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2.2 Tiermodelle für Schmerz

2.2.1 Allgemeines

Die tierexperimentelle Forschung im Bereich der Medizin versucht zum Einen, Krankheiten des Menschen bei Tieren zu imitieren, um Erkenntnisse über Krankheitsverläufe zu erlangen, auf deren Basis Therapien entwickelt werden sollen.

Hier ist das Modell Tier als eine Annäherung an die morphologischen, physiologischen oder pathophysiologischen Verhältnisse des Originals Mensch zu verstehen. Können bestimmte Krankheiten wie beispielsweise Krebs reproduzierbar in Tieren ausgelöst werden, spricht man von "Tiermodellen“. Zum Anderen werden Tiermodelle in der vorklinischen tiermedizinischen Forschung eingesetzt, um erste Anhaltspunkte über die Wirksamkeit von Substanzen zu erhalten. Ein Modell in der jeweiligen Zieltierart ist hier vorteilhaft.

Tiermodelle zur Untersuchung von Schmerz bezeichnet man auch als analgesiometrische Testsysteme. Beurteilt werden soll die analgetische Wirksamkeit von Wirkstoffen über die Messung antinozizeptiver Effekte (ROUGHAN und FLECKNELL 2002). Bei diesen Tests werden mit Hilfe eines kurzfristigen, Schmerzreizes Schwellenwerte und Latenzzeiten gemessen, über deren Veränderungen die analgetische Wirksamkeit von Substanzen ermittelt werden kann.

Unter Schmerzschwelle ist die geringste Schmerzerfahrung, die ein Individuum gerade noch wahrnehmen kann, zu verstehen (HENKE und ERHARDT 2004). Es wurden eine Reihe von Testsystemen entwickelt, größtenteils zur Anwendung an Ratten und Mäusen. Die eingesetzten Schmerzreize variieren in ihrer Modalität:

thermisch, mechanisch, chemisch und elektrisch.

Nach Aussage von BEECHER (1957), DUBNER et al. (1976), VIERCK u. COOPER (1984), LINEBERRY (1981) und DUBNER (1985) sollte ein ideales, auf Verhaltensbeobachtungen basierendes Schmerzmodell folgende Kriterien erfüllen:

Ø Reiz und Reaktion sollen natürlicher Art sein. Der Reiz soll messbar, mit definierbarem Start und Endpunkt, quantifizierbar, reproduzierbar und nicht invasiv sein. Er soll nach Auftreten der Reaktion sofort gestoppt werden. Von Vorteil ist eine automatische Vorrichtung zur Erkennung des Endpunktes (HARGREAVES et al. 1988).

Ø Es sollen nur selektiv Nozizeptoren aktiviert werden.

Ø Es soll ein Zusammenhang zwischen Reizintensität und Schmerzintensität bestehen. Die Art der Reaktion soll je nach Reizintensität eine Unterscheidung zwischen Schmerzschwelle und Toleranzschwelle ermöglichen.

Ø Das Modell soll empfindlich sein für Verhaltens- und pharmakologische Manipulation, welche die Intensität des Schmerzreizes verändern. Bei Tests von Analgetika soll ein automatischer Sicherheitsstop eingebaut sein, um Gewebeschaden zu vermeiden.

Ø Die Beeinflussung der Reaktionen durch nicht sensorische Faktoren soll von denen auf sensorische Ursachen trennbar sein.

Ø Die Stimulation soll wiederholt durchführbar sein, ohne Beeinflussung der Folgemessungen und keinen Gewebeschaden verursachen.

Ø Es soll an einer Körperstelle angewandt werden, die möglichst minimale Variationen zwischen den Tieren aufweist.

2.2.1.1 Der Reiz

Im Allgemeinen wird ein Reiz z. B. im Bereich der Haut gesetzt, von den Nozizeptoren in der Haut registriert und über afferente Fasern zum Dorsalhorn des Rückenmarks und weiter zum Hirnstamm, Thalamus und Cortex geleitet. Durch die Verabreichung von Substanzen, die Teile dieses Leitungs- und Verarbeitungssystems blockieren, steigt die Schmerzschwelle an oder verschwindet vollständig (SLINGSBY et al. 2001).

ROUGHAN und FLECKNELL (2002) teilen die nozizeptiven Reize in zwei Gruppen ein: phasische und tonische Stimuli. Phasische Reize sind charakterisiert durch kurze Effekte, wie z. B beim Tail Flick Test (D'AMOUR und SMITH 1941); als tonisch werden anhaltende Stimulationen bezeichnet. Es wird postuliert, dass fundamentelle Unterschiede in der Neurophysiologie dieser beiden Gruppen bestehen (ABBOTT et al. 1982), z. B. dass phasische, v. a. auf thermische Stimulation basierende Reize lediglich zu einer spinalen Reflexantwort führen, wohingegen tonische Nozizeption vermehrt höhere Zentren einbezieht mit komplexeren Mechanismen. Der phasische Reflex tritt als Antwort auf einen schnell ansteigenden nozizeptiven Input bereits an der niedrigsten Schmerzschwelle auf. Auch die peripheren Transduktions-mechanismen unterscheiden sich. Phasische Testsysteme basieren hauptsächlich auf mechanisch-thermischen Aδ-Rezeptoren, aktiviert durch einen Stimulus hoher Intensität. Tonische Stimuli werden von polymodalen C-Fasern geleitet und aktiviert durch niedrige bis mittlere Frequenzen.

Des weiteren führt die Messung der Schmerzschwelle bei einem zunehmenden Reiz zu genaueren Ergebnissen als die Messung der Dauer bis zur Reaktion bei gleichbleibendem Stimulus. Die Sensitivität des Modells steht in engem Zusammenhang mit der Art des Reizes und der Rezeptoraktivität des jeweiligen Wirkstoffes.

2.2.1.2 Die Reaktion

Viele Schmerzmodelle nutzen das Auftreten bestimmter Verhaltensweisen auf Schmerzreize. Diese Reaktionen lassen sich grob unterteilen in zwei Gruppen:

einfache Rückzugs- oder Schutzreflexe und komplexe, willentlich beeinflussbare Reaktionen, welche entweder erlernte oder nicht erlernte Verhaltensweisen darstellen (CHAPMAN et al. 1985).

Beispiele für die einfachen Reflexe sind der Tail Flick Test (D’AMOUR und SMITH 1941), der Limb Withdrawal Reflex (BONNETT und PETERSON 1975) oder der J a w Opening Reflex (MITCHELL 1964). Das jeweilige gereizte Körperteil wird aufgrund

eines ausgelösten Schutzreflexes der weiteren Stimulation entzogen. So hat das Tier Einfluss auf den Abbruch der Stimulation und kontrolliert das verabreichte Schmerzlevel.

Häufiger genutzt werden komplexe, aber nicht erlernte Verhaltensweisen zur Messung von Schmerz. Es handelt sich um willentlich beeinflussbares, gezieltes Verhalten, welches supraspinale sensorische Prozesse voraussetzt. Ein Beispiel ist der Hot Plate Test an Ratten (WOOLFE und MAC DONALDS 1944). Als Reaktionsverhalten wird das Lecken der Hinterpfote gemessen. Differenziertere Bewertung des Schmerzverhaltens wird beim modifizierten Hot Plate Test nach HARGRAVES et al. (1988) vorgenommen. Die erste Reaktion ist das reflexartige Wegziehen der Pfote, worauf komplexe Verhaltensweisen wie Lecken der Pfote und das daran anschließende, von der Schmerzintensität abhängige Schonverhalten der Pfote folgen. Vokalisation zählt ebenfalls zu den häufig verwendeten Reaktionen bei der Nutzung von Schmerzmodellen (KAYSER und GUILBAUD 1987).

Daneben gibt es Modelle, in denen die Schmerzintensität nicht vom Tier kontrolliert, beeinflusst oder abgebrochen werden kann. Beim Writhing Test nach VYKLICKY (1979), einem Modell für visceralen Schmerz, zeigt das Tier zwar charakteristische Reaktionen und Verhaltensweisen auf die entstehende Peritonitis, der Schmerz bleibt aber weiterhin bestehen und kann auch nicht vom Experimentator beendet werden.

Auch mit Hilfe von erlerntem Verhalten kann in Schmerzmodellen gearbeitet werden.

Ein Beispiel ist die Schock Titration Method nach WEISS und LATIES (1963), in welcher das Tier durch Drücken einer Taste die Intensität eines kontinuierlich ansteigenden Stimulus beeinflussen kann. Bei dieser Reaktion handelt es sich vermehrt um Vermeidungs- als um Fluchtverhalten.