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Am Anfang habe ich gesagt, dass ich mir mehr Anleitung

wünsche, aber dann wäre das nicht passiert. Insofern war es  gut, aber ich habe mich wirklich verloren gefühlt!

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5. Die Künstler/innen ermutigen und unterstützen die Jugendlichen in ihrem selbstbe-stimmten Arbeiten.

Die persönliche Auseinandersetzung mit Geschichte bedarf eines bewussten Ansprechens der Individualität der Jugendlichen und der Wertschätzung ihrer Ausdrucksformen und Arbeits-weisen. Die Künstler/innen unterstützen die Jugendlichen dabei, sich ihrer individuellen Wahr-nehmung bewusst zu werden und machen damit auch die Vielfalt der Perspektiven unter den Teilnehmer/innen sichtbar. Die künstlerischen Arbeitsaufträge sind nur individuell zu lösen.

Die Jugendlichen finden selbst zu ihren Ideen, die Künstler/innen fördern und unterstützen die Umsetzung und tragen die Entscheidungen der Jugendlichen mit. Sie sind ihnen wertschätzen-des Gegenüber, das zuhört, abwartet, zutraut, beobachtet und inhaltlich und fachlich kom-mentiert. Die Künstler/innen begleiten die Jugendlichen durch den kreativen Schaffensprozess mit seinen Momenten der Angst vor dem Versagen und dem Gefühl des Verlorenseins. Das Interesse an ihrer Arbeit ermutigt sie, sich in eine engagierte persönliche Auseinandersetzung mit der Geschichte zu begeben.

6. Der Prozess der Auseinandersetzung bewegt sich zwischen Erarbeitung von Informa-tion, künstlerischer Produktion und Reflexion.

Die Teilnehmer/innen kommen in die Gedenkstätte, weil sie sich mit der Geschichte und ihrer Interpretation auseinandersetzen wollen. So sind die Arbeit an ästhetischen Produkten und die Aneignung von Wissen über die Geschichte unmittelbar miteinander verknüpft. Auch die künstlerischen Produkte sollten Anlass zur Reflexion sein. In pädagogischen Zusammenhängen dürfen sie nicht als scheinbar unmittelbarer Ausdruck stehen bleiben. Vielmehr muss das, was im Produktionsprozess entsteht, kritisch reflektiert werden. Insbesondere sollten die Arbeiten auf erinnerungspolitische Ikonen untersucht werden. Erst wenn diese Ikonen, standardisierte Bilder und Sprechweisen erkannt und reflektiert werden, kann es den Jugendlichen gelingen, sich von ihnen zu emanzipieren und einen eigenen Ausdruck zu entwickeln.

7. Künstlerische und kulturpädagogische Ansätze verbinden kognitives, emotionales und soziales Lernen.

Durch künstlerische Arbeit in gedenkstättenpädagogischen Settings kann die überwältigende Emotionalität, mit der die Themen der Auseinandersetzung häufig behaftet sind, verarbeitet werden. Sie ist außerdem Modus individueller Aneignung von Geschichte und kann damit ei-gene Erfahrungen und neue Fremdwahrnehmungen ermöglichen. In diesem Prozess verbindet sich emotionales und kognitives Lernen. Durch die Aufmerksamkeit für die eigene Wahrneh-mung der Gedenkstätte, den Austausch über die WahrnehWahrneh-mungen und das Erkennen ihrer Pluralität begegnen die Jugendlichen einander in ihrer Unterschiedlichkeit. Dieses Interesse an den Gedanken und Äußerungen der anderen und die Reflexion der Erfahrungen innerhalb der Gruppe sind Teil eines sozialen (Gruppen-)Lernprozesses.

Heute können wir zu Hitler sagen: was bist du für ein Arsch und  reinhauen. Ich fand es gut, das mal zu sagen

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8. Künstlerische und kulturpädagogische Ansätze funktionieren unabhängig vom Bil-dungsniveau der Zielgruppe und in deutsch-polnischen Gruppen.

Die Fähigkeit, einen ästhetischen Ausdruck für eigene Gedanken und Bezüge zur NS-Geschich-te zu entwickeln und zu reflektieren, ist in keiner Bildungsschicht besonders ausgeprägt. Dass die Jugendlichen in der künstlerischen Auseinandersetzung als Individuen angesprochen wer-den und sich entlang ihrer Interessen und Fragen mit der Geschichte und dem Medium kreativ auseinandersetzen, beinhaltet die Chance, abhängig von individuellen Voraussetzungen plura-le Zugänge zu entwickeln. Von Vorteil ist weiterhin, dass künstplura-lerische Ausdrucksformen nicht zwangsläufig sprachlich vermittelt werden müssen. Deshalb sind diese Ansätze grundsätzlich für alle Zielgruppen und auch stark heterogene und deutsch-polnische Gruppen geeignet.

9. Für das Gelingen solcher Kunstworkshops ist ein multiprofessionelles Leitungsteam Voraussetzung.

Die Künstler/innen müssen als Künstler/innen zu erkennen sein. Zugleich ist im Team histori-sche Kompetenz unersetzlich. Für die Gestaltung des Gruppenprozesses sind darüber hinaus pädagogische Kompetenzen von Nöten. Diese vielschichtigen Anforderungen kann nicht eine Person allein erfüllen. Allerdings bedarf die Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen in einem Leitungsteam eines sorgsam geplanten Vorlaufs. Die Herangehensweisen von Künst-lern/innen, Gedenkstättenmitarbeitern/innen und Bildungsstättenmitarbeitern/innen gründen auf unterschiedlichen Überzeugungen und Erfahrungen. Verschiedene Ziele und Lernpraxen treffen aufeinander und müssen verhandelt werden. Dieser Annäherungsprozess ist zeit- und arbeitsintensiv, zugleich aber die Voraussetzung für das Gelingen der gemeinsamen Arbeit.

Erst wenn alle Seiten die jeweils anderen Herangehensweisen kennen, Differenzen aufgedeckt und verhandelt wurden, kann die multiprofessionelle Vielfalt zum Gewinn und der Workshop zum Erfolg werden.

Nachwort

Die Erfahrungen im Modellprojekt kunst – raum – erinnerung haben Mut gemacht. Aber wir sind uns darüber bewusst, dass alle Erfahrungen, die in den Projekten gemacht und in der vorliegenden Dokumentation wieder gegeben werden, nicht ohne weitere Anstrengungen der Akteure/innen in die pädagogische Alltagspraxis übertragbar sind und keineswegs von sich aus die aus unserer Sicht nötige Qualifizierung der Arbeit leisten. Voraussetzung für eine Im-plementierung ist – ganz allgemein formuliert – die Bereitschaft, sich kritisch mit der eigenen bisherigen Praxis auseinander zu setzen und sich auf ungewohnte Partner/innen und Formate in pädagogischen Prozessen einzulassen. »Eine ästhetisch orientierte Bildungspraxis, die sich

Künstler – also durchaus in einer Art, wie ich es nenne, temporärer Komplizenschaft – ins Haus holt, wird dann auch mit allerlei rechnen können, zunächst aber kaum mit einer sozialitäts- und /oder identitätsstiftenden Wirkung« schreibt Hanne Seitz (1). Das bedeutet, dass künst-lerische Strategien nicht funktional in pädagogische Prozesse eingebunden werden können, sondern nur dann wirken, wenn sie als solche belassen werden. Pädagogik muss dann aber die Unwägbarkeiten individueller und vor allem selbstbestimmter Rezeption und Verarbeitung des Erlebten aushalten. Unsere Erfahrung ist mithin, dass es sich lohnt, sich auf diese neuen Wege einzulassen. In besonderer Weise gilt dies für das beschriebene Feld der Gedenkstätten-pädagogik, deren Entwicklung immer zunächst »einer Operation am offenen Herzen« gleicht, wie ein befreundeter Kollege aus dem Feld seine Arbeit gern beschreibt, ohne den Anflug von Schwermut zu vertuschen.

Neben die Herausforderungen, die wir konzeptionell zu leisten haben, gesellen sich struktu-relle Erfordernisse. Neues wagen braucht Erfahrung und Qualifizierung, die nur durch Fort-bildung und der Gelegenheit des erfahrenden Lernens entstehen kann. Wir werden als Träger und Vertreter der Netzwerke der Jugendarbeit und der kulturpädagogischen Arbeit unseren Teil tun, die als richtig erkannte Erweiterung zu implementieren. Hier heißt es auch, fachliche und fachpolitische Grenzziehungen und Hürden zu hinterfragen und neu zu diskutieren. Zu sehr ist die Segmentierung der Pädagogik durch Zuständigkeiten, Ressortzuschnitte in Politik und Verwaltung und Versäulung zementiert, um interdisziplinäres Arbeiten unterstützen zu können. Doch auch hier kann von wachsendem Vertrauen gesprochen werden. Die bisherigen Reaktionen von fachpolitisch Verantwortlichen können durchweg als positiv bezeichnet wer-den. Darauf werden wir aufbauen.

Wir hoffen, dass diese Broschüre dazu anregt, im beschriebenen Sinne neue Wege zu ge-hen – aus fachlicher Überzeugung oder weil Pädagogik ohne die Dekonstruktion des Normati-ven nicht auskommt: »Eigensinn macht Spaß«2

Frauke Havekost und Bernd Mones

1 Hanne Seitz, Prof. Dr. : »Kunst in Aktion. Bildungsanspruch mit Sturm und Drang.

Plädoyer für eine performative Handlungsforschung«, 2008

2 Hesse, Hermann : »Eigensinn macht Spaß. Individuation und Anpassung«, 1986