldeutungen sein können:

„Um Stasi-Akten verstehen und deuten zu können, muss man den Staat kennen, in dem sie entstanden sind. Da es diesen Staat seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gibt, schrumpft die Zahl der kundigen Leser jeden Tag. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit von Missver-ständnissen und Missbrauch des Materials.“

Die Erinnerungen enden im Mai 1984 mit seiner Ausreise in die Bundesrepublik. Ein Jahr später erscheint im Westen mit „Der Abschied.

Journal meiner Ausreise aus der DDR“ eine Art Tagebuch seines Weggangs aus der DDR, das zum Beststeller wird und Noll in der Bundesrepublik bekannt macht. Noll zieht Anfang der 1990er Jahre erst für einige Jahre nach Italien, bevor er nach Israel geht, wo er eine neue Heimat findet.

Bis heute veröffentlicht er in deutscher Sprache, in den letzten Jahren unter anderen die Romane „Die Synagoge“ und „Der Kithara-Spieler“.

Chaim Noll:

Der Schmuggel über die Zeitgrenze Verbrecher Verlag

1. Auflage 2015 ISBN: 978-3-95732-085-9

Im Dokument Unternehmerin Kommune: (Seite 86-89)