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Alltagskulturelle Unterschiede

Im Dokument W W J L P93-108 (Seite 66-81)

2 Einstellungen und Orientierungen

2.1 Alltagskulturelle Unterschiede

D

ie Wiedervereinigung verläuft nicht nur in ökonomischer Hinsicht problema­

tischer als erwartet, sondern auch im Hinblick auf das wechselseitige Verständ­

nis zwischen Ost- und Westdeutschen. Beide Landesteile haben zwar eine gemein­

same kulturelle Tradition, aber die unterschiedlichen Sozialstrukturen haben ebenso wie die verschiedenen materiellen, institutionellen und ideologischen Rahmenbe­

dingungen Spuren im Alltagsleben hinterlassen. Im folgenden wird geprüft, inwie­

weit sich Ost- und Westdeutsche* in ihren Orientierungen, Freizeitaktivitäten und im kulturellen Geschmack - als drei Elemente von Lebensstilen - unterscheiden.

Kulturelle Aspekte des Alltagslebens geben Auskunft, ob Gemeinsamkeiten in den vergleichsweise frei gestaltbaren Lebensbereichen überwiegen, oder ob zwischen Ost und West eine kulturelle Trennungslinie sichtbar wird.

Lebensziele: Neue Bundesbürger sicherheitsorientierter und häuslicher

M

it Lebenszielen sind individuelle Vorstellungen gemeint, auf die die Men­

schen zuleben und auf die sie ihr Leben ausrichten. Verschiedene Bereiche des Alltags spielen dabei eine Rolle, Arbeit, Familie, Freunde, Urlaub, soziales Engagement, Abwechslung, Kreativität, Sparsamkeit oder Lebensstandard. Auf den ersten Blick (vgl. Tabelle 14) überwiegen bei Lebenszielen Gemeinsamkeiten zwischen den neuen und den alten Bundesbürgern. In beiden Landesteilen gilt eine inhaltliche befriedigende Arbeit als wichtigstes Lebensziel. Familienleben ist für viele ebenso erstrebenswert. In der Hierarchie folgen Sicherheit, Unabhängigkeit und Freunde, die traditionellen, modernen und sozialen Orientierungen zugeordnet werden können. Lediglich ein geringer Bevölkerungsanteil strebt nach einem abwechslungsreichen Leben, politischem Engagement oder Führungspositionen.

Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen fallen besonders bei den traditionelleren Sicherheits- und moderneren Selbstentfaltungsorientierungen auf:

„Eine sinnvolle und befriedigende Arbeit“, „Eine Familie/Kinder haben“, „Nach Sicherheit und Geborgenheit streben“ und „Sparsam sein“ sind für die Befragten aus den neuen Ländern deutlich wichtiger als für Westdeutsche. Für die Westdeutschen sind vergleichsweise eher postmaterielle Aspekte erstrebenswerter: „V iel mit Freun­

den zusammen sein“, „Phantasievoll/schöpferisch sein“, „Unabhängig sein“, „Viel Zeit für persönliche Dinge haben“, „Ein aufregendes und abwechslungsreiches Leben führen“ oder „Führungspositionen übernehmen“. Insgesamt legen Ostdeut­

sche im Vergleich zu Westdeutschen eine deutlich traditionellere und sicherheitsori- entiertere Haltung an den Tag.

Es handelt sich hierbei um eine Frage aus dem Zusatzfragebogen zur Ermittlung von Lebensstilen, der sich an Befragte bis zu 60 Jahren richtet.

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Sinnvolle Arbeit

Wichtigkeit von Lebensziele in Ost- und Westdeutschland Abbildung 11:

Familie / Kinder haben Nach Sicherheit streben

Unabhängig sein Viel mit Freunden

zusammen sein

Für andere da sein

Zeit für persönliche Dinge Naturverbundene Lebensweise Anerkennung durch andere

Sparsam sein Phantasievoll, schöpferisch Urlaub machen, reisen

Aufregendes, abwechslungsreiches Leben

Politisch einsetzen

Führungspositionen übernehmen

W estdeutschland O stdeutschland

Lebensziele sind ...

Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1993

Tabelle 14a: Lebensziele in Ost- und Westdeutschland - nach Alter und Ge­

West Ost West Ost West Ost

SinnvolleArbeit 44 53 ■ 51 44 40 49 54 57 48 41 57 50

Familie 47 59 34 59 49 52 70 57 46 49 51 68

Sicherheit 26 36 26 27 29 32 37 40 22 32 30 44

Unabhängigkeit 34 30 40 30 33 30 31 31 35 34 28 33

Freunde 30 26 47 25 19 46 20 15 28 33 30 24

Hilfsbereitschaft 19 21 22 18 18 21 20 21 12 27 14 28

Freizeit 18 14 26 14 13 21 11 11 15 21 14 14

Naturverbunden Leben 19 16 20 17 21 15 13 20 17 22 15 17

Anerkennung 12 18 12 13 13 21 18 18 10 16 17 21

Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1993. Anteile höchste Zustimmung “sehr wichtig”

Lesehinweis: Von den Befragten aus dem Westen halten 30 % und im Osten 26 % “Viel mit Freunden zusammen sein” für sehr wichtig.

1: Bildungsabschlüsse: bis 9: keinen, bis 8.Klassen, POS, Hauptschule/Mitt: Mittlere Reife, Fachhochschule

2: Q1: Bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf, unterteilt in Quintile, aus­

gewiesen sind die 20 % der Befragten, die über das geringste Einkommen verfügen (Q1), bzw. die 20 %, die das höchste Pro-Kopf-Einkommen aufweisen (05).

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Tabelle 14b: Lebensziele in Ost- und Westdeutschland - nach Bildung und Ein­

kommen

Bildung1 bis Mitt- Abi bis Mitt- Abi

Einkommen2 Q1 Q5 Q1 Q5 9. lere 9. lere

West Ost West Ost

SinnvolleArbeit 38 46 58 54 52 56 42 36 60 52

Familie 52 46 40 65 59 56 50 40 68 45

Sicherheit 28 29 21 38 37 32 29 22 44 34

Unabhängigkeit 30 37 39 32 29 33 27 45 35 37

Freunde 25 30 42 21 27 34 31 37 30 27

Hilfsbereitschaft 17 21 22 23 17 33 24 14 29 24

Freizeit 17 18 20 11 17 10 12 23 21 14

Naturverbunden Leben 21 18 19 19 12 25 16 18 23 16

Anerkennung 14 13 10 18 20 16 14 10 31 14

Urlaub, reisen 16 19 23 17 23 21 11 30 17 24

Sparsamkeit 14 8 5 30 21 13 13 5 32 16

Kreativität 6 14 27 3 9 30 10 20 8 9

Attraktivität 9 7 6 8 13 16 8 9 16 14

Abwechslung 8 11 12 5 14 24 9 9 17 16

pol. Engagement 2 5 11 4 2 5 6 8 4 4

Führunqspositionen 3 7 11 1 2 9 4 8 3 2

Im Westen treten modernere Aspekte der persönlichen Entwicklung und Entfal­

tung stärker hervor, so daß die Vermutung nahe liegt, daß im Osten systembedingte Erfahrungen eine wichtige Rolle spielen. Zudem dürften die schlechteren Lebensbedingungen im Osten bislang noch die Herausbildung postmaterieller Orientierungen erschwert haben. Solche Unterschiede allerdings im Sinne eines

„Mentalitätsgrabens“ zu interpretieren, scheint angesichts der auch im Westen sehr hohen Bedeutung von traditionellen Orientierungen wie Arbeit, Familie und Sicher­

heit sicherlich überspitzt. Die beobachteten Unterschiede können jedoch dann

Hemmnisse auf dem Weg der inneren Wiedervereinigung bilden, wenn sie die wechselseitige Verständigung erschweren oder bei gesamtgesellschaftlich unter­

schiedlichen Realisierungschancen in Konkurrenz zueinander treten.

Unterschiede zeigen sich nicht nur im Ost-West-Vergleich, sondern auch bei einzelnen Bevölkerungsgruppen. Im Westen streben vor allem jüngere Personen nach einer hedonistischen Lebensweise. Ein aufregendes und spannendes Leben führen, Urlaub oder Freizeit sind ihnen wichtiger als älteren Personen. Auch die persönliche Entfaltung, d.h. Kreativität, Einfluß und Unabhängigkeit spielen eine große Rolle. Die soziale Einbindung wird dabei nicht vernachlässigt: Freunde und eine sinnvolle Arbeit stehen bei Jüngeren in der Rangfolge der Lebensziele ganz oben auf der Liste. Die Selbstentfaltungswerte sind unter den Jugendlichen im Osten im Vergleich zum Westen jedoch weniger stark ausgeprägt.

Der schnellere Durchlauf der Lebensphasen in der ehemaligen DDR, d.h.

Heiraten und die Geburt von Kindern in jüngerem Alter als im Westen, kommen darin zum Ausdruck, daß auch ostdeutsche Jüngere eine ausgeprägte Familienorien­

tierung aufweisen. In der mittleren Altersgruppe dominiert erwartungsgemäß der Lebensbereich Familie; für ältere Befragte sind hingegen Sparsamkeit und Sicher­

heit vergleichsweise wichtig.

Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich bei Sicherheit, Hilfsbereit­

schaft, Attraktivität und soziale Anerkennung, die jeweils für Frauen eine größere Rolle spielen als für Männer. Führungspositionen sind hingegen für Männer bedeu­

tender - vor allem im Osten, wo kaum eine Frau Macht und Einfluß für sehr wichtig hält. Geschlechtsspezifische Ausrichtungen des Lebens werden in diesen Angaben erkennbar. Starke Unterschiede existieren in diesen Punkten vor allem zwischen Westdeutschen Männern und ostdeutschen Frauen. Männer aus dem Westen liegen beispielsweise hinsichtlich der individuellen Bedeutung guten, attraktiven Ausse­

hens hinter weiblichen Befragten aus dem Westen und den neuen Bundesbürgern zurück.

Zwischen der Höhe der Bildungsabschlüsse und einigen Lebenszielen ergeben sich ebenfalls Zusammenhänge. Für Befragte mit niedrigeren Schulabschlüssen haben Sicherheit und Sparsamkeit hohe Bedeutung. Besser Ausgebildete legen häufiger Wert auf soziale Kontakte, Engagement, Einfluß und Selbstentfaltung.

Ostdeutsche mit Abitur schätzen diese Punkte als ebenso bedeutsam (z.T. bedeutsa­

mer) ein wie die westdeutsche Vergleichsgruppe. D.h., daß Befragte in Ost und West mit gleichen Bildungsabschlüssen sich in ihren Lebensauffassungen ähneln.

Nach Einkommen differenziert, zeigt sich, daß Personen aus der unteren Einkommensklasse häufiger als Besserverdienende materielle Lebensziele wie

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Sicherheit und Sparsamkeit für wichtig halten. Gleichzeitig betonen sie soziale Aspekte sehr deutlich: Hilfsbereitschaft, Familienleben, Arbeit und ebenso Aner­

kennung durch andere. Besserverdienende setzen insofern andere Prioritäten, als daß sie größeren Wert auf moderne Aspekte der Lebensgestaltung legen: Urlaub, Freizeit und vor allem Unabhängigkeit. Im Osten werden von den finanziell Schlechtergestellten Sicherheitsaspekte und das Bedürfnis nach sozialer Anerken­

nung wesentlich stärker hervorgehoben als im Westen.

Zusammenfassend können folgende Unterschiede festgehalten werden. Je nach sozialer Lage unterschieden sich die Lebensziele: Geschlechtsspezifische Zustän­

digkeiten, altersspezifische Effekte und bildungsabhängige Auffassungen sind in beiden Landesteilen zu erkennen. Ost-West-Unterschiede bleiben hinsichtlich der Familien- und Arbeitsorientierung bestehen, im Osten wird die Teilnahme an beiden Bereichen häufiger gewünscht. Neben den schlechteren objektiven Lebensbedin­

gungen im Osten dürfte die westdeutsche Bildungsexpansion und ihre Einflüsse auf Werthaltungen in der Bevölkerung einen Teil dieser Unterschiede erklären, vor allem bei hedonistischen und Selbstentfaltungszielen.

Freizeitaktivitäten: Beruf und Familie vereinbaren

F

reizeit ist zu einem eigenständigen Lebensbereich geworden, der über Regene ration und Muße hinaus Raum für die persönliche Entfaltung läßt und dem inzwischen in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen ein ähnlich bedeutender Stellenwert wie etwa Erwerbsarbeit zugewiesen wird (siehe oben). Unter Freizeit verstehen wir die Zeit während eines Tages, die zur freien Verfügung steht, und die man beliebig gestalten kann. Sie dient ganz allgemein dazu, kulturelle, zwischen­

menschliche, gesellschaftliche und familiäre Interessen zu verwirklichen.

Bei den in unserer Umfrage erfaßten unterschiedlichen Aktivitäten fällt zunächst ein klares Muster auf: Insgesamt finden häusliche, familiäre und entspannende

Tabelle 15a: Freizeitaktivitäten in Ost- und Westdeutschland - nach Alter und

West Ost West Ost West Ost

Mit Familie beschäftigen 65 69 49 77 68 65 69 74 61 69 62 77

Musik hören 56 59 69 53 46 72 58 45 52 60 57 61

Fernsehen, Video 48 57 46 45 53 58 49 63 48 46 59 54

Mit Freunden/Verwandte 50 43 65 47 37 57 36 37 47 52 41 44

Spazieren, wandern 30 32 24 31 36 40 24 32 29 32 30 35

Sportveranstaltungen 15 11 24 9 13 21 6 6 19 11 16 6

In die Kneipe gehen 7 3 14 4 3 7 2 1 8 7 5 1

Theater, Konzert 4 2 4 2 6 4 1 2 3 5 4 /

Weiterbilden 8 9 11 9 4 12 10 7 9 7 8 11

Computer 15 11 20 14 9 15 12 7 19 10 10 12

Künstlerische Arbeiten 9 5 10 7 8 4 4 6 7 10 3 6

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Tabelle 15b: Freizeitaktivitäten in Ost- und Westdeutschland - nach Bildung und Einkommen

Mit Kindern bechäftigen 47 49 40 50 57 44 63 29 73 34

Aus essen gehen 12 17 13 5 7 13 6 24 6 10

Basteln, do-it-yourself 21 20 20 15 15 12 24 17 15 19

Im Garten arbeiten 35 20 13 48 30 14 24 13 40 23

Nichts tun, faulenzen 10 10 15 6 7 3 9 20 10 10

Aktiv Sport treiben 14 27 33 5 15 31 19 28 11 19

Sportveranstaltungen 14 18 13 5 2 18 16 13 8 14

In die Kneipe gehen 4 6 14 3 4 2 7 15 7 8

Theater, Konzert 2 5 7 1 1 7 4 6 / 8

Weiterbilden 3 11 14 4 10 16 7 12 5 13

Computer 8 20 21 4 12 20 14 25 11 18

Künstlerische Arbeiten 4 9 18 4 4 8 10 7 6 7

Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1993. Anteile höchste Zustimmung “sehr wichtig”

Lesehinweis: Von den Befragten aus dem Westen halten 30 % und im Osten 26 % “Viel mit Freunden zusammen sein” für sehr wichtig.

1: Bildungsabschlüsse: bis 9: keinen, bis 8.Klassen, POS, Hauptschule/Mitt: Mittlere Reife, Fachhochschule

2: Q1: Bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf, unterteilt in Quintile, aus­

gewiesen sind die 20 % der Befragten, die über das geringste

Einkommen verfügen (Q1), bzw. die 20 %, die das höchste Pro-Kopf-Einkommen auf­

weisen (Q5).

Aktivitäten höheren Anklang als außerhäusliche, kostspielige oder Konzentration erfordernde Tätigkeiten. Die Beschäftigung mit der Familie liegt dabei an der Spitze;

auch geselliges Zusammensein mit Freunden oder Verwandten spielt eine wichtige Rolle - jedoch hinter den eher passiven oder erholungsdienenden Betätigungen Musik hören und femsehen. Geistig-kulturelle Betätigungen, die größere zeitliche und materielle Investitionen sowie eine entsprechende Infrastruktur benötigen, bilden das Schlußlicht. Gleichermaßen beliebt in Ost wie West sind familiäre Beschäftigungen, Musik hören, Ausflüge machen und Beschäftigungen mit dem Computer. In allen übrigen erfragten Punkten der Freizeitgestaltung unterscheiden sich West- und Ostdeutsche.

„Femsehen, Videos schauen“ ist im Osten die beliebteste Freizeitaktivität, wobei im Osten 59 Prozent und im Westen 48 Prozent „oft“ fern (bzw. Videos) sehen.

Familienbezogene Beschäftigungen werden im Osten deutlich häufiger ausgeübt.

Auch Gartenarbeit ist beliebter, wobei der Anteil von Wohnungen mit Garten im Westen 59 Prozent und im Osten 46 Prozent beträgt. Nichtsdestotrotz ist Gartenar­

beit als Freizeitbeschäftigung im Osten häufiger anzutreffen. Die im Osten gern genutzten „Datschen“ dürften hier eine Rolle spielen. Befragte aus Ostdeutschland gehen in geringerem Maße auswärts essen und besuchen seltener Kneipen, Theater oder Sportveranstaltungen. Geringere finanzielle oder kulturelle Ressourcen bzw.

fehlende Infrastruktureinrichtungen können diese Differenzen erklären. Diese frü­

her stark subventionierten Möglichkeiten wurden zu DDR-Zeiten stärker wahrge­

nommen (vgl. Priller 1992).

Einige Images über die frühere DDR-Bürger sind allerdings nicht (mehr) zutref­

fend: Unsere Daten ergeben beispielsweise, daß im Osten ein geringerer Anteil Bücher liest. Da in der ehemaligen DDR über literarische Erzeugnisse gesellschaftli­

che Verhältnisse beschrieben, gedeutet und kritisiert wurden (vgl. Grunenberg 1989), galt die DDR als „Leseland“. Auch „mit Freunden, Verwandten im privaten Kreis zusammen sein“ ist im Westen häufiger angegeben worden. Die DDR wurde als „Nischengesellschaft“ mit besonderer Bedeutung des Privatbereichs beschrie­

ben. Diese Bezeichnung läßt sich mit unseren Daten nicht stützen, es sei denn, daß sie sich in erster Linie auf den Familienzusammenhang bezieht. Auffällig sind auch die Unterschiede beim aktiven Sport treiben und beim Basteln; dies waren „DDR- typische“ Aktivitäten, weil sie zum einen gefordert waren (Sport) und durch die Versorgungsengpässe notwendig waren (Heimwerken). Die Westdeutschen sind in beiden Bereichen häufiger engagiert, vielleicht weil sie über bessere finanzielle und infrastrukturelle Möglichkeiten verfügen.

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Geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen in beiden Landesteilen im Hin­

blick auf Familie und außerhäusliche Beschäftigungen und Sport treiben. Männer sind hier im Vergleich zu Frauen deutlich aktiver. Nach wie vor sind traditionelle, geschlechtsspezifische Zuordnungen verschiedener Lebensbereiche erkennbar, nach denen Männer häufiger als Frauen am geselligen öffentlichen Leben teilnehmen. In den neuen Ländern zeigen sich diese Unterschiede noch klarer. Möglich ist, daß Frauen in den alten Ländern im Zuge der „Emanzipation von unten“ - im Vergleich zur „Emanzipation von oben“ in der ehemaligen DDR - (Geißler 1992: S. 238) an einem größeren Teil des öffentlichen Raums teilhaben. Die letztere Interpretation wird dadurch gestützt, daß bei den häuslichen Freizeitaktivitäten Computerbeschäf­

tigungen und Weiterbildung, die teilweise auf das Arbeitsleben ausgerichtet sind, Frauen aus dem Osten in ihrem Aktivitätsgrad nicht hinter Männer zurückfallen und westdeutsche Frauen sogar überholen. Auffällig ist darüberhinaus, daß Frauen aus dem Westen häufiger als Männer und auch häufiger als ostdeutsche Bürger im kulturellen Bereich aktiv sind.

Altersspezifische Differenzen im Hinblick auf Freizeitaktivitäten ergeben sich nicht nur aus biologischen Gründen, sondern auch aus dem „sozialen Alter“, d.h. der Stellung im Lebenslauf. Im Jugend- und im Rentenalter sind die zeitlichen Spielräu­

me größer als bei der Beanspruchung durch Berufstätigkeit oder beim Vorhanden­

sein kleinerer Kinder im Haushalt mittlerer Altersgruppen. Jüngere bevorzugen zudem Aktivitäten, die mit Abwechslung und Spannung verbunden sind, während Ältere ruhigere Beschäftigungen schätzen. Auch unsere Ergebnisse vermitteln dieses Bild: Jüngere sind im Vergleich zu Älteren häufiger in Restaurants, Kneipen und Sportstätten anzutreffen. Auch viele innerhäusliche Aktivitäten werden am häufigsten von Befragten bis zu 30 Jahren ausgeübt (Musik hören, Freunde treffen, Computerspiele bzw. -arbeiten, künstlerische Tätigkeiten oder Weiterbildung).

Diese Gruppe gibt sehr häufig an, über genügend Freizeit zu verfügen, so daß es kaum überrascht, daß die besonders Aktiven auch beim „Nichtstun, Faulenzen“ die höchsten Werte erreichen. Die mittlere Altersgruppe ist einhergehend mit der Stel­

lung im Lebenslauf in erster Linie in Familie, Haus und Garten aktiv.

Bildung dient auch dazu, sich im kulturellen Leben und in der Gesellschaft zurechtzufinden. Für die Auswahl von Freizeitverhalten und Geschmack scheint dieser Faktor inzwischen bedeutender als beruflicher Status oder Einkommen geworden zu sein. Bildungsspezifische Unterschiede im Freizeitverhalten zeigen sich auch im Wohlfahrtssurvey besonders deutlich. Künstlerische Aktivitäten, Beschäftigungen mit dem Computer oder lesen werden von Befragten mit Abitur deutlich häufiger betrieben als von Hauptschulabgängem. Vor allem Fernsehen (im Osten) und Gartenarbeit sind Freizeitbeschäftigungen der letzteren Gruppe.

Personen im untersten Einkommensquintil schauen vergleichweise viel fern oder Videos. Sie leben offensichtlich häufiger in Familien, auch Basteln oder Gartenar­

beit kommt in dieser Gruppe häufiger vor. Befragte der oberen Einkommensgruppe sind im öffentlichen Leben stärker engagiert, z.B. bei Theaterbesuchen oder beim Sport, ebenso bei kreativen oder geistigen Tätigkeiten, bei Weiterbildung oder Computerarbeiten. Diese Differenzierung trifft für beide Landesteile gleichermaßen zu.

Zusammenfassend konzentriert sich die Freizeitgestaltung in Ostdeutschland stärker als im Westen auf die Familie und den häuslichen Umkreis. Dies gilt vor allem für Frauen und die mittlere Altersgruppe. Sie gehen kaum aus, weder zum Sport, noch ins Theater oder in die Kneipe. Damit deuten sich Unterschiede im Lebensstil bei Frauen und mittleren Altersgruppen an. Jüngere und besser Gebildete sowie Ältere aus beiden Landesteilen verbringen ihre Freizeit in vergleichbarer Weise.

Fernsehinteressen: unterschiedlicher kultureller Geschmack

A

ls ein Beispiel, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede im kulturellen Ge­

schmack aufzudecken, wird im folgenden das Interesse an verschiedenen Fernsehsendungen vorgestellt. Prinzipiell kann jeder ohne finanziellen Mehrauf­

wand aus dem TV-Angebot auswählen. Fragen des kulturellen Geschmacks können damit besonders gut erfaßt werden.

Bei den Femsehinteressen zeigen sich zwischen West- und Ostdeutschen ver­

gleichsweise starke Unterschiede, lediglich Spielfilme, Krimis und Sportsendungen sind ähnlich beliebt. Bei den unteren Rangplätzen hat Volkstheater im Westen wie im Osten vergleichbare Zustimmung erfahren. Im Westen sind Sendungen aus dem hochkulturellen und informativen Spektrum beliebter als im Osten (Dokumentatio­

nen zur Zeitgeschichte, Politische Magazine, Talkshows und Kultursendungen).

Lebensbedingunöenund Wohlbefinden Seite 7 7

Abbildung 12: Fernsehinteressen in Ost- und Westdeutschland

Vor allem Sendungen, in denen Spannung erzeugt wird, finden in Ostdeutschland weitaus höheren Anklang (Action- und Horrorfilme, Pop-Rockmusik und Science­

fiction, Fantasy). Auch die „Trivialkultur“ in Form von Unterhaltungsserien, Shows oder Heimatfilmen ist beliebter. Demnach steht die Bevölkerung aus den neuen Ländern den Kulturprodukten näher, die Spannung, Gemütlichkeit, Sicherheit und Happy-End transportieren (vgl. Schulze 1992).

Nach Bevölkerungsgruppen differenziert ergibt sich folgendes Bild: Sportsen­

dungen werden in erster Linie von Männern gesehen. Im Westen interessieren sich 25 % sehr stark hierfür, während es von den Frauen lediglich 2 % sind (Ost: 31 % im Vergleich zu 4 %). Große Differenzen zugunsten der Männer bestehen ebenfalls bei den Spannung verbreitenden Sendungen Science-fiction und Actionfilme. Auch Informationssendungen finden bei Männern stärkere Resonanz. Frauen bevorzugen Serien, Heimatfilme und Kultursendungen (die letzteren eher im Westen).

Kunst und Kultur trifft vor allem auf den Geschmack älterer Befragter (bis zu 60 Jahren), während der Spannungsbereich den Jüngeren Vorbehalten bleibt. Ein Grund für die überaus große Beliebtheit dieser Filme bei den Jüngeren aus dem Osten kann im Nachholbedarf liegen, da diese Filmgenres - vor allem in Form von Videos - dort früher kaum verbreitet waren. Möglich ist, daß die Realität für Actionfans zu wenig oder unpassende Erlebnisräume und Aktivitätsmöglichkeiten bereithält, so daß ein Ausgleich von Ruhe- und Anspannungsphasen über Medien vermittelt werden muß.

Nach Bildungsabschlüssen differenziert, richten sich Shows, Sportsendungen, Volkstheater, Heimatfilme, Krimis und Actionfilme an Personen mit kurzer Schul­

laufbahn, während Politische Magazine oder Dokumentationen zur Zeitgeschichte häufiger von Befragten mit Abitur nachgefragt werden. Auch die Einkommensein­

gruppierung differenziert sehr klar: Befragte mit weniger Einkommen präferieren Populärkultur und Action, während im Westen Befragte der höchsten Einkommens­

klasse beim Fernsehen nicht nur unterhalten, sondern auch informiert werden möchten.

Lebensbeoingungenund Wohlbefinden Seite 7 9

Zusammenfassung

B

ei den Befragten aus Ost- und Westdeutschland zwischen 18 und 61 Jahren sind bei grundlegenden Gemeinsamkeiten auch unterschiedliche Prioritäten, Frei­

zeitaktivitäten und Geschmacksrichtungen zu beobachten. Westdeutsche in diesen Altersgruppen leben mit höherem Lebensstandard, sind häufiger an hochkulturellen Produkten interessiert, und moderne Werte wie die Entfaltung von Kreativität und Unabhängigkeit sind deutlicher ausgeprägt. In den neuen Ländern stehen sich sicherheitsorientierte Lebensziele im Vordergrund, in der Freizeit konzentriert man sich stärker auf die Familie und bevorzugt häufiger Fernsehsendungen aus dem Populär- und Spannungsbereich. Größere Differenzen zeigen sich bei den Frauen auf beiden Landesteilen. Frauen aus der ehemaligen DDR sind stärker als westdeut­

sche auf Arbeit und Familie ausgerichtet, während die westdeutschen ein stärkeres Interesse für kulturelle Dinge äußern. Mit steigender Bildung verringern sich die Ost-West-Differenzen. Sofern die Angleichung der objektiven Lebensverhältnisse gelingt, werden die ermittelten Unterschiede zurückgehen. Die viel zitierten Eigen­

arten “typischer” Westdeutscher und “typischer” Ostdeutscher im Hinblick auf Geschmack und Interessen scheinen zurZeit schon leicht übertrieben. Weitergehen­

de Spannungen, die auf unterschiedlichen kulturellen Interessen und Werthaltungen beruhen, sind zu erwarten, wenn eine Angleichung der Lebensbedingungen nicht erfolgt.

2.2 Einstellungen zur Rolle der Frau in Beruf

Im Dokument W W J L P93-108 (Seite 66-81)