§ 2 Holomorphe Fortsetzung
F¨ ur eine letzte Charakterisierung der einfach-zusammenh¨ angenden Gebiete sind ein paar topologische Vorbereitungen n¨ otig.
Definition. Es seien α, β : [0, 1] → C stetige Wege mit gleichem Anfangspunkt z
0= α(0) = β(0) und gleichem Endpunkt z
1= α(1) = β(1). Eine Homotopie (mit festem Anfangs- und Endpunkt) zwischen α und β ist eine stetige Abbildung Φ : [0, 1] × [0, 1] → C , f¨ ur die gilt:
1. Φ(t, 0) = α(t) und Φ(t, 1) = β(t).
2. Φ(0, s) = z
0und Φ(1, s) = z
1.
Zur Abk¨ urzung wird Φ
s(t) f¨ ur Φ(t, s) geschrieben. Φ
s(t) ist dann ein gew¨ ohnlicher stetiger Weg von z
0nach z
1, speziell ist Φ
0= α und Φ
1= β.
Zwei Wege heißen homotop in G (in Zeichen: α ' β), falls es eine Homotopie zwischen α und β gibt. Ein geschlossener Weg α in G mit z
0= α(0) = α(1) heißt nullhomotop in G, falls α in G homotop zum konstanten Weg c(t) ≡ z
0ist.
2.1 Satz. Ist G ⊂ C konvex oder hom¨ oomorphes Bild einer konvexen Menge, so ist jeder geschlossene Weg in G nullhomotop in G.
Beweis: Es sei G konvex, α : [0, 1] → G ein geschlossener Weg mit Anfangs- und Endpunkt z
0. Definieren wir
Φ(t, s) := s · z
0+ (1 − s) · α(t) auf [0, 1] × [0, 1],
so ist Φ stetig, und wegen der Konvexit¨ at liegt das Bild von Φ in G. Alle Wege Φ
shaben als Anfangs- und Endpunkte den Punkt z
0. Außerdem ist Φ
0= α und Φ
1(t) ≡ z
0, also α nullhomotop in G.
Ist G hom¨ oomorphes Bild eines konvexen Gebietes, dann kann der Weg α mittels Umkehrabbildung dorthin transportiert werden. Die Konstruktion der Homotopie l¨ asst sich dann ganz einfach ¨ ubertragen.
Sei α : [a, b] → C ein stetiger Weg. Eine Kreiskette l¨ angs α besteht aus einer Zerlegung des Defintionsintervalls
a = t
0< t
1< · · · < t
n= b und Kreisscheiben D
1, . . . , D
nmit α([t
i−1, t
i]) ⊂ D
i.
Ist G ⊂ C ein Gebiet und α : [a, b] → G ein stetiger Weg, so gibt es eine Kreiskette
{D
1, . . . , D
n} l¨ angs α mit a = t
0< t
1< · · · < t
n= b und α([t
i−1, t
i]) ⊂ D
i⊂ G f¨ ur
i = 1, . . . , n. Das sieht man so: Da C := α([a, b]) kompakt ist, gibt es ein r > 0,
so dass f¨ ur jeden Punkt z ∈ C die Kreisscheibe D
r(z) ganz in G enthalten ist.
Und weil α gleichm¨ aßig stetig ist, gibt es ein δ > 0, so dass |α(t) − α(t
0)| < r f¨ ur alle t, t
0mit |t − t
0| < δ gilt. Zerlegt man nun [a, b] in n gleiche Teile, so dass (b − a)/n < δ ist, so kann man z
n:= α(t
n) setzen. Dann ist |α(t) − z
i| < r f¨ ur
|t − t
i| ≤ (b − a)/n < δ, also α(t) ∈ D
r(z
i) f¨ ur t ∈ [t
i−1, t
i+1].
Ist jetzt f : G → C holomorph, so existiert auf jeder Kreisscheibe D
ieine Stamm- funktion F
ivon f. Wir k¨ onnen deshalb definiere:
Z
α
f (z) dz :=
n
X
i=1
(F
i(α(t
i)) − F
i(α(t
i−1)).
Bemerkungen.
1. Die Definition ist unabh¨ angig von der Wahl der Kreiskette bzw. von der Wahl der Stammfunktionen. Geht man n¨ amlich von F
izu einer anderen Stamm- funktion F e
iuber, so ist ¨ F e
i= F
i+ C
i, mit einer Konstanten C
i. Diese Kon- stanten fallen in der Summe wieder weg. Man kann sie also so w¨ ahlen, dass F
i= F
i+1auf D
i∩ D
i+1ist. Aber dann folgt aus dem Identit¨ atssatz, dass die Funktion F
ndurch F
0eindeutig bestimmt und das Integral von der Kreiskette unabh¨ angig ist.
2. Falls α st¨ uckweise stetig-differenzierbar ist, stimmt der neue Integralbegriff mit dem schon vorhandenen ¨ uberein.
Die Verallgemeinerung des Wegintegrals auf Ketten stetiger Wege erfolgt wie ge- wohnt :
Ist Γ =
k
P
i=1
n
iα
imit stetigen Wegen α
iund nat¨ urlichen Zahlen n
i, so definieren wir:
Z
Γ
f (z) dz :=
k
X
i=1
n
i· Z
αi
f (z) dz.
2.2 Satz. Sind die Wege α, β in G homotop zueinander, so ist R
α
f(z) dz = R
β
f (z) dz f¨ ur jede holomorphe Funktion f auf G.
Beweis: Es sei z
0:= α(0) = β(0) der Anfangspunkt, z
n:= α(1) = β(1) der Endpunkt. Weiter sei Φ die Homotopie, s
0∈ [0, 1] und {D
1, . . . , D
n} eine Kreiskette l¨ angs γ
0:= Φ
s0(zur Zerlegung 0 = t
0< t
1< . . . < t
n= 1) in G. Dann ist Φ(t, s
0) ∈ D
if¨ ur t
i−1≤ t ≤ t
i. Ist s nahe bei s
0, so verl¨ auft auch noch γ := Φ
sim Innern der Kreiskette, und man kann eine Zerlegung 0 = u
0< u
1< . . . < u
n= 1 finden, so dass Φ(t, s) ∈ D
iist, f¨ ur u
i−1≤ t ≤ u
i.
Nun sei F
ieine Stammfunktion von f in D
i. Auf D
i∩ D
i+1ist c
i:= F
i+1− F
ikonstant. Daher ist
F
i+1(γ(u
i)) − F
i+1(γ
0(t
i)) = F
i(γ(u
i)) − F
i(γ
0(t
i)) f¨ ur i = 1, . . . , n − 1, und es gilt:
Z
γ
f(z) dz − Z
γ0
f (z) dz =
=
n
X
i=1
F
i(γ(u
i)) − F
i(γ(u
i−1))
−
n
X
i=1
F
i(γ
0(t
i)) − F
i(γ
0(t
i−1))
=
n
X
i=1
F
i(γ(u
i)) − F
i(γ
0(t
i))
−
n−1
X
i=0
F
i+1(γ(u
i)) − F
i+1(γ
0(t
i))
= F
n(z
n) − F
n(z
n)
− F
1(z
0) − F
1(z
0)
= 0.
Wir w¨ ahlen nun so kleine Zerlegungen 0 = t
0< t
1< . . . < t
n= 1 und 0 = s
0<
s
1< . . . < s
m= 1, dass das Bild des Rechtecks Q
ij= [t
i−1, t
i] × [s
j−1, s
j] unter Φ jeweils in einer geeigneten Kreisscheibe D
ij⊂ G enthalten ist, f¨ ur alle i und j.
F¨ ur festes j liegen dann die Wege Φ
sj−1und Φ
sjjeweils so dicht beieinander, dass sie durch die gleiche Kreiskette ¨ uberdeckt werden und die Integrale dar¨ uber gleich sind. Aber dann stimmen auch die Integrale ¨ uber α und β ¨ uberein.
2.3 Folgerung. Sei f ∈ O(G) und α ein geschlossener Weg in G, der nullho- motop in G ist. Dann gilt R
α
f (z)dz = 0.
Beweis: α ist homotop zu einem konstanten Weg c(t) ≡ z
0, und das Integral l¨ angs c verschwindet offensichtlich.
Jetzt kommen wir endlich zur gew¨ unschten Charakterisierung der einfach-zusam- menh¨ angenden Gebiete:
2.4 Satz. Es sei G ⊂ C ein Gebiet. Dann gilt : G ist genau dann einfach zusammenh¨ angend, wenn jeder geschlossene Weg in G nullhomotop ist.
Beweis: Es sei G einfach zusammenh¨ angend. Dann ist G = C oder G biholo- morph ¨ aquivalent zum Einheitskreis – die sind aber beide konvexe Gebiete, d.h.
dort ist jeder geschlossene Weg nullhomotop. Die Homotopie kann dann nach G
¨
ubertragen werden.
Wenn umgekehrt jeder geschlossene Weg nullhomotop ist, dann verschwindet das Integral ¨ uber jede Funktion f ∈ O(G) und jeden geschlossenen Weg α in G. Ist Γ ein Zyklus in G, so zerf¨ allt Γ in geschlossene Wege α
i. Also ist das Integral
Z
Γ
f(z) dz = 0
f¨ ur jede holomorphe Funktion f auf G. Daraus folgt, dass G einfach zusam-
menh¨ angend ist.
Definition. X, Y seien zwei Hausdorffsche topologische R¨ aume. Eine stetige Abbildung π : X → Y heißt Uberlagerung, falls gilt: ¨
Zu jedem y ∈ Y gibt es eine Umgebung V = V (y) ⊂ Y , so dass π
−1(V ) eine Verei- nigung von paarweise disjunkten offenen Teilmengen ist, die durch π hom¨ oomorph auf V abgebildet werden.
Ist π
−1(y) immer eine d-elementige Menge, so spricht man von einer d-bl¨ attrigen Uberlagerung. ¨
Eine verallgemeinerte ¨ Uberlagerung (oder verzweigte ¨ Uberlagerung ) ist eine stetige Abbildung π : X → Y , die offen und diskret ist.
Bemerkung. Eine ¨ Uberlagerung ist auch immer eine verallgemeinerte ¨ Uber- legung. Die Umkehrung gilt nat¨ urlich nicht. Ist π : X → Y eine verallgemei- nerte ¨ Uberlagerung, so versteht man unter einem Verzweigungspunkt einen Punkt x
0∈ X, zu dem es keine Umgebung U = U(x
0) gibt, so dass π|
Uinjektiv ist. Besitzt π keinen Verzweigungspunkt, so spricht man von einer unverzweigten (verallgemei- nerten) ¨ Uberlagerung. Das ist genau dann der Fall, wenn π lokal-topologisch ist.
Beispiele.
1. Sei π : R → S
1= {z ∈ C : |z| = 1} definiert durch π(t) := e
2πit. Ist z
0= e
2πit0∈ S
1und W = W (t
0) eine kleine offene Umgebung, etwa ein Intervall der L¨ ange 2ε < 1, so ist V = {z = e
2πit: t ∈ W } eine offene Umgebung von z
0in S
1, und π
−1(V ) ist disjunkte Vereingung der Mengen U
k= k + W , k ∈ Z . Offensichtlich ist π eine ¨ Uberlagerung.
Die Abbildung exp : C → C
∗ist ebenfalls eine ¨ Uberlagerung. ¨ Uber einer geschlitzten Ebene liegen jeweils unendlich viele Parallelstreifen.
2. Sei f(z) := z
n, n ≥ 2. Die Ableitung f
0(z) = n · z
n−1verschwindet genau f¨ ur z = 0. Also ist f in jedem Punkt z 6= 0 ein lokaler Isomorphismus.
Im Nullpunkt liegt ein Verzweigungspunkt (der Ordnung n) vor. Damit ist f : C → C eine verzweigte ¨ Uberlagerung.
Wir wollen daraus eine ¨ Uberlagerung C → C machen. Um das Verhalten in
z = ∞ zu studieren, benutzen wir die Inversion I. Es ist I ◦ f ◦ I (z) = z
n, f¨ ur
z 6= 0, also ist f(∞) = ∞, und f besitzt in ∞ einen Verzweigungspunkt mit
Vielfachheit n. Damit wird f zu einer verzweigten n-bl¨ attrigen ¨ Uberlagerung
C → C mit Verzweigungsmenge Z := {0, ∞}. Im Fall n = 2 ergibt sich
folgendes Diagramm:
0 ∞
?
f(z) = z
22.5 Lemma (Eindeutigkeit der Liftung). Sei π : X → Y eine unverzweigte verallgemeinerte ¨ Uberlagerung, Z ein zusammenh¨ angender topologischer Raum und f : Z → Y eine stetige Abbildung. Sind g
1, g
2: Z → X zwei stetige
” Liftungen“
von f, d.h. stetige Abbildungen mit π ◦ g
i= f f¨ ur i ∈ {1, 2}, mit g
1(z
0) = g
2(z
0) f¨ ur ein z
0∈ Z , dann gilt g
1(z) = g
2(z) f¨ ur alle z ∈ Z.
Beweis: Setze T := {z ∈ Z : g
1(z) = g
2(z)}. Dann ist T ⊂ Z abgeschlossen, da die g
istetig sind. T ist nicht leer, da z
0∈ T ist. Also bleibt zu zeigen: T ist offen.
Dann folgt T = Z , da Z zusammenh¨ angend ist.
Sei z ∈ T , x := g
1(z) und y := π(x). Da π eine unverzweigte verallgemeinerte Uberlagerung ist, gibt es Umgebungen ¨ U = U(x) und V = V (y), so dass π|
U: U → V topologisch ist. Außerdem gibt es eine Umgebung W = W (z) ⊂ Z , so dass g
1(W ) ⊂ U und g
2(W ) ⊂ U ist, da beide g
istetig sind. Sei ϕ := (π|
U)
−1: V → U.
Dann gilt ϕ ◦ f |
W= g
i|
Wf¨ ur i = 1, 2, also g
1= g
2auf W , d.h. W ⊂ T . Damit ist T offen.
2.6 Satz (Existenz der Liftung von Kurven). Sei π : X → Y eine ¨ Uber- lagerung (im engeren Sinne). Dann gibt es zu jeder stetigen Kurve α : [0, 1] → Y und jedem Punkt x
0∈ X mit π(x
0) = α(0) genau eine Liftung α b : [0, 1] → X von α mit α(0) = b x
0.
Beweis: Wegen der Kompaktheit von [0, 1] gibt es eine Unterteilung 0 = t
0< t
1< . . . < t
n= 1
und offene Mengen V
k⊂ Y , so dass f¨ ur k = 1, . . . , n gilt:
1. α([t
k−1, t
k]) ⊂ V
k, 2. π
−1(V
k) = [
j∈Jk
U
k,j, mit paarweise disjunkten offenen Mengen U
k,j, die durch
π hom¨ oomorph auf V
kabgebildet werden.
Die Liftung α b wird nun induktiv konstruiert.
Ist x
0∈ U
1,j1, so setzen wir ϕ
1:= (π|
U1,j1
)
−1und α(t) := b ϕ
1◦ α(t), f¨ ur t ∈ [0, t
1].
Ist k ≥ 2, α b auf [0, t
k−1] schon konstruiert und x
k−1:= α(t b
k−1) ∈ U
k,jk, so setzen wir ϕ
k:= (π|
Uk,jk)
−1und α(t) := b ϕ
k◦ α(t), f¨ ur t ∈ [t
k−1, t
k]. Nach endlich vielen Schritten ist man fertig.
Wir wollen jetzt die
” Garbe der holomorphen Funktionskeime“ einf¨ uhren.
Sei z
0∈ C beliebig. Wir betrachten Paare (U, f ) mit 1. U = U (z
0) ist offene Umgebung von z
0.
2. f ist holomorph auf U . Jedes solche Paar heißt dann ein
” holomorphes Funktionselement“ in z
0. Auf der Menge dieser Paare f¨ uhren wir eine ¨ Aquivalenzrelation ein:
(U, f ) ∼ (V, g ) genau dann, wenn es W = W (z
0) ⊂ U ∩ V gibt, auf der f und g
¨ ubereinstimmen.
Eine ¨ Aquivalenzklasse nennen wir einen Funktionskeim in z
0, die Klasse von (U, f ) bezeichnen wir mit f
z0. O
z0sei die Menge aller holomorphen Funktionskeime in z
0. Dann ist O
z0eine C -Algebra.
Die ” kanonische Abbildung“
%
U,z0: O(U ) → O
z0definieren wir durch f 7→ f
z0. Damit ist %
U,z0ein C -Algebra-Homomorphismus.
Bezeichnen wir mit C {T } die C -Algebra der konvergenten Potenzreihen, dann gibt es einen Algebra-Homomorphismus
τ
U,z0: O(U) → C {T }, τ
U,z0(f ) :=
∞
X
n=0
f
(n)(z
0) n! T
n.
τ anzuwenden bedeutet das Entwickeln einer holomorphen Funktion in eine Po- tenzreihe um z
0. Wir k¨ onnen jetzt den induzierten Algebra-Homomorphismus ϕ : C {T } → O
z0betrachten, der definiert wird durch ϕ(τ
U,z0(f )) := f
z0.
Bemerkung. Jede Potenzreihe konvergiert gegen eine holomorphe Funktion, deren Taylorreihe wieder die Potenzreihe ist. Deshalb ist τ
U,z0surjektiv, und ins- besondere ist ϕ wohldefiniert.
2.7 Behauptung. ϕ ist Algebra-Isomorphismus, d.h. O
z0∼ = C {T }.
Beweis: Ist ϕ(τ
U,z0(f)) = 0, dann ist der Funktionskeim f
z0= 0. Also gibt es
eine Umgebung V = V (z
0) ⊂ U mit f
|V≡ 0. Der Identit¨ atssatz sagt dann, dass
f ≡ 0 auf der Zusammenhangskomponente von U, die z
0enth¨ alt. Jedenfalls ist die Taylorentwicklung von f in z
0identisch 0, da alle Ableitungen in z
0verschwinden.
Also ist ϕ injektiv.
Ist σ ∈ O
z0, dann nehme einen Repr¨ asentanten (V, f). Dann ist ϕ(τ
U,z0(f )) = f
z0= σ, d.h. ϕ ist surjektiv.
Definition. Sei B ⊂ C offen. Die Menge O
B:= [ ˙
z∈B
O
z= [
z∈B