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2.3 Das Phänomen der Bohrkanalerweiterung

2.3.5 Ätiologie

Bis heute ist die Entstehung der femoralen und tibialen Bohrkanalerweiterung nicht vollstän-dig geklärt. Viele Autoren gehen von einem multifaktoriellen Geschehen mit mechanischen und biologischen Ursachen aus (HOHER et al. 1998; KLEIN et al. 2003; WILSON et al.

2004).

2.3.5.1 Biologische Ursachen Frühere Studien zu dieser Thematik fokussierten sich auf allogene Transplantate und deren

Sterilisation mit Ethylenoxid. In diesen Untersuchungen wurde eine rein biologische Ätiolo-gie durch toxische Effekte vermutet (JACKSON et al. 1990; ROBERTS et al. 1991).

Im gleichem Zug ist auch publiziert worden, dass ein hoher Chrom- und Titananteil der fixie-renden Interferenzschrauben toxisch wirkt und eine Osteolyse induziert (MALONEY et al.

1990). Da allerdings in der Literatur osteolytische Prozesse durch Einsatz von Interferenz-schrauben nach vorderem Kreuzbandersatz bisher nicht beschrieben worden sind, spielt dieses Konzept bei der Erklärung dieses Phänomens eine eher untergeordnete Rolle (VERGIS u.

GILLQUIST 1995).

FAHEY u. INDELICATO (1994) verglichen ein Jahr post op. die Tunneldurchmesser nach Verwenden von Patellarsehnen-Autografts und allogenen Patellarsehnen-Transplantaten mit klinischen Ergebnissen. Es zeigte sich, dass das TE in der Allograft-Gruppe eine wesentlich höhere Inzidenz hatte, als bei den autologen Transplantaten. Sie erklärten sich das „Tunnel Enlargement“ u.a. durch eine Abstoßungsreaktion des Körpers mittels einer Fremdkörper-Immunantwort gegen das allogene Transplantat. Einige andere Autoren, die sich mit der Ver-wendung von allogenen Transplantaten („Allografts“) beschäftigt hatten, fanden in unter-schiedlichen Tiermodellen jedoch keinen histologischen Nachweis einer immunbedingten

Abstoßung mit folglicher Entzündung des umgebenden Gewebes (JACKSON et al. 1987;

HARNER et al. 1996).

Im Gegensatz dazu konnten SCHULTE et al. (1995) keine statistisch signifikanten Unter-schiede zwischen diesen beiden Transplantat-Typen feststellen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann noch keine eindeutige und einheitliche Aussage getroffen werden, dass die Wahl eines Al-lografts bei einer ACL-Rekonstruktion eine minderwertige Alternative im Vergleich zu den autologen Transplantaten darstellt.

Als weitere biologische Ursache der Bohrkanalerweiterung wird eine unspezifische Cytokin-vermittelte Entzündungsreaktion diskutiert. Cytokine sind lösliche Proteine, die als interzel-luläre Botenstoffe die Zellproliferation und Proteinsynthese induzieren. Außerdem vermitteln sie Prozesse wie die Zerstörung, den Umbau und die Reparatur von Geweben (JIRANEK et al. 1993). In histologischen Untersuchungen stieß man auf eine der Synovialis ähnelnde Membran („synovial-like membrane“), die sich um das funktionell und morphologisch beein-trächtigte Transplantat gelegt hatte und massenhaft Makrophagen aufwies. Diese Makropha-gen sind in der Lage, Cytokine, wie z.B. Interleukin 1 (IL-1), Interleukin 6 (IL-6), Interleukin 8 (IL-8), Tumor Necrose Faktor Alpha (TNF-α) und Prostaglandin E2 (PGE2) freizusetzen (GOLDRING et al. 1983; JASTY 1993). Dieses führt dann zu einer lokalen Entzündung und in Folge dessen zu einer Knochenresorption, da die Cytokine auch die osteoklastische Akti-vität beeinflussen. Die Freisetzung inflammatorischer Mediatoren wird stimuliert durch das akute Trauma der Kreuzbandverletzung, durch eine Transplantatnekrose, aber auch durch die Knochenzellnekrose in Folge der Hitzeeinwirkung beim Bohrprozess (AMIEL et al. 1986;

FAHEY u. INDELICATO 1994).

Hierdurch wird in der Synovia auch die Zunahme der induzierbaren Nitrit-Oxid-Synthase (iNOS) und die Produktion von Nitrit-Oxid (NO) in der Folge angeregt, welches als freies Radikal gewebeschädigend wirkt und den katabolen Einfluss der inflammatorischen Cytokine noch verstärkt (VAN'T HOF u. RALSTON 2001). Die stickstoffhaltige Verbindung NO wird häufig bei rheumatoider Arthritis nachgewiesen (NOVAES et al. 1997; VAN'T HOF u.

RALSTON 2001).

In der physiologischen, nicht entzündlichen Gelenkflüssigkeit findet man besonders hohe Konzentrationen an Interleukin 1 Rezeptor-Antagonist Protein und „Transforming Growth Factor beta“ (TGF-β) vor. Diese Proteine haben protektive Eigenschaften gegen die

kataboli-sche Wirkungsweise anderer (inflammatorikataboli-scher) Cytokine. Durch eine traumatikataboli-sche Einwir-kung verändert sich das Cytokin-Profil und die Konzentration der schützenden Botenstoffe sinkt zu Gunsten der inflammatorischen Mediatoren (CAMERON et al. 1994; CAMERON et al. 1997). In diesem Zusammenhang wird angenommen, dass die synoviale Flüssigkeit eine Rolle bei der Entstehung des „Bone Tunnel Enlargements“ spielt, da sie den Raum zwischen Transplantat und Bohrkanalwand ausfüllt (L'INSALATA et al. 1997). Die oben genannten schädigenden Botenstoffe und Nitrit-Verbindungen können auf den femoralen und tibialen Knochen einwirken. Dieses Geschehen wird auch als „synovial bathing effect“ bezeichnet. Je größer dieser Zwischenraum ist, je stärker ist auch die Exposition des Knochens mit diesen Mediatoren und die ausgelöste Entzündung und Osteolyse. Durch diesen Effekt ließ sich die hohe TE-Inzidenz bei der Verwendung eines autologen gleichseitigen Patellarsehnendrittels mit zwei anhängenden, größeren Knochenblöcken als Kreuzbandersatz („Bone-Patella-Ten-don-Bone“= BPTB) erklären (FAHEY u. INDELICATO 1994; L'INSALATA et al. 1997).

Andere Studien belegen, dass dieser Totraum mit fibrösem Gewebe ausgefüllt ist und so an-zunehmen ist, dass die Gelenkflüssigkeit bei der Ätiologie kaum von Bedeutung sein kann (JANSSON et al. 1999; YOSHIYA et al. 2000). Im Gegensatz dazu wiesen JACKSON et al.

(1993) einen Zusammenhang zwischen Transplantatschwellung und Bohrkanalerweiterung nach. Sie stellten in einem Ziegenmodell eine Durchmesserzunahme der allogenen und au-tologen Transplantate um 50% fest, welches sich bis sechs Monate post op. nachweisen ließ.

In einem Primatenmodell wurden ähnliche Beobachtungen hinsichtlich der Transplantat-schwellung gemacht (BUTLER et al. 1989). In dieser Studie lag die mittlere Querschnitts-fläche des vorderen Kreuzbandes bei 4,9 ± 0,3 mm² und die der autologen Transplantate bei 8,9 ± 0,8 mm². Nach sieben Wochen betrug die mittlere Querschnittsfläche der Transplantate 13,2 mm². Eine MRI-Studie am Menschen zeigte nach 12 Monaten allerdings nur einen An-stieg des Transplantatdurchmessers um 13% (HAMADA et al. 2005). JÜRGENSEN (2003) konnte in ihrem Schafmodell ebenfalls aufzeigen, dass die Dickenzunahme der Transplantate für die Bohrkanalaufweitung mitverantwortlich war. Allerdings konnte in dieser Studie nicht sicher unterschieden werden, ob es sich dabei um einen hypertrophischen oder hyperplasti-schen Vorgang gehandelt hat.

2.3.5.2 Mechanische Faktoren

Die vorherrschende Theorie zur Ursache und Entstehung des TE-Phänomens ist, dass jegliche Bewegung des Transplantatkonstruktes im Bohrkanal eine Tunnelerweiterung auslösen kann (FAHEY u. INDELICATO 1994; PEYRACHE et al. 1996; L'INSALATA et al. 1997).

Bei der BPTB- Fixationstechnik mit Interferenzschrauben werden Bewegungen weitestge-hend eingeschränkt. Doch durch die nicht „anatomische“ Positionierung des tibialen Kno-chenblocks weit distal im Bohrkanal liegt das Transplantat bei der „single-incision technique“

über eine Länge von etwa 20 mm mit viel Bewegungsspielraum im tibialen Bohrtunnel. Auch die abgeflachte Form der Patellarsehne vergrößert im tibialen runden Bohrkanal den Zwi-schenraum und ermöglicht transverse Bewegungen. Der so entstehende Bewegungsablauf wird auch als „Scheibenwischer-Effekt“ („windshield-wiper effect“) bezeichnet (L'INSALATA et al. 1997). Die Autoren fanden zudem heraus, dass bei dieser Operations- bzw. Fixationsmethode ein ausgeprägtes tibiales „Tunnel Enlargement“ entsteht, welches auf der femoralen Seite nicht in diesem Ausmaß detektiert werden konnte. Eine weitere Erklärung für die Entstehung einer Bohrkanalerweiterung bei dieser Operations-/Fixationstechnik ist der große Totraum zwischen Transplantat und tibialen Bohrkanal. In diesen druckentlasteten Tunnelarealen kommt es nach dem Wolff’schen Gesetz zu einer Inaktivitätsatrophie des Kno-chens (WOLFF 1892). Dieses als „stress shielding“ bezeichnete Phänomen wird als weitere mögliche mechanische Ursache diskutiert (FAHEY u. INDELICATO 1994; HOHER et al.

1998). BUELOW et al. (2002) sahen außerdem einen Zusammenhang zwischen einer Bohr-kanalaufweitung und der Verwendung großer Interferenzschrauben, die den Bohrkanal zum Zeitpunkt 0 stark vergrößern und zu einer iatrogenen Fortschreitung des „Enlargements“ bei-tragen.

Im Vergleich von BPTB-Transplantaten mit autologen Hamstringsehnen konnten viele Wis-senschaftler den Beweis dafür bringen, dass die TE-Rate bei dem Einsatz von Semitendi-nosus- bzw. Gracilissehnen wesentlich höher ist (L'INSALATA et al. 1997; CLATWORTHY et al. 1999; WEBSTER et al. 2001). Gemeinsam ist diesen Studien, dass die verwendeten Sehnen gelenkfern fixiert worden sind. Diese Tatsache begünstigt eine Elongation des Trans-plantates während der Flexion und Extension des Kniegelenks und somit die Ausbildung einer femoralen und tibialen Bohrkanalerweiterung.

In der Literatur wird diese longitudinale Bewegung als „bungee-cord effect“ bezeichnet (HOHER et al. 1998). Dieser Effekt ist jedoch nicht spezifisch für Hamstringsehnen, denn er tritt auch z.B. bei der Nutzung von weichgewebigen, allogenen Achillessehnen als Kreuz-bandersatz auf (LINN et al. 1993). Der Ligamentisationsprozess des Transplantates spielt bei der Entstehung eines „Tunnel Enlargement“ ebenfalls eine Rolle. Das Granulationsgewebe zwischen Transplantat und knöcherner Bohrkanalwand wird zunächst durch lockeres Binde-gewebe ersetzt, nach etwa 12 Wochen post op. wird dieses fibröse Gewebe dichter und es kommt zur vollkommenen Adhärenz der Sehne mit der Tunnelwand (CLATWORTHY et al.

1999; YOSHIYA et al. 2000). Die sensitive Phase der biologischen Inkorporation kann durch mechanische Faktoren, wie z. B. Transplantatbewegungen gestört werden und so zu einer durch Osteoklasten vermittelten Knochenresorption mit dem radiologisch sichtbaren Phäno-men der Bohrtunnelaufweitung führen (RODEO et al. 2006). Der Einfluss der osteoklasti-schen Aktivität auf die Einheilung ist von denselben Autoren in einer experimentellen Studie an Kaninchen untersucht und ein Jahr später publiziert worden (RODEO et al. 2007). Es wur-de gezeigt, dass durch Inhibition wur-der Osteoklasten-Aktivität z.B. durch Osteoprotegerin die Einheilung des Transplantates nach Kreuzbandrekonstruktion verbessert und damit eine Ex-pansion des Bohrtunnels vermindert werden kann.

Ein weiterer ätiologischer Faktor ist die Art der Rehabilitation. Die als TE-Ursache angesehe-nen Mikromotioangesehe-nen werden auch durch eine zu frühe und zu starke Belastung des Knies (ag-gressive Rehabilitation) und die fehlende Formenkongruenz des Tunnels und Transplantates verstärkt (WILSON et al. 2004). Die Autoren leiten davon auch das vermehrte Auftreten von

„Tunnel Enlargement“ innerhalb der ersten drei Monate post op. ab.

In einer Studie aus dem Jahr 2004 wurde die tibiale Tunnelaufweitung bei 35 Patienten mit Beugesehnentransplantat und frühfunktioneller Rehabilitation mit der Erweiterung bei 20 Pa-tienten mit additiver Meniskusnaht und Bewegungslimitierung mit Teilbelastung post op. ver-glichen (HANTES et al. 2004). Dabei ermittelten die Autoren eine größere tibiale Bohrkanal-erweiterung bei der Gruppe mit frühzeitiger Bewegung des operierten Knies (46%) als bei den Patienten mit Bewegungseinschränkung (24%). Die Autoren vermuten, dass es einen Zu-sammenhang zwischen der erstmaligen Beschreibung des TE-Phänomens Anfang der 90’er Jahre und der im gleichen Zeitraum erfolgten Einführung der beschleunigten Rehabilitation gibt. Diese Rehabilitationsprotokolle beinhalten Übungen mit voller Extension des Knies,

Gewichtsbelastung und frühzeitiger Rückkehr zur athletischen Aktivität (vier-sechs Monate post op.), was die Inzidenz von postoperativer Arthrofibrose, Bewegungseinschränkung und vorderem Knieschmerz signifikant senkte (SHELBOURNE u. NITZ 1990). Allerdings wurde die Mikromotion verstärkt und dadurch die Transplantatinkorporation gestört. BOHNSACK et al. (2006) konnten ebenfalls bestätigen, dass der postoperative Aktivitätsgrad und der Mus-kelstatus positiv mit der tibialen Bohrkanalerweiterung korrelierten, d.h. das Patienten mit TE einen signifikant höheren Aktivitätsgrad aufwiesen. Es wurde allerdings auch herausgestellt, dass die mit der Bewegung in Zusammenhang stehende größere Bohrkanalerweiterung keinen negativen Einfluss auf das Behandlungsergebnis und die Kniestabilität hatte. Die Autoren empfehlen vielmehr die frühfunktionelle Nachbehandlung aufgrund der besseren klinischen Ergebnisse. Als mechanischer Faktor der TE-Ätiologie wird auch die falsche Positionierung des Bohrkanals bzw. des Transplantates diskutiert (JAUREGUITO u. PAULOS 1996). Ein falsch platzierter Bohrtunnel kann erhöhte Transplantatkräfte, eine gesteigerte Mikromotion, eine gestörte Einheilung und ein Versagen der Kreuzbandplastik zur Folge haben. Die erhöh-ten Kräfte, die dadurch auf die Tunnelwand einwirken, verursachen eine Osteolyse mit dem Ergebnis des radiologisch darstellbaren „Tunnel Enlargement“ (HOHER et al. 1998).