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2 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie aus Sicht der Psychiatrie-Erfahrenen und Mitarbeiter

2.1 Forschungsstand

2.1.2 Übersicht des Forschungsstandes

Die umfassendste und aussagereichste Untersuchung hierzu ist die Studie von Rothärmel et al. (2006). Sie ist die einzige Studie im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie im nationalen und internationalen Raum, die sich mit dem Erleben von Kindern und Jugendlichen bei der stationären Aufnahme und Behandlung mit dem Augenmerk auf Patientenbeteiligung und Informationspraxis befasst (vgl. a.a.O., S. 14)19. Die Studie wurde mittels eines Fragebogens in den Kinder- und Jugendpsychiatrien Rostock und Weißenau durchgeführt und umfasste 298 untersuchte Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 17 Jahren. Die Erhebungszeitpunkte waren jeweils eine Woche und vier Wochen nach Aufnahme. Dabei wurden Daten unter anderem zur Schichtzugehörigkeit, Alter und Geschlecht berücksichtigt (vgl. a.a.O., S. 123 ff.). Ausgewählte Ergebnisse: Bei der Vorbereitung auf den stationären Aufenthalt verneint über die Hälfte der Patienten eine aufklärende Beratung durch die einweisenden Ärzte. Bei 40 Prozent der Patienten wurde die Aufenthaltsdauer vorenthalten. Während zur Informationspraxis zum Aufnahmezeitpunkt fast 75 Prozent der Patienten angaben, über Stationsregeln aufgeklärt worden zu sein, gaben nur 50 Prozent an, dass Gespräche über psychische Störungen stattgefunden hatten und nur 34 Prozent gaben an, über die bevorstehende Behandlung informiert worden zu sein. Nur die Hälfte empfand sich aufgefordert, Fragen zu stellen.

Eine große Mehrheit von 90 Prozent gab ein allgemeines Bedürfnis an Informationen an, wobei Jugendliche diesem einen höheren Stellenwert zu sprachen als Kinder. Nach vier Wochen in Behandlung sagten fast 33 Prozent der Befragten in Gesprächen über Ziele der Behandlung nicht teilgenommen zu haben. In Gesprächen über die Zukunft fühlten

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sich nur 33 Prozent einbezogen. Des Weiteren wurden von 60 Prozent der Kinder und 34 Prozent der Jugendlichen vor allem die Personensorgeberechtigten als Hauptansprechpartner der Ärzte und Therapeuten angegeben. Über Medikamente und deren Nebenwirkungen fühlten sich nur die Hälfte ausreichend informiert. Je älter die Patienten sind, umso höher wird das Informationsbedürfnis über Behandlung und Störungen (vgl. a.a.O., S. 171ff.). Unabhängig von Alter, Geschlecht und Störung äußerten 61,5 Prozent der Patienten ein Bedürfnis nach mehr Teilhabe. Jedoch bevorzugen etwa 1/3 der Patienten andere Personen als Entscheidungsträger. Etwa die Hälfte empfand eine mangelnde Teilhabe an Arztgesprächen, die andere Hälfte empfand die Teilhabe als gut bis sehr gut. Bei Mädchen war die Art der Störung mitentscheidend für das Bedürfnis nach Teilhabe (vgl. a.a.O., S. 202).

Befürchtet wurde vor der Aufnahme von 20 Prozent der Befragten persönlichen Schaden von dem Aufenthalt davonzutragen. Angaben darüber waren Verschlechterung des Zustandes, negativer Einfluss durch Mitpatienten, Freiheitseinschränkung, Stigmatisierung und Verlust von Freunden. Während der Behandlung wurden die Freizeitaktivitäten, die Beziehung zu Mitpatienten und zum Behandlungsteam als angenehm empfunden, dagegen wurden die Behandlung, die Kontaktaufnahme zu Mitpatienten und die strengen Regeln auf der Station als besonders unangenehm empfunden (vgl. a.a.O., S. 217). Die Hälfte der Kinder und Jugendlichen befürchten Stigmatisierungen (vgl. a.a.O., S. 221). Mehr als die Hälfte empfanden eine mangelhafte Aufklärung ihrer Rechte. Mehr Rechte wünschen sich viele bezüglich der Freizeitgestaltung, der Privatsphäre, Bewegungsfreiheit und der Mitentscheidung in der Therapie (vgl. a.a.O., S. 229).

Bei möglichen Mehrfachnennungen über Personengruppen in der Psychiatrie gab der überwiegende Teil der Patienten Ärzte und Schwestern an, wobei nur weniger als 10 Prozent Sozialarbeiter und Lehrer nannten. Angemessene Behandlungsvorstellungen nahmen mit höherem Alter zu, erreichten allerdings höchstens 50 Prozent. Nur die Hälfte der 16- bis 17-jährigen und 20 Prozent der 7- bis 13-jährigen können genauere Aussagen über gestellte Diagnosen machen (vgl. a.a.O., S. 179f.).

Aus der beschriebenen Befragung gingen weiterhin zwei Poster hervor, die auf dem 27.

Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (DGKJPP) vorgestellt wurden. Diese geben weitere Informationen zu der gerade vorgestellten Studie preis. Ein Poster behandelte das Thema Kenntnisse und Unkenntnisse bei Behandlungsbeginn. Informationen über die Behandlung waren in

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dieser Studie für 86 Prozent der Untersuchten wichtig, aber nur 47 Prozent erhielten eine entsprechende Vermittlung über die Therapie. Zu beobachten ist, dass fehlendes Wissen mit dem Alter abnimmt, aber immer noch bei jedem 5. der untersuchten 16- bis 17-jährigen vorgelegen haben (vgl. Dippold et al. 2002). Bei dem anderen Poster standen die Fragen der Bedingungen und Folgen der Aufnahme in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie im Fokus der Betrachtung. Das Partizipationsbedürfnis der Untersuchten ist insgesamt größer als die erlebte Teilhabe. Alters- und symptombedingte Unterschiede konnten in diesem Zusammenhang festgestellt werden (vgl. Wiethoff et al.

2002).

Zielke-Nadkarni und Cormann (2009) beschreiben anhand von drei Kindern im Grundschulalter, die alle die Diagnose Störung des Sozialverhaltens haben, beobachtete Situationen in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als Auslöser für die aggressiven Durchbrüche konnten Gruppendynamik, Eingrenzungen, Anforderungen und Regeln ausgemacht werden. Ebenfalls als Ursache konnte die Enge des Raumes (Architektur) genannt werden. Hauptursache für körperliche Übergriffe waren Eingrenzungen, denn die beobachteten körperlichen Attacken erfolgen erst nach einer Wutphase mit verbal aggressivem Verhalten durch Eingrenzungen. Ein Kind wurde erst übergriffig, als es vom Mitarbeiter festgehalten und auf sein Zimmer gebracht wurde (vgl. a.a.O., S. 253). Regeln und Grenzen werden einerseits als hilfreich für die Kinder beschrieben, sind allerdings der häufigste Grund für Eskalationen. Als Gründe werden weiterhin interne Faktoren wie sich wehren, Hilferuf und Grenzen austesten angeführt. Ergänzend wird die familiäre Lebenssituation angesprochen, in der keine Erfahrungen zu einem konstruktiven Umgang mit Konflikten gemacht werden konnte. Nach der Eskalation traten übrigens bei allen drei Kindern große Schuld- und Schamgefühle ein, ein Leidensdruck war erkennbar (vgl.

a.a.O., S. 254). Das Bedürfnis nach Zuwendung war allen Kindern anzumerken. In einer Situation ist die Erzieherin aus Ärger nicht auf das Kind eingegangen. (vgl. a.a.O., S.

255). Das Verhalten gegenüber den Kindern war von reinen Erziehungsmaßnahmen geprägt. Gutes Verhalten wurde belohnt und negatives Verhalten getadelt. Die Eskalation wurde auf Seiten der Mitarbeiter der ungünstigen Erziehung des Kindes zugeschrieben und nicht als Problem des Kindes angesehen. Eine Strafe war z. B. die Kürzung der Besuchszeit der Eltern, was von den Kindern nicht unmittelbar mit der Situation und dem emotionalen Erleben in Zusammenhang verstanden wurde (vgl. a.a.O., S. 256). Bei den Mitarbeitern waren die Folgen der Aggression Gegengewalt (Vorenthaltung von Kinderbedürfnisse, körperliches Festhalten), Spaltungen im (interdisziplinären) Team

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und negativ emotionale Reaktionen (vgl. a.a.O., S. 258f.). Im Team wurden strukturelle Probleme, wie Personalmangel, fehlende Schulung der Mitarbeiter und fehlende räumliche Möglichkeiten, sichtbar (vgl. a.a.O., S. 258).20 Anhand des Beispiels zeigt sich augenscheinlich, dass und wie Situationen Ausdruck der Wechselwirkung zwischen Patient, Mitarbeiter und Institution sind. Die Institution geben die strukturellen Vorgaben (z. B. architektonisch, Rückzugsmöglichkeiten, Personalschlüssel), der Mitarbeiter bringt sich über die Bewertung der Situation mit seinen Fähigkeiten21 und von der Institution gegebenen Möglichkeiten ein. Es ist zu beachten, dass der Professionelle sein Handeln reflektieren kann und somit auf Kinder- und Jugendliche zugehen muss, eine Anpassung von Seiten der Patienten an die Mitarbeiter und an standardisierte Abläufe erscheint als weitere Bewältigungsanforderung.22

Zwei Studien sind in für die Kinder- und Jugendpsychiatrie bedeutsamen Handlungsfeldern durchgeführt worden und nehmen an dieser Stelle einen informativen Charakter ein. Lenz (2000) veröffentlichte seine explorative Studie mit dem Augenmerk auf Kinder in der Familienberatung. Insgesamt wurden vierzig Beraterinnen und Berater von Erziehungsberatungsstellen mit einem Leitfaden interviewt. Das Ergebnis war, dass Kinder im Wesentlichen bei der Familienberatung eine zuschauende Rolle zukommt (vgl.

ebd.). Diese Studie wurde ohne Berücksichtigung der Kindersicht durchgeführt. Im Jahre 2001 veröffentlichte Lenz eine weitere Untersuchung, bei der 100 Leitfaden-Interviews mit Kindern zwischen 6 und 13 Lebensjahren durchgeführt wurden. Dabei ging es um die Partizipationserfahrungen von Kindern in der Erziehungs- und Familienberatung. Die Ergebnisse waren sehr eindeutig. So fühlten sich 65 Prozent nicht ausreichend in den Prozess einbezogen. Dies wurde als ein Grund vermutet, weswegen Problembeschreibungen von Kindern von denen der Berater drastisch abweichen, was m.

20 Während die strukturelle Situation der Mitarbeiter und das Resultat bei älteren Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen die gleichen sein können, weisen die untersuchten Kinder im Grundschulter gegenüber der genannten Altersklassen geringere kognitive Fähigkeiten auf. Doch Situationen, in denen es um Regeln und deren Einhaltung maßgeblich geht, sind ein möglicher allgemeiner Auslöser für aggressives Handeln. Nach Richter (1999) finden die häufigsten Übergriffe von erwachsenen Patienten in den Morgenstunden zwischen 8 und 9 Uhr statt, gefolgt von den Zeiten zwischen 23 und 24 Uhr. Während die Morgenzeit der typische Beginn für eine therapeutische Sitzung ist und Patienten hierfür motiviert werden, ist in den Abendstunden die Einhaltung der Nachtruhe maßgeblich.

21 Mitarbeiter weisen ebenfalls Merkmale auf, die auf internalisierte Beziehungserfahrungen beruhen, und mit denen sie auf die Patienten zugehen

22 .Zu demselben Ergebnis von Auswirkungen von strukturellen Interventionen auf Patienten kommen auch Ulke et al. 2014, allerdings beinhaltet diese Studie sehr viele Legitimationen, weswegen diese nicht

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E. auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie übertragbar ist und wie noch darzustellen ist Einfluss auf das Arbeitsbündnis hat.

Unveröffentlichte Studien und Befragungen gibt es wahrscheinlich viele, die wichtige Daten und Informationen bereithalten würden. Anzeichen dafür ist z. B. eine Diplomarbeit aus dem Jahre 2005 mit dem Titel „Stigmaerleben und Stigmamanagement von stationär psychiatrisch behandelten Jugendlichen und deren Eltern“ (Grieser 2005), die mittels Fragebogen und problemzentrierten Interviews zu verschiedenen Zeitpunkten das genannte Thema untersuchte, jedoch nicht veröffentlicht wurde. Weiterhin stellen Konopka et al. (2001) das Ergebnis einer Umfrage vor, wie die Zufriedenheit von Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie gemessen wurde. Im Rahmen zur Entwicklung eines eigenen Fragebogens zu diesem Themenbereich wurden Fragebögen bei über 153 psychiatrischen Abteilungen für Kinder und Jugendliche angefordert. Diese Fragebögen wurden miteinander verglichen (vgl. a.a.O., S. 154). Entscheidend ist hier, dass viele Kinder- und Jugendpsychiatrien anscheinend mit Fragebögen intern arbeiten, deren Ergebnisse nicht verglichen oder veröffentlicht werden.23 Erfahrungsberichte ergänzen den Forschungsstand.