• Keine Ergebnisse gefunden

Band 49 LV

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Aktie "Band 49 LV"

Copied!
58
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Vom Objekt zum Subjekt –

Perspektivwechsel zum Rechtsträger Kind am Beispiel

der Debatte über die rituelle Beschneidung

Minderjähriger

Jana Schäfer-Kuczynski, M.Mel.

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Interdisziplinäres Zentrum

Medizin-Ethik-Recht

Herausgegeben von

Prof. Dr. Hans Lilie

(2)

Prof. Dr. Hans Lilie (Hrsg.), Schriftenreihe Medizin-Ethik-Recht, Band 49, 2014

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

ISSN 1862-1619

ISBN 978-3-86829-667-9

Schutzgebühr Euro 5

Interdisziplinäres Zentrum Medizin-Ethik-Recht (MER) Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Universitätsplatz 5 D - 06108 Halle (Saale) mer@jura.uni-halle.de www.mer.jura.uni-halle.de Tel. ++ 49 (0)345-55 23144

(3)

Gliederung

A. Einleitung ... 3

B. Vom Objekt zum Subjekt – Perspektivwechsel zum Rechtsträger Kind am Beispiel der Debatte über die rituelle Beschneidung Minderjähriger ... 5

I. Verfassungsrechtlicher Zusammenhang der Beschneidungsdebatte ... 5

1. Die verfassungsrechtlichen Interessen der Eltern ... 5

a. Recht auf religiöse Erziehung, Art. 6 Abs. 2, S. 1 GG ... 5

b. Recht auf freie Ausübung der Religion, Art. 4 Abs. 1 GG ... 7

c. Recht auf Persönlichkeitsentfaltung, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG ... 9

d. Zwischenergebnis ...10

2. Die verfassungsrechtlichen Interessen des Kindes ... 10

a. Grundrechtsstatus des Kindes ...10

b. Berührte Interessen des Kindes durch die Beschneidung ...10

aa. Recht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2, S. 1 GG ... 11

(1) Bagatellgrenze zur Berührung der körperlichen Integrität ... 11

(2) Ärztliche Maßnahmen als Berührung körperlicher Integrität ... 12

(3) Gefährliches Werkzeug i.S.d. § 224 Abs. 1, Nr.2 StGB ... 13

(4) Psychische Beeinträchtigung der kindlichen Integrität... 14

(5) Zwischenergebnis ... 15

bb. Negative Religionsfreiheit, Art. 4 Abs. 1 GG ... 15

cc. Recht auf religiöse Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ... 15

c. Berührte Interessen des Kindes durch ein Beschneidungsverbot ...16

aa. Recht auf freie Ausübung der Religion, Art. 4 Abs. 1 GG ... 16

bb. Recht auf Person-Werden des Kindes, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ... 16

d. Zwischenergebnis ...17

II. Debatte: Gewichtung der betroffenen Interessen ... 18

1. Betrachtung von Kinderrechten ... 18

a. Europäisches Unionsrecht ...19

b. Verfassungsrecht ...20

aa. Verfassungsrechtlich gesetztes Menschenbild ... 20

bb. Die Dogmatik des Kindes als Träger von Grundrechten ... 21

c. Völkerrecht ...26

aa. UN-Kinderrechtskonvention von 1989 ... 26

bb. EMRK ... 29

cc. Das Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA) ... 30

dd. Zwischenergebnis ... 30

d. Bundesrecht ...30

aa. Familienrecht ... 31

bb. Sozialrecht... 32

cc. Das Gesetz über religiöse Kindererziehung (RKEG) ... 33

dd. Strafrecht ... 34

ee. Zwischenergebnis ... 34

(4)

3. Rechtssoziologische Anknüpfungspunkte... 36 a. Die Soziologie und Entwicklungstheorie des Kindes ...36 b. Rechtsanwendung in einer pluralen Gesellschaft ...38 4. Rückführung zum Verhältnis von Kindesinteressen und Elternrecht im

Beschneidungsfall ... 39 C. Fazit ... 41 LITERATURVERZEICHNIS ... 46

(5)

A. Einleitung

„Es ist nicht mein Ziel, eine Kriminalisierung herbeizuführen, sondern eine Diskussion anzustoßen, die auch in den Religionsgemeinschaften zu einem Bewusstseinswandel für mehr Kinderrechte führt.“1

So wird Holm Putzke, der 2008 mehrere Aufsätze und Artikel zur Problematik der rituellen Beschneidung veröffentlichte,2 zitiert, nachdem seine Auffassung zur rituellen Beschneidung als rechtswidrige Körperverletzung durch das Urteil der 1. kleinen Strafkammer des LG Köln vom 07.05.20123 bestätigt wurde. In der Folge entbrannte tatsächlich eine breite öffentliche Debatte über die Zulässigkeit der Beschneidung minderjähriger Jungen.4

Das Ende der Diskussion wurde im Eilweg durch den Gesetzgeber eingeleitet, indem er einen Entwurf zu einer ergänzenden Vorschrift im Familienrecht (§ 1631 d BGB) beschloss, die die Beschneidung explizit in die Personensorge der Eltern einbezieht.

Neben der Betrachtung verfassungsrechtlicher Grenzen, an denen sich die rituelle Beschneidung als irreversibler Eingriff in die körperliche Integrität Schutzbefohlener messen lassen muss, impliziert das Urteil des Landgerichts Köln, wie auch die Debatte etwas Weitgehenderes, für das Rechtsverständnis Grundlegendes:

Der Blick auf den Rechtsträger Kind scheint sich mehr und mehr weg vom Kind als passiven Rechtsträger mit objektiver Schutzbedürftigkeit hin zum autonomen, aktiven Rechtsträger zu wandeln. Diese These könnte erklären, warum die Frage nach den Grenzen elterlicher Einflussnahme auf Identität und Integrität des Kindes gegenüber den autonomen Interessen des Kindes im Jahre 2012 kontrovers judiziert und diskutiert wird und nicht schon Jahre oder Jahrzehnte5 zuvor.

1 Schaaf, Kulturkampf im Gerichtssaal, Zit. Holm Putzke: http://www.faz.net/

aktuell/gesellschaft/familie/beschneidungsdebatte-kulturkampf-im-gerichtssaal-11805676.html. 2 Stehr/Putzke/Dietz, Zirkumzision, DÄBl. 2008 105 (34/35), A 1778-80; Putzke, Beschneidung, NJW

2008, S. 1568-1570; Putzke, Zirkumzision bei Minderjährigen, MedR 2008, S. 268 ff.; Putzke, Beschneidung von Knaben, FS Herzberg, S. 669-709.

3 LG Köln, Urt. v. 7. 5. 2012 − 151 Ns 169/11 = NJW 2012, 2128.

4 Beachtlich ist, dass schon 2002 ein Amtsgerichtsurteil erging, welches die Beschneidung als dem Kindeswohl zuwiderlaufend zuordnete und vom OLG Bestätigung fand, ohne dass diese Ansicht öffentliche Beachtung gefunden hätte: siehe Putzke, Religiöse Beschneidung, NJW 2008, S. 1568. 5 Denn Regulierung und Aufmerksamkeit zur Beschneidung bestand schon Anfang des 19.

(6)

In dieser Arbeit wird zunächst eine verfassungsrechtliche Zuordnung des beschriebenen Interessenkonflikts erfolgen.

Anschließend sollen Rechtsstatus und Entwicklungstheorie des Kindes über die Kodizes im europäischen Rechtsraum und unter Rückgriff auf soziologische und erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse nachgezeichnet werden.

Nach Rückführung dieser Wertungen in die Debatte soll klarer werden, ob Urteil und Debatte tatsächlich Ausdruck einer neuen Perspektivierung des Kindes als Rechtsträger sind, welches fernwirkend für die weitere Gestaltung und Durchsetzung von Kinder- und Jugendrechten sein kann.

Zu unterscheiden sind in diesem Zusammenhang die Begriffe Rechtssubjekt, subjektive Rechte und Subjektivität des Kindes.

Rechtssubjekt ist jedes Kind Kraft Geburt6.

Subjektive Rechte sind solche, die jeder Rechtsträger, mithin auch jedes Kind (vertreten durch die Personensorgeberechtigten, §§ 1626, 1629 BGB), gegenüber Dritten und dem Staat als Adressat einer Rechtsnorm durchsetzen kann.7 Diese beiden Begriffe sind von der Subjektivität des Kindes, die in dieser Arbeit eruiert werden soll, zu unterscheiden: Diese meint vielmehr die autonome Fähigkeit zur Rechtsausübung und Willensbildung. Insoweit korreliert Subjektivität nach dem hier zur Anwendung kommenden Begriffsverständnis eng mit rechtlicher Autonomie des Kindes.

Wenn nach dem Wandel vom Objekt zum Subjekt gefragt wird, so ist mithin zu ermitteln, wie sich das Spannungsfeld von Erziehungsrecht der Eltern (Objektivität) und Autonomie des Kindes (Subjektivität) darstellt und entwickelt.

6 Spallek, Staatsrecht, S. 332. 7 Spallek, Staatsrecht, S. 327.

(7)

B. Vom Objekt zum Subjekt – Perspektivwechsel zum Rechtsträger Kind am Beispiel der Debatte über die rituelle Beschneidung Minderjähriger

I. Verfassungsrechtlicher Zusammenhang der Beschneidungsdebatte

Im folgenden Teil sind die verfassungsrechtlichen Interessen der Konfliktparteien zunächst einmal zu benennen und zuzuordnen.

Die Grundrechtsrelevanz der Beschneidung ergibt sich aus der Schutzpflichtdimension der potenziell berührten Grundrechte, nach der der Staat sich schützend und fördernd vor das betroffene Schutzgut zu stellen hat, um es auch vor Beeinträchtigungen Dritter zu bewahren.8

1. Die verfassungsrechtlichen Interessen der Eltern

Zunächst sind die verfassungsrechtlichen Interessen der in eine Beschneidung des männlichen Kindes einwilligenden Eltern darzulegen.

a. Recht auf religiöse Erziehung, Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG

Als natürliche Personen, sind Eltern im Verhältnis zu ihrem leiblichen oder adoptierten Kind Träger des Rechts auf freie Erziehung nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.9

Art. 6 Abs. 2 GG gewährt Eltern die Freiheit der Entscheidung über die Art und Weise, wie sie für das körperliche und seelische Wohl ihres Kindes sowie dessen Entwicklung, Bildung und Ausbildung sorgen wollen.10 Das elterliche Erziehungsrecht genießt auch auf der Ebene der weltanschaulichen Erziehung, den Vorrang vor staatlicherseits zu befürwortenden Erziehungszielen und -wegen.11 Die Elternprärogative ergibt sich aus dem Verständnis

„dass diejenigen, die einem Kind das Leben geben, von Natur aus bereit und

8 BVerfGE 39, S. 1 (42); Vgl. Müller-Terpitz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 147 Rn 73.

9 Vgl. Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 155 Rn 14; Ipsen, Staatsrecht II, § 7 Rn 346; Heilmann, Hilfe oder Eingriff, ZfJ 2000, S. 41 (42).

10 Kloepfer, VerfR II, § 67 I Rn 56; Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 155 Rn 9.

11 Vgl. BVerfGE 24, S. 119 (144); Kloepfer, VerfR II, § 67 I Rn 56, 61; Strätz in: Soergel (Hrsg.), BGB, Bd. 8, § 1626 Rn 2; Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 155 Rn 21.

(8)

berufen sind, die Verantwortung für seine Pflege und Erziehung zu übernehmen“.12

Das staatliche Wächteramt über Pflege und Erziehung der Kinder hat mithin subsidiären Charakter.13 Der Vorrang des elterlichen Erziehungsrechts wird dabei über die Erfüllung der Pflicht zur Existenzsorge, der Erziehung zur Selbstbestimmungsfähigkeit und Rechtstreue sowie die Pflicht zur Beachtung objektivierbarer Kindesinteressen legitimiert – ein Recht auf Nichterziehung besteht somit nicht.14

Die Ausübung der Elternverantwortung richtet sich nach dem Kindeswohl15 als „grundrechtsdogmatische Mitte des Elternrechts“.16

Das Kindeswohl gilt erst dann als missachtet, wenn das Kind in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist.17 Das objektive Wohl des Kindes sei insoweit begrifflich vom Kindeswillen zu unterscheiden, dieser sei aber zu berücksichtigen soweit er mit dem Wohl vereinbar ist und bilde damit ein Indiz für die Bemessung des Kindeswohls.18 Beachtlich ist bei der Bestimmung des inhaltlichen Umfangs des Elternrechts, dass selbiges zugleich Ausdruck elterlicher Persönlichkeitsentfaltung ist.19 Damit stellt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG eine Konkretisierung des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dar. Zugleich bildet das Elternrecht zu religiöser Erziehung eine Konkretisierung des Art. 4 Abs. 1 GG.20 Dieser systematische Bezug des Elternrechts zum Persönlichkeitsrecht und der Religionsfreiheit ist insoweit hervorzuheben, als er den Schutz durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gleichsam verstärkt. Die Auslegung des Elternrechts im Kontext der Beschneidung hat dieser Verstärkung entsprechend Rechnung zu tragen.

Spiegelbildlich ist Art. 6 Abs. 2 GG als Schutzinstrument des Kindes im System des

12 BVerfGE 24, S. 119 (150), Vgl. BVerfGE 59, S. 360 (376).

13 Kloepfer, VerfR II, § 67 I Rn 58; Münning, Rechte der Kinder, S. 236; Heilmann, Hilfe oder Eingriff?, ZfJ 2000, S. 41 (42).

14 Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 155 Rn 30, 31; Kloepfer, VerfR II, § 67 I Rn 59; vgl. Jestaedt in: Münder/Wiesner/Meysen (Hrsg.), Hdb. Kinder- und Jugendhilferecht, Kap. 1.5 Rn 14.

15 Happe, Kindeswohl, S. 25; Kloepfer, VerfR II, § 67 I Rn 57; BVerfGE 72, S. 155 (170-173). 16 Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 155 Rn 35.

17 Vgl. BVerfGE 60, S. 79 (91); BVerfGBeschl. v. 4.2.2011 -1 BvR 303/11, Rn 22; Rixen, Das Gesetz über den Umfang der Personensorge, NJW 2013, S. 257 (260).

18 Jestaedt in: Münder/Wiesner/Meysen (Hrsg.), Hdb. Kinder- und Jugendhilferecht, Kap. 1.5 Rn 9. 19 Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 155 Rn 16; Münning, Rechte der Kinder,

S. 236.

(9)

verfassungsrechtlichen Familienschutzes zu lesen.21 Kindergrundrechte vermögen mithin den Schutzbereich des Elternrechts zu beschränken.22

Folglich ist eine Erziehungsleistung gefordert, die den

„Zustand [,] bei dem die leibliche Existenz sowie eine angemessene geistige und seelische Entwicklung des Minderjährigen zu einer vollwertigen Persönlichkeit und zu einem lebenstüchtigen Glied der Gemeinschaft“

als Mindestanforderung gewährleistet.23

Die Vermittlung kultureller Erfahrungen wird dabei als von den Eltern geschuldete, weil von den kindlichen Bedürfnissen umfasste, Erziehungsleistung angesehen.24 Für den Fall der rituellen Beschneidung als religiöser Bekenntnisakt, den die Eltern dem Kind zur Teilhabe am Kulturkreis des Judentums oder Islams, gleichsam als Teil religiöser und kultureller Erziehung angedeihen lassen, bedeutet das, dass das Erziehungsrecht der Eltern durch ein Verbot der Beschneidung berührt würde. Mangels evidenzbasierter Erkenntnisse über Entwicklungsstörungen infolge der Beschneidung25, ist selbige nicht vorab vom Erziehungsrecht auszuklammern.

b. Recht auf freie Ausübung der Religion, Art. 4 Abs. 1 GG

Als natürliche Personen26 sind die in eine Beschneidung einwilligenden Eltern Träger des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG.

Religion bzw. Weltanschauung meint die Überzeugungen des Menschen über den Ursprung der Welt und die Stellung des Menschen in ihr sowie den Ursprung des menschlichen Lebens.27

Religiöse Erziehung ist mithin zugleich Ausdruck des Elternrechts, wie auch der

21 So z.B. Ipsen, Staatsrecht II, § 7 Rn 348a; Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 155 Rn 32; Heilmann, Hilfe oder Eingriff, ZfJ 2000, S. 41 (43).

22 Kloepfer, VerfR II, § 67 I Rn 62; unter Bezugnahme auf Art. 2 I i.V.m. 1 I GG: Heilmann, Hilfe oder Eingriff, ZfJ 2000, S. 41 (43); Roell, Grundrechte für Minderjährige, S. 24, 51; a.A. Vgl. Roell, Grundrechte für Minderjährige, S. 23 m.w.N.; Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 155 Rn 56.

23 Happe, Kindeswohl, S. 26 m.w.N.; und auch nachwirkend zur Volljährigkeit BVerfGE 72, S. 155 (172-173).

24 Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 155 Rn 33; die Grenze findet sich erst im Vorleben rechtswidrigen Verhaltens bzw. in der Nichtvermittlung von Rechtstreue: Kloepfer, VerfR II, § 67 I Rn 60.

25 BT-DS 17/11295, S. 9.

26 v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 157 Rn 100. 27 Ipsen, Staatsrecht II, § 9 Rn 378.

(10)

Religion der Eltern im Rahmen ihres forum externum.28

Aus dem Recht freier Religionsausübung und der Trennung von Staat und Kirche folgt die Neutralitätspflicht des Staates, die eine wertende Definition des Glaubens untersagt.29 Der Schutzbereich der Religionsfreiheit sei vor seinem historischen Inhalt, unabhängig von Ursprung und christlichem Herkommen, extensiv auszulegen.30Umfasst ist damit jedenfalls das Recht, das eigene Kind zum Mitglied einer Kirche zu machen.31

Die Religionsfreiheit fordere dabei mehr als die bloße Toleranz der Glaubensausübung, sodass nicht nur imperative Glaubenssätze geschützt seien sondern auch glaubensbedingte Handlungen, die in einer konkreten Lebenssituation als beste bzw. adäquate Reaktion empfunden werden.32

Somit ist die Beschneidung des männlichen Kindes von Art. 4 Abs. 1 GG geschützt, wenn diese vom Glaubensträger als imperativer oder adäquatester Weg des Bekenntnisses zum jeweiligen Glauben erkannt wird.

Der Beschneidungsakt im Kindes- bzw. Säuglingsalter wird nach jüdischer und muslimischer Religion als zwingend33 für Aufnahme des Kindes in die jüdische bzw. muslimische Religionsgemeinschaft der Eltern erachtet.34 Der zwingende Charakter der Beschneidung für den Eintritt in das Judentum könnte insoweit in Frage gestellt werden, als ein von einer nicht jüdischen Mutter geborenes Kind auch nach der Zirkumzision nicht ohne weiteres als jüdisch anerkannt wird, diese also lediglich der Erleichterung einer Konversion des Kindes zum Judentum diene.35 Reflexiv wird ein

28 Kloepfer, VerfR II, § 60 II Rn 21; v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 157 Rn 48, 53, 74; Ipsen, Staatsrecht II, § 9 Rn 378; vgl. Raack/Döffing/Raack, Religiöse

Kindererziehung, S. 25.

29 v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 157 Rn 58; Raack/Döffing/Raack, Religiöse Kindererziehung, S. 25; Anforderung an das Merkmal

Glaubensgemeinschaft ist demzufolge lediglich ein „hinreichend geschlossenes Gedankengebäude über die Welt als Ganzes, ein Minimum an personellem Zusammenhalt und ein Mindestkonsens“ über verbindliche religiöse Verhaltensnormen: v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 157 Rn 58; Kloepfer, VerfR II, § 60 II Rn 17.

30 BVerfGE 24, S. 236 (246); v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 157 Rn 92, 93.

31 v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 157 Rn 101; vgl. BVerfGE 93, S. 1 (17).

32 BVerfGE 32, S. 98 (106).

33 Und damit dem Erfordernis der Konnexität durch plausibel darzulegenden imperativen

Glaubenssatz entsprechend: vgl. Walter in: Grote/Marauhn (Hrsg.), KK Kommentar EMRK/GG, Kap. 17 Rn 54-56; BT-DS 17/11295, S. 7; Kelek, Die verlorenen Söhne, S. 109-122.

34 Zum Judentum Raack/Döffing/Raack, Religiöse Kindererziehung, S. 36, 44; zum Islam Raack/Döffing/Raack, Religiöse Kindererziehung, S. 102 f., 105, 131 (vgl. Schari´a als teils geltende Rechtsordnung, bestehend aus Koran und Sunna; Beschneidungsakt nicht im Koran, jedoch in die Sunna aufgenommen).

(11)

Kind bereits als jüdisches Kind erachtet, wenn es von einer jüdischen Mutter geboren wurde.

Entsprechendes gilt im Islam: Hier wird die Zugehörigkeit des Kindes zur Religion durch die Abstammung vom islamischen Vater und das Einhauchen des Gebetsrufes „adhan“ und „iqama“ in die Ohren des Neugeborenen sowie alternativ durch Konversion begründet – die Beschneidung ist somit keine imperative Begründungsvoraussetzung.36

Dieser Einwand kommt jedoch nicht zum Tragen, wenn Eltern, die die Beschneidung des Kindes zur Gründung des „Bundes mit Gott“ bzw. Allah beabsichtigen, ihre individuelle Annahme der Verbindlichkeit des Beschneidungsgebots glaubhaft machen.37

Zugleich kann diesem Einwand entgegengehalten werden, dass die Beschneidung, auch wenn nicht einzige Voraussetzung zur Aufnahme in das Judentum, jedenfalls als zwingender Bestandteil gilt.38

Auch in der hanafitischen, malikitischen, hanbalitischen sowie schafiitisch orthodox-sunnitischen39 Rechtsschule des Islams beansprucht der Beschneidungsakt als unverzichtbarer Brauch zur Bestätigung der Aufnahme des Kindes in den Islam Verbindlichkeit.40

Die Beschneidung stellt damit in beiden Religionen einen Bestandteil der Bekenntnisfreiheit im Rahmen der Verwirklichung von Religion im praktischen Leben41 dar.

Ein Verbot der Beschneidung würde die Ausübung der Religionsfreiheit der Eltern mithin berühren.

c. Recht auf Persönlichkeitsentfaltung, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG

Die Erziehung und Prägung des eigenen Kindes ist zugleich Teil der Persönlichkeitsentfaltung der Eltern, s.o. Somit ist die individuell als richtig

36 Raack/Döffing/ Raack, Religiöse Kindererziehung, S. 102 f., 105, 131; Kelek, Die verlorenen Söhne, S. 137-139.

37 Spallek, Staatsrecht, S. 375; BVerfGE 32, S. 98 (106). 38 Vgl. Raack/Döffing/Raack, Religiöse Kindererziehung, S. 49.

39 Die Rechtsschule der orthodox-sunnitischen Schafi´iten bildet eine vermittelnde Bewegung zwischen konservativem (Malikiten, Hanbaliten) und liberalem (Hanafiten) Islam. Die Sunniten stellen dabei 90% der Muslime (10% Schiiten): Raack/ Döffing/Raack, Religiöse Kindererziehung, S. 100, 104.

40 Raack/Döffing/Raack, Religiöse Kindererziehung, S. 131; BT-DS 17/11295, S. 7, 12; BVerfGE 104, S. 337 (354).

(12)

angesehene Eingliederung des Kindes in eine Religionsgemeinschaft als Erziehungsmaßnahme Ausdruck der Persönlichkeit der Eltern.42 Das Verbot dieser Prägung des eigenen Kindes im Sinne der elterlichen Wertvorstellungen durch die Einwilligung in die Beschneidung berührt mithin das Recht der elterlichen Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.

d. Zwischenergebnis

Durch ein Verbot der Beschneidung des leiblichen oder adoptierten männlichen Kindes würden die verfassungsrechtlich geschützten Interessen der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG beschränkt.

2. Die verfassungsrechtlichen Interessen des Kindes

Im Folgenden ist das Interessenfeld des zu beschneidenden männlichen Kindes zu beleuchten.

a. Grundrechtsstatus des Kindes

Jede natürliche Person, mithin jeder lebend Geborene ist altersunabhängig vollwertiger Träger von Grundrechten.43 Jedes zu beschneidende Kind ist mithin Adressat aller verfassungsrechtlich geschützten Interessen.

b. Berührte Interessen des Kindes durch die Beschneidung

Zunächst sind die verfassungsrechtlich geschützten Interessen zu erörtern, die durch den irreversiblen medizinischen Eingriff der Beschneidung berührt werden.

42 Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 155 Rn 16; Münning, Rechte der Kinder, S. 236.

43 Ipsen, Staatsrecht II, § 2 Rn 61; Kloepfer, VerfR II, § 49 I Rn 2; § 49 III Rn 24; Stern in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. IX, § 185 Rn 120; für die Religionsfreiheit siehe v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 157 Rn 101; Müller-Terpitz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 147 Rn 10; Münning, Rechte der Kinder, S. 234.

(13)

aa. Recht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2, S. 1 GG

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit umfasst den Schutz vor jeglicher Beeinträchtigung der konkreten biologisch-physischen Substanz des Rechtsträgers und damit die Integrität des Körpers als vorgegebene Daseinsform des Menschen.44 Im Rahmen der Bestimmung der Schutzbereichseröffnung durch die Beschneidung werden einige Problemkreise zur Auslegung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG relevant, die die Fragen der Bagatellgrenze, der Sozialadäquanz medizinischer Eingriffe und des gefährlichen Werkzeugs in ärztlicher Hand betreffen.

Neben der physischen Beeinträchtigung ist durch das Erleben der Beschneidung zudem eine gegebenenfalls psychische Beeinträchtigung der Integrität des Kindes zu beachten.45

(1) Bagatellgrenze zur Berührung der körperlichen Integrität

Es wird unterschiedlich beurteilt, ob Einwirkungen unterhalb einer gewissen Erheblichkeitsschwelle46 das Interesse der körperlichen Unversehrtheit unberührt lassen.

Einer Ansicht nach ist die Begrenzung des Integritätsschutzes unterhalb einer Bagatellgrenze aufgrund der unzureichenden Bestimmbarkeit einer solchen Schwelle abzulehnen.47 Solch wertende Gesichtspunkte seien hiernach nicht geeignet, den grundrechtlichen Schutz zu begrenzen, sondern seien vielmehr auf der Ebene der Rechtfertigung im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen.48

Anderer Ansicht nach könne unterhalb einer bestimmten Erheblichkeit der Einwirkung auf den Körper keine Grundrechtsrelevanz angenommen werden.49 Hiervon seien Einwirkungen, wie etwa das Passivrauchen oder andere geringfügige Belästigungen wie das Abschneiden der Haare, Hirnstrommessungen oder bloße Erholungsbeschränkungen erfasst.50

44 Müller-Terpitz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 147 Rn 41.

45 Zum Traumatisierungspotenzial der Beschneidung: Goldman, The psychological impact od circumcision, BJU INTERNATIONAL 1999, Vol. 83, Suppl. 1, S. 83 (83f.); Cansever, Psychological effects of circumcision, BJMP 1965, Vol. 38, S. 321 (322ff.).

46 Vgl. Herzberg, Rechtliche Probleme der rituellen Beschneidung, JZ 2009, S. 332 (332). 47 Müller-Terpitz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 147 Rn 43.

48 Müller-Terpitz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 147 Rn 43; Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), GG Kommentar Art. 2 II Rn 31; Murswiek in: Sachs (Hrsg.), GG Kommentar Art. 2 Rn 163.

49 Vgl. Murswiek in: Sachs (Hrsg.), GG Kommentar Art. 2 Rn 156.

(14)

Im Fall der Beschneidung ist eine Intensität der Einwirkung durch Resektion eines Bestandteils des männlichen Genitals festzustellen, die jedenfalls über die Bagatellfallgruppen der letztgenannten Ansicht hinausgeht. Die im Regelfall durchgeführte Narkotisierung birgt zudem ein relevantes Komplikationsrisiko51, welches gleichfalls oberhalb des Bagatellbereichs liegt. Somit kommt die Diskussion um die Schutzbereichsbegrenzung unterhalb einer Bagatellschwelle nicht zum Tragen.52 Beiden Ansichten zufolge liegt eine Berührung der körperlichen Integrität durch die Beschneidung vor.

(2) Ärztliche Maßnahmen als Berührung körperlicher Integrität

Ebenfalls wird unterschiedlich beurteilt, ob ärztliche Maßnahmen überhaupt eine beeinträchtigende Einwirkung in die körperliche Integrität darstellen können.

Einer Ansicht nach fehle es dem ärztlichen Eingriff schon aufgrund der fehlenden Schadensintention und der Einwilligung des Patienten am Charakteristikum der „üblen unangemessenen Behandlung“, solange die Umsetzung der Maßnahme lege artis erfolge.53

Anderer Auffassung nach schütze Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor jeglicher Substanzverletzung ohne Beachtung des Zwecks der Einwirkung.54 Hiernach berührt jede substanzentziehende Maßnahme die körperliche Integrität.

Auch dieser Streit kann dahinstehen, wenn es der Beschneidung aus rituellen Motiven an der Natur des Heileingriffs fehlt, eine medizinische Indikation also abgelehnt werden kann.55

Die Frage der medizinischen Indikation einer rituellen Beschneidung wird indes unterschiedlich beurteilt. Teils wird die Indikation regelhafter oder prophylaktischer Beschneidung abseits der Feststellung von pathologischen Regelwidrigkeiten abgelehnt.56 Teils wird jedoch auch von einem Gesundheitsgewinn mittels Resektion

Murswiek in: Sachs (Hrsg.), GG Kommentar Art. 2 Rn 156.

51 Vgl. List/Osswald, Komplikationen in der Anästhesie, DÄBl. 1997, 94 (11), A 634 m.w.N. 52 So auch Putzke, Beschneidung von Knaben, FS Herzberg, S. 669 (675).

53 Auf die Einwilligung abstellend: Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 2 II Rn 45; vgl. Putzke, Beschneidung von Knaben, FS Herzberg, S. 669 (673).

54 BVerfGE 89, S. 120 (130); Kloepfer, VerfR II § 57 III Rn 44; Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 2 II Rn 30, 32.

55 Vgl. BGH NJW 1978, S. 1206.

56 Wenn weder Phimose, Balanoposthitis, Dermatitis ammoniacalis noch Paraphimose diagnostiziert werden (Pschyrembel, Phimose, S. 1487): Putzke, Beschneidung von Knaben, FS Herzberg, S. 669 (675).

(15)

des Präputiums durch Verringerung von Infektionsrisiken sowie Verringerung des Risikos der Erkrankung an einem Peniskarzinom ausgegangen.57

Für die Annahme einer Indikation sprechen aktuelle Erkenntnisse aus Studien, die die Senkung des Infektionsrisikos durch das HI-Virus nach Beschneidung belegen.58 Diese Studien beziehen sich jedoch auf Zirkumzision im Erwachsenenalter, beschränken sich auf das HIV-Risiko im Süden Afrikas und sind in ihrer Aussagekraft aufgrund teils angenommener methodischer Mängel umstritten.59 Eine Ableitung medizinischer Indikation im Sinne einer zweckmäßigen Prophylaxe im Kindes- oder Säuglingsalter kann für den Gesundheitsstatus in Deutschland bzw. Europa hieraus nicht abgeleitet werden.60 Mangels anderweitiger evidenzbasierter Erkenntnisse ist eine medizinische Indikation regulärer Beschneidung somit abzulehnen. Folglich fehlt es der Vornahme einer Beschneidung am Charakter des Heileingriffs, da hierdurch weder ein Krankheitsverlauf geheilt, gelindert oder verhindert wird. Somit kommen beide oben erläuterten Ansichten zum gleichen Ergebnis.

Die körperliche Integrität des zu beschneidenden Kindes wird hiernach berührt.61

(3) Gefährliches Werkzeug i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr.2 StGB

Für die spätere Gewichtung des Interesses an körperlicher Unversehrtheit ist von Relevanz, mit welcher Intensität das Interesse durch die Beschneidung begrenzt wird.

Insoweit ist zu erörtern, ob der Einsatz des Beschneidungsbestecks die Körperverletzung i.S.d. § 223 StGB durch Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB qualifiziert.

Bei der Betrachtung der Gefährlichkeit ist dabei nach dem Wortlaut der Norm auf den

57 Pschyrembel, Zirkumzision, S. 2106; BT-DS 17/11295, S. 7, 8; Wellington/Rieder, Newborn Circumcision, PEDIATRICS 1993, Vol. 92, S. 541 (541, 542).

58 Auvert et al., Randomized, Controlled Intervention Trial of Male Circumcision for Reduction of HIV Infection Risk: The ANRS 1265 Trial; Bailey et al., Male circumcision for HIV prevention in young men in Kisumu, Kenya: a randomised controlled trial; Gray et al., Male circumcision for HIV prevention in men in Rakai, Uganda: a randomised trial.

59 Exemplarisch Stücker, Beschneidung gegen HIV: Des Kaisers neues Kondom,

http://evidentist.wordpress.com/2012/07/19/beschneidung-gegen-hiv-des-kaisers-neues-kondom/. 60 BT-DS 17/11295, S. 8; es wird u.a. die Auffassung vertreten, dass die Vorhaut selbst ebenso der

Infektionsprophylaxe diene: BT-DS 17/11430, S. 6; vgl. Rixen, Das Gesetz über den Umfang der Personensorge, NJW 2013, S. 257 (260).

61 Vgl. Fischer, StGB, § 223 Rn 6c; Auf die Streitfrage, ob auch medizinisch nicht indizierte ärztliche Eingriffe mangels sozialer Inadäquanz nicht den Tatbestand des § 223 StGB erfüllen, soll in diesem Rahmen verzichtet werden. Siehe hierzu die Ausführungen von Putzke, Beschneidung von

(16)

bestimmungsgemäßen Gebrauch des Werkzeugs abzustellen.62

Einer Ansicht nach ist Operationsbesteck in den Händen eines Arztes nicht als gefährlich i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB anzusehen.63

Anderer Ansicht nach ist auf die objektive Gefährlichkeit des Gegenstands im Sinne des Verletzungspotenzials bei Gebrauch durch seine Beschaffenheit abzustellen.64 Gegen die erste Ansicht spricht, dass streng genommen die Beschneidung durch Mohel und Sünnetci dann mangels Ärztlichkeit als gefährliche Körperverletzung eingestuft werden müsste, der Eingriff durch den Arzt hingegen nicht, obwohl das objektive Verletzungspotenzial identisch wäre.65 Diesem Argument ist entgegenzuhalten, dass es bei der Differenzierung nach dem Verwender auf die Fähigkeit und den Willen ankommt, das Werkzeug gerade nicht in schädigender Weise einzusetzen. Wesentlich hierbei ist also nicht der fehlende Heilberuf, sondern vielmehr das „nicht schaden wollen“, das bei der Beschneidung durch Arzt wie auch durch Mohel und Sünnetci, auch ohne medizinische Indikation angenommen werden kann.66 Insoweit wären Mohel und Sünnetci, die zur Beschneidung derart ausgebildet sind, dass ihr Vorgehen dem Handeln durch einen Arzt lege artis entspricht, nach Sinn und Zweck ebenfalls unter diese Fallgruppe zu fassen.

Zweck des § 224 Abs. 1 Nr. 2 ist es, die Gefährlichkeit gleich einer Waffe zur erhöhten Strafbarkeit zu führen, was beim Eingriff im medizinischen Behandlungszusammenhang in Abgrenzung zur Verwendung des Skalpells als Angriffsmittel oder zur Abwehr gerade nicht angenommen werden könne.67

Mithin ist eine Qualifikation des § 223 StGB durch die Verwendung des Operationsbestecks durch Arzt, Mohel oder Sünnetci nicht anzunehmen.

(4) Psychische Beeinträchtigung der kindlichen Integrität

Neben der physischen Einwirkung könnte auch eine psychische Beeinträchtigung durch das Erleben der Beschneidung relevant werden.68 Das psychische

62 Putzke, Beschneidung von Knaben, FS Herzberg, S. 669 (681). 63 BGH NJW 1978, S. 1206; vgl. Fischer, StGB, § 224 Rn 9b. 64 Putzke, Beschneidung von Knaben, FS Herzberg, S. 669 (682). 65 Putzke, Beschneidung von Knaben, FS Herzberg, S. 669 (682).

66 Anders Putzke, Beschneidung von Knaben , FS Herzberg, S. 669 (682).

67 BGH NJW 2012, S. 1206; LG NJW 2012, S. 2128; Wessels/Hettinger, StR BT Teil 1, § 5 Rn 275; Rengier, StR BT Teil II, § 14 Rn 35; a.A. Jerouschek, Beschneidung und das deutsche Recht, NStZ 2008, S. 313 (317).

68 Jerouschek, Beschneidung und das deutsche Recht, NstZ 2008, S. 313 (316); Goldman, The psychological impact of circumcision, BJU INTERNATIONAL 1999, Vol. 83, Suppl. 1, S. 83 (83f.); Cansever, Psychological effects of circumcision, BJMP 1965, Vol. 38, S. 321 (322ff.).

(17)

Wohlbefinden des zu beschneidenden Kindes ist jedoch nur insoweit vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG umfasst, als somatische Rückwirkungen69 die Folge der Beschneidung wären. Falls im Einzelfall belegt,70 stellten somatische Störungen der Psyche des Kindes infolge der Beschneidung damit ebenfalls eine Beeinträchtigung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dar.

(5) Zwischenergebnis

Die Entfernung des Präputiums sowie die Narkotisierung bzw. örtliche Betäubung als Zuführung eines Stoffes in den Körper berühren den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.71

bb. Negative Religionsfreiheit, Art. 4 Abs. 1 GG

Die Religionsfreiheit umfasst auch das Recht auf Nichtglauben inkludierend den Schutz vor erzwungener Teilnahme an einer religiösen Übung bzw. erzwungener Abgabe eines religiösen Bekenntnisses.72 Jedes Kind ist somit auch Träger des Rechts, sich nicht zu einem Glauben zu bekennen.73

Dieses Interesse wird durch den physisch irreversiblen Bekenntnisakt zum jüdischen bzw. muslimischen Glauben ohne Zustimmung des Kindes berührt.

cc. Recht auf religiöse Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Gewährleistungsgut autonomer Selbstentfaltung und Abschirmung eines privaten Bereichs74 schützt unter anderem das Recht, sich selbst zu bestimmen75, d.h. unter Einflussnahme auf die Prägung der

69 Ipsen, Staatsrecht II, § 5 Rn 257; Müller-Terpitz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 147 Rn 44; BVerfGE 52, S. 214 (220f.); Murswiek in: Sachs (Hrsg.), GG Kommentar Art. 2 Rn 150; Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 II GG, AöR 106 (1981), S. 205 (209,210). 70 Evidenzbasierte Erkenntnisse zu einer generalisierbaren Traumatisierungsgefahr ergeben sich

derzeit nicht: BT-DS 17/11295, S. 9.

71 Müller-Terpitz in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 147 Rn 42; vgl. Putzke, Religiöse Beschneidung, NJW 2008, S. 1568 (1569); vgl. BT-DS 17/11295, S. 8.

72 Ipsen, StR II, § 9 Rn 381; siehe Art. 140 GG i.V.m. Art 136 WRV: v. Campen-hausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 157 Rn 42, 64.

73 Vgl. Kloepfer, StR II § 60 II Rn 22.

74 Dreier in: ders. (Hrsg.), GG Kommentar, Art. 2 I Rn 50.

(18)

eigenen Person eine Identität zu bilden76.

Hieraus kann abgeleitet werden, dass jedes Kind ein geschütztes Interesses an freier weltanschaulicher Prägung hat, welche einen Teil der Entfaltung als sozial bezogene Persönlichkeit darstellt. Insofern wird das Interesse der autonomen Zu- oder Abwendung vom Islam bzw. Judentum durch die Vornahme der Beschneidung ohne Zustimmung des Kindes berührt.

c. Berührte Interessen des Kindes durch ein Beschneidungsverbot

Neben den durch eine Beschneidung berührten Integritätsinteressen des Kindes sind auch solche Interessen verfassungsrechtlich zu würdigen, die das Kind an der Vornahme einer Beschneidung hat. Insoweit ist hier unter der Perspektivierung der Subjektivität des Kindes als Rechtsträger zu untersuchen, welche eigenen autonomen Interessen eines Kindes jüdischer oder islamischer Abstammung durch ein Beschneidungsverbot berührt würden.

aa. Recht auf freie Ausübung der Religion, Art. 4 Abs. 1 GG

Ein Beschneidungsverbot könnte das Recht auf freie Religionsausübung des Kindes, vertreten durch die Eltern77, berühren. Die Religionsfreiheit umfasst auch die Freiheit des Beitritts zu einer Glaubensgemeinschaft vor Eintritt der sog. Religionsmündigkeit.78 Somit stellt die Beschneidung einen Bestandteil praktischer Verwirklichung des kindlichen Glaubensinteresses dar.79 Ein Verbot würde das forum externum des Religionsrechts des Kindes mithin berühren.

bb. Recht auf Person-Werden des Kindes, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG

Das Recht auf Erziehung seitens des Kindes nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1GG umfasst neben dem Schutz des Person-Seins und dem Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit auch das Recht auf Person-Werden des Kindes mit Hilfe der

76 Vgl. Dreier in: ders. (Hrsg.), GG Kommentar, Art. 2 I Rn 54. 77 Ipsen, StR II, § 9 Rn 378.

78 v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR Bd. VII, § 157 Rn 62. 79 Vgl. Kelek, Die verlorenen Söhne, S. 129 f.

(19)

Erziehungspersonen.80 Dieses Interesse untermauert die Bedeutung der Familie als identitätsstiftende Institution im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung. Die rituelle Beschneidung männlicher Kinder ist im Kulturkreis des Judentums und Islam, soweit sie nicht schon mit einer religiösen Pflicht begründet wird, als Teil langer Tradition der Kulturkreise anzuerkennen. Als kleinste Einheit eines Kulturkreises bildet der Familienverband die Keimzelle kultureller Identifikation von Heranwachsenden.81 Kulturelle Prägung in Anlehnung an Familien- und Herkunftstraditionen ist mithin als Bestandteil des Person-Werdens verfassungsrechtlich geschützt. Neben dem Schutz vor dem invasiven Einfluss der Eltern, ist mithin das Interesse des Kindes an einer elterlichen Prägung, die ihm die Identifikation mit dem kulturellen Umfeld und der Familie ermöglicht, zu beachten.

Das Recht auf kulturelle bzw. religiöse Identitätsentwicklung (mit Hilfe der Eltern) würde somit durch ein Verbot der Beschneidung berührt.

d. Zwischenergebnis

Die verfassungsrechtliche Zuordnung der von Beschneidung und Beschneidungsverbot berührten Interessen spiegelt die Komplexität der Interessenkollision wieder.

Unter genauerer Betrachtung der Rechtsträger wird klar, dass nicht nur durch die Vornahme der Beschneidung sondern auch durch ein Verbot der Beschneidung die Kindesinteressen berührt würden. Der Interessenkonflikt geht damit über die bloße Gegenüberstellung von Eltern (pro Beschneidung) und Kind (contra Beschneidung) hinaus. Gleichzeitig wird deutlich, welche perspektivische Methodik des Interessenausgleichs verfassungsrechtlich möglich ist:

Zum einen kann das Elternrecht zentralisiert betrachtet werden, dem das objektive Kindeswohl als Korrektiv gegenüberzustellen ist. Dies hat zur Konsequenz, dass die Kindesinteressen auf Schutzinteressen gegen den elterlichen Einfluss beschränkt würden.

Anders herum könnten die subjektiven und objektiven Interessen des Kindes zentralisiert werden, die dem Korrektiv des Erziehungsrechts zu unterziehen wären. Auf diese Weise werden die Interessen des Kindes an und gegen eine Beschneidung umfassender eruiert.

80 Wiesner in: ders. (Hrsg.), SGB VIII, § 1 Rn 3; Dietzen, Menschwerdungsgrundrecht, NJW 1989, S. 2519.

(20)

Die erste Betrachtungsmethode ließe sich in Hinblick auf die Perspektivierung des Kindes als objektiver Ansatz bezeichnen, die zweitgenannte Methode entspräche folglich einem subjektiven Ansatz.

Unter Sichtung der fachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Beschneidung ist festzustellen, dass der objektive Ansatz allgegenwärtig ist. Obwohl nach dem relevanten Lebenssachverhalt das zu beschneidende Kind im Zentrum des Geschehens steht, wird der Schutzbereich des Erziehungsrechts fokussiert und erst im zweiten Schritt durch das objektive Kindeswohl begrenzt. Insoweit folgt der öffentlich geführte Diskurs in seiner juristisch methodischen Dimension zunächst der Perspektivierung des Kindes (nur) als Träger objektiver Schutzbedürftigkeit.

II. Debatte: Gewichtung der betroffenen Interessen

In der Debatte um die Beschneidung geht es im Kern um die Frage, wie die Interessen der Eltern sowie des Kindes an der Aufnahme in die Religionsgemeinschaft bzw. kulturellen Gesellschaft überhaupt und das elterliche Interesse an der religiösen Prägung mit den Interessen des Kindes, sich mit oder ohne Eingriffe in seine Integrität entfalten zu können, in Ausgleich zu bringen sind.82 Hieran anknüpfend soll im Folgenden herausgearbeitet werden, welche Perspektiven aus verschiedenen Rechtsquellen zum Rechtsträger Kind eingenommen werden, wie stark das Elternrecht den Kindern „gegenübersteht“ und welches Maß an rechtlicher Autonomie der Kinder soziologisch und entwicklungstheoretisch angenommen wird. Schließlich ist zu erarbeiten, wie sich die gewonnenen Erkenntnisse im Rechtsverständnis der Gesellschaft niederschlagen.

1. Betrachtung von Kinderrechten

Traditionell werden Kinder als Rechtsträger unter dem Blickwinkel der Schutzbedürftigkeit betrachtet.83 Diese Betrachtung fokussiert Kinderrechte

82 Zum Begriff: Schultze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Art. 2 II Rn 35.

83 Vgl. Wiesner in: ders. (Hrsg.), SGB VIII, § 8 Rn 10; Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (19); BVerfGE 24, S. 119 (144); Andresen/Hurrelmann in: World Vision

(21)

gleichsam einseitig hinsichtlich ihrer objektiven Schutzfunktion84, indem die Rechte über Pflichten von Eltern und Erwachsenen allgemein definiert werden.85 Diese paternalistische Sichtweise steht dem Autonomieprinzip als Prinzip der Selbstbestimmung des mündigen Menschen und der Freiheit von Fremdbestimmung86 gegenüber. Eine Fremdbestimmung ist hiernach nur unter der Prämisse der Unmündigkeit des Kindes zu rechtfertigen.

Im Folgenden sollen die verschiedenen Blickwinkel, der in den deutschen Rechtsraum hineinwirkenden Rechtsquellen und deren immanente Entwicklung bis heute nachgezeichnet werden.

Zu erörtern ist hiernach, ob, inwieweit und in welchen Rechtsquellen das Kind als rechtlich „mündiger Bürger“ angesehen wird.

a. Europäisches Unionsrecht

Seit den 1960er Jahren wachsen die Bestrebungen, Kinder als aktive, fordernde Rechtsträger in den Fokus zu rücken, was in der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention einen expliziten Niederschlag fand.87 Der Erkenntnis gemäß, dass Armut und Ausbeutung von Kindern in einem Wechselwirkungsverhältnis stehen, wurden die Bestrebungen der EU zur Betrachtung des Kindes als autonomen Rechtsträger, insbesondere nach Verabschiedung der KRK, entsprechend immer intensiver.88

Mit dem Vertrag von Lissabon vom 1.12.2009 erhielten die Kinderrechte erstmals Einzug in den Zielkatalog der EU, namentlich der Förderung des Schutzes der Kinderrechte innerhalb und außerhalb der EU nach Art. 3 Abs. 3 UA 2, Abs. 5 EUV.89 Zudem erlangte die Garantie der Kinderrechte aus der Grundrechtecharta nach Art. 24 und 32 GRC durch die Überführung in Art. 6 EUV Rechtsverbindlichkeit.90 Daneben steht der Schutz vor Altersdiskriminierung nach Art. 21 GRC, der auch

84 Siehe BVerfGE 39, 1 (36 ff.).

85 Vgl. Wiesner in: ders. (Hrsg.), SGB VIII, § 1 Rn 324; BVerfGE 24, S. 119 (144); vgl. Jestaedt in: Münder/Wiesner/Meysen (Hrsg.), Hdb. Kinder- und Jugendhilferecht, Kap. 1.5 Rn 13, 14. 86 Siehe Hufen, StR II, § 1 Rn 12.

87 Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (24ff.); vgl. Bestrebungen in Großbritannien und Frankreich: Simitis, Kindeswohl, S. 95, 96.

88 Zum Verlauf siehe Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (24ff., 35). 89 Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (19); v. Boetticher in:

Münder/Wiesner/Meysen (Hrsg.), Hdb. Kinder- und Jugendhilferecht, Kap. 1.6 Rn 9. 90 Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (19).

(22)

Kinder vor der unrechtmäßigen Beschränkung ihrer Handlungsfreiheiten schützt.91 Die Beachtlichkeit der Meinung des Kindes in den das Kind betreffenden Angelegenheiten wird in Art. 24 Abs. 1 GRC übernommen, nachdem der Rat der Europäischen Union schon 2008 die notwendige Betrachtung des Kindes als konstruktiven Akteur bekräftigt hatte.92

Die systematische Verortung dieser Kinderrechte im Kontext der Gleichheitsrechte soll dabei die Betrachtung des Kindes als mit dem Erwachsenen gleichzustellendes Rechtssubjekt verdeutlichen.93

Der Begriff „Kind“ wird dabei in Angleichung an die KRK mit der Lebensphase zwischen Geburt und dem 18. Lebensjahr gleichgesetzt.94

Somit ist festzustellen, dass aus dem Unionsrecht eine Perspektivierung des Kindes als autonomer Akteur primärrechtlich angelegt ist. Der europapolitische Weg weist insoweit auf eine methodische Subjektivierung des Kindes als Rechtsträger hin.

b. Verfassungsrecht

Im Folgenden sollen die verfassungsrechtlichen Wertungen zum Kind als Rechtsträger anhand des Menschenbildes des Grundgesetzes und seiner Mündigkeitsdogmatik untersucht werden.

aa. Verfassungsrechtlich gesetztes Menschenbild

Leitmotiv des verfassungsrechtlich gesetzten Menschenbildes ist das Prinzip und die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG.95

Der Bürger im verfassungsrechtlichen Staat wird als individuelle, selbstbestimmte, eigenverantwortliche und soziale, das heißt gemeinschaftsbezogene, Person begriffen.96 Zur Würde des Menschen gehört demnach nicht nur das Recht sich

91 Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (29). 92 Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (30, 31). 93 Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (31). 94 Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (30).

95 Vgl. Münning, Rechte der Kinder, S. 233, 234; Jestaedt in: Münder/Wiesner/ Meysen (Hrsg.), Hdb. Kinder- und Jugendhilferecht, Kap.1.5 Rn 7.

96 Jestaedt in: Münder/Wiesner/Meysen (Hrsg.), Hdb. Kinder- und Jugendhilferecht, Kap 1.5 Rn 7; Stern in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR Bd. IX, § 184 Rn 8.

(23)

selbst zu bestimmen sondern auch seine Umwelt zu gestalten.97 Das Grundgesetz blickt auf den Bürger mithin als Individuum und Träger von Würde und Menschenrechten kraft Selbstzweck sowie als teilhabender Akteur an der Gemeinschaft98, ohne dabei eine Altersschwelle zur Rechtswahrnehmung vorzugeben oder zwischen Kind und Erwachsenem zu differenzieren.

Hiernach stehen die Interessen eines zu beschneidenden Kindes innerhalb seiner sozialen Einbindung in den Familien- und Kulturkreis im Spannungsfeld zum individuellen, unantastbaren Schutzradius, der jedes Kind kraft seines Menschseins umgibt. Eine Unterordnung der Kindesinteressen unter die Elterninteressen ist dem Menschenbild des Grundgesetz dabei grundsätzlich fremd.

bb. Die Dogmatik des Kindes als Träger von Grundrechten

Das Grundgesetz kennt, mit Ausnahme des Art. 6 Abs. 5 GG, expressis verbis keine „Kindergrundrechte“ oder Altersschwellen.99

Insoweit begegnen sich Eltern und Kinder als gleichwertige Grundrechtsträger mit gleichwertigen Schutzinteressen.

Die Frage der Wahrnehmung und Einforderung von Grundrechten als aktiver minderjähriger Rechtsträger wird unter dem Topos der Grundrechtsmündigkeit diskutiert.100 Mit Annahme der Grundrechtsmündigkeit werden die elterlichen Erziehungsbefugnisse, welche die Ausübung der Grundrechte des Kindes nicht beschränken, aber gleichwohl traditionell überlagern, zurückgedrängt.101

Wie der Begriff der Grundrechtsmündigkeit zu definieren ist, wird unterschiedlich beurteilt:

Einer Ansicht nach umfasst Grundrechtsmündigkeit die Fähigkeit, selbst und eigenverantwortlich von seinen Grundrechten Gebrauch zu machen.102 Maßgebend hierfür sei die Einsichtsfähigkeit über die Inhalte ausgeübter Rechte sowie ihre

97 Stern in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. IX, § 184 Rn 8. 98 Vgl. Menschenbild vom „zoon politicon“ bei Aristoteles, Politik, S. 76-79.

99 Münning, Rechte der Kinder, S. 233, 234; Andresen/Hurrelmann in: World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.), Kinder in Dtl. 2007, S. 364.

100 Münning, Rechte der Kinder, S. 234; „.., den das Grundgesetz allerdings weder begrifflich noch funktional kennt“: Kloepfer, VerfR II, § 49 III Rn 24; so auch Marauhn/Melnjik in: Grote/Marauhn (Hrsg.), KK EMRK/GG Kap. 16 Rn 66; Roell, Grundrechte für Minderjährige, S. 16; vgl. Steindorff-Classen, Subjektives Recht des Kindes, S. 14.

101 Kloepfer, VerfR II, § 49 III Rn 29, § 60 II 42; v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII, § 157 Rn 102.

102 Stern in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. IX, § 185 Rn 120; Kloepfer, VerfR II, § 49 III Rn 24; Roell, Grundrechte für Minderjährige, S. 14, 31; Spallek, Staatsrecht, S. 333.

(24)

Bedeutung und Grenzen.103

Anderer Ansicht nach bezeichnet die Grundrechtsmündigkeit das Recht, Grundrechte selbstständig ausüben zu dürfen.104

Grammatikalisch wird der Begriff der Mündigkeit in der Rechtsordnung teils anknüpfend an geistige Fähigkeiten (siehe Vormundschaft, §§ 1626, 1629 BGB), teils anknüpfend an die Fähigkeit des Innehabens eines Rechts definiert.105 Der Wortlaut ist insoweit uneindeutig.

Für das erstgenannte Begriffsverständnis spricht der Schutzzweck des Mündigkeitserfordernisses, welcher auf das eigenständige Erfassen von Rechtsverhältnissen und ein Bewusstsein für Rechtsgrenzen abstellt.

Ohne Beachtung der Fähigkeit des Kindes, das Selbstverständnis seines Handelns im Rahmen der Rechtsordnung rational zuzuordnen und sich eine eigene Einschätzung zu entwickeln106, würde die Geltungskraft der Grundrechte des Kindes durch den regulären Vorrang der elterlichen Entscheidungen im Konfliktfall erheblich beschränkt.

Systematisch wird die Zuordnung subjektiv-rechtlicher Autonomie des Kindes von den Eltern je nach funktionellem Anknüpfungspunkt und je nach Grundrecht unterschiedlich zugeordnet.

So wird etwa von einem verbindlichen Veto des Kindes gegen die Erziehung zu einem anderen Bekenntnis i.R.d. Art. 4 Abs. 1 GG ab 12 Jahren und einer Religionsmündigkeit ab 14 Jahren ausgegangen, § 5 RelErzG.107 Hinsichtlich der Meinungsfreiheit wird teils ebenfalls auf das 14. Lebensjahr, teils auf die konkret geistig-psychischen Fähigkeiten abgestellt.108 Die Prozessfähigkeit vor dem BVerfG knüpft im Gegensatz zum Zivil- und Verwaltungsprozess (hier wird Volljährigkeit gefordert) entsprechend an die Grundrechtsmündigkeit an109, die im Umkehrschluss auch unter 18 Jahren angenommen werden kann.

Somit ist festzustellen, dass mit Ausnahme der Ausübung der Meinungsfreiheit, eine

103 Münning, Rechte der Kinder, S. 234.

104 Vgl. Rüfner in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR ,Bd. IX, § 196 Rn 9; Kammerloher-Lis, RKEG, S. 213.

105 Rüfner in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. IX, § 196 Rn 9.

106 Vgl. Münning, Rechte der Kinder, S. 234; vgl. den Fall der Beiträge in Schülerzeitungen und Kunstbeiträgen.

107 v. Campenhausen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR ,Bd. VII, § 157 Rn 102; Kloepfer, VerfR II, § 49 III Rn 28; Rüfner in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. IX, § 196 Rn 22.

108 Kloepfer, VerfR II, § 49 III Rn 28; vgl. Beispiel Schülerzeitung.

109 Vgl. Rüfner in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. IX, § 196 Rn 26; Kloepfer, VerfR II, § 49 III Rn 33.

(25)

Grundrechtsmündigkeit unter 14 Jahren nicht angenommen wird und selbige zwischen 14 und 18 Jahren mehr oder weniger streitbar ist.

Für Kinder, die zur Aufnahme in die muslimische (Beschneidung zwischen erster Lebenswoche und Pubertät110) oder jüdische (Beschneidung am 8. Tag nach der Geburt111) Gemeinde beschnitten werden, wäre also festzustellen, dass sie nach dieser Lesart des Grundgesetzes in aller Regel nicht als aktive Rechtsträger mit subjektiven Interessen, die im Zweifel Vorrang vor dem Elternrecht hätten, angesehen würden. Dies ist im Falle der Säuglingsbeschneidung mangels Kommunikationsfähigkeit des Kindes klar nachzuvollziehen.

Für die Betrachtung der Kindesbeschneidung ab dem Kleinkindalter ist dieser Ansatz jedoch auf der Ebene seiner Interessengerechtheit zu hinterfragen:

Bei der Bestimmung der Grundrechtsmündigkeit ist bedeutsam, dass ein Mensch eher zu einem rationalen und abstrakten Denken fähig wird, je eher er Eigenverantwortung erfährt - der Reifegrad eines Kindes hängt damit maßgeblich von den Lebensumständen und dem Erziehungsstil der Personensorgeberechtigten ab112, weniger aber vom Erreichen eines bestimmten Alters.

Um der Selbstbestimmtheit jedes Menschen gemäß dem Grundgesetz gerecht zu werden, ist demnach die individuelle Betrachtung des Rechtsträgers einer pauschalen Zuordnung zu einer Altersgruppe als mildere Rechtswahrnehmungsbeschränkung vorzuziehen.

Zudem ist festzustellen, dass das Erfordernis der Grundrechtsmündigkeit sich an keiner Stelle des Grundgesetzes explizit ableiten lässt113, mithin eine wertende Vorgabe zu Altersschwellen gerade fehlt.

Historisch betrachtet zeigt sich, dass die Vorzugswürdigkeit der Annahme der Religionsmündigkeit nach jeweiligem Reifegrad bzw. jeweiliger Einsichtsfähigkeit schon bei Entstehung des RKEG 1921 anerkannt wurde, jedoch aufgrund der prognostizierten Probleme der individuellen Zuordnung in der Praxis nicht ins Gesetz

110 Harrer-Haag, Beschneidung, DÄBl. 2008, 105 (44), A 2328; Raack/Döffing/Raack, Religiöse Kindererziehung, S. 131.

111 Tora/ AT, Buch Genesis 17, 12.

112 Siehe dazu die Zusammenhänge des Erziehungsstils und der Kindespersönlichkeit:

Darpe/Schneewind in: Schneewind/Lukesch (Hrsg.), Familiäre Sozialisation, S. 149, 150, 155 ff.; Schneewind/Pfeiffer in: Schneewind/Lukesch (Hrsg.), Familiäre Sozialisation, S. 190, 198; vgl. Roell, Grundrechte für Minderjährige, S. 21.

113 Spallek, Staatsrecht, S. 333; anderer Ansicht nach ergebe sich die Notwendigkeit einer Altersgrenze aus der Natur der Sache: vgl. Roell, Grundrechte für Minderjährige, S. 27 m.w.N.

(26)

aufgenommen wurde.114 Um diese Frage zu vermeiden, sind 1921 pauschale Altersgrenzen, wie etwa der Beginn des Kommunionsunterrichts (12. Lebensjahr115), das Ende der Schulpflicht (14. Lebensjahr116), die Ehe- und Eidesmündigkeit (16. Lebensjahr) oder der Eintritt in die Hochschule/Gesellenprüfung (18. Lebensjahr) vorgebracht worden, wogegen widerum eingewendet wurde, dass in jeder dieser Alterssparten der individuelle Reifegrad eine Religionsmündigkeit auch ausschließen könne.117 Dieser Hintergrund bezeugt ein reines Rechtsanwendungsproblem, welches heute noch Aktualität hat, namentlich der Frage, wer die individuelle Rechtswahrnehmungsfähigkeit des Kindes im Einzelfall zu beurteilen hat. Die historische Betrachtung zeigt also, dass die Etablierung von pauschalen Altersschwellen nicht aus Gründen verfassungsrechtlicher Vorzugswürdigkeit initiiert wurde - sie dient vielmehr lediglich der Verfahrenserleichterung.

Für eine Altersschwelle streitet das Risiko der Überforderung des Minderjährigen und die Gefahr der Manipulation des Kindes durch Dritte bei der Rechtswahrnehmung.118 Hiergegen ist jedoch vorzubringen, dass der Gedanke der Altersbegrenzung traditionell vielmehr an der Sicherung des Elternrechts ausgerichtet war und ist, die Altersschwellen also nur nachrangig unter dem Blickwinkel des Kindeswohls bestimmt wurden.119

Für eine weite Raumgebung hinsichtlich der autonomen Rechtswahrnehmung durch Kinder spricht schon die Diskussion selbst, gibt es doch verschiedene Anknüpfungspunkte in der Rechtsordnung und Rechtsprechung, die von unterschiedlichen Altersgrenzen ausgehen, ohne dass dahinter ein entwicklungstheoretisch rationales Argument stünde. Keine der Altersgrenzen ist

114 Damals unter dem Begriff „Unterscheidungsalter“ diskutiert: Kammerloher-Lis, RKEG, S. 61. 115 Nach teilweise vertretener Ansicht spreche im Rahmen der Beschneidung auch für die Wahl des

12. Lebensjahres, dass in diesem Alter von einer hinreichenden Kenntnis der kulturellen Bedeutung der Beschneidung ausgegangen werden kann: vgl. Putzke, Religiöse Beschneidung, NJW 2008, S. 1568 (1569).

116 Ab 14 Jahren gewährt das JGG dem Minderjährigen auch ein aktives Wahlrecht des Anwalts. Auch nach § 70 a FGG wird eine Verfahrensfähigkeit des Kindes ab 14 angenommen. Daneben steht die Gewährung des Beschwerderechts ab 14 nach § 59, 63 FGG in

Personensorgeangelegenheiten: dazu Steindorff-Classen, Subjektives Recht des Kindes, S. 18-20. 117 Kammerloher-Lis, RKEG, S. 62; zum Umkehrschluss der auch früheren Einsichtsfähigkeit der

Bedeutung von Glauben und Kultur: Schneekloth/Leven in: World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.), Kinder in Dtl. 2007, S. 89: in dieser Studie konnten schon 8-11 - Jährige zur Bedeutung des Glaubens in der Familie eine verwertbare Einschätzung abgeben.

118 Steindorff-Classen, Subjektives Recht des Kindes, S. 25. 119 Steindorff-Classen, Subjektives Recht des Kindes, S. 25.

(27)

damit sinnvoller als die andere, was die Festlegung einer pauschalen Altersgrenze als fast willkürlich erscheinen lässt.

Die Betrachtung der expliziten Altersgrenze in Art. 38 Abs. 2 GG und die speziell auf den Jugendschutz ausgerichteten Schranken in Art. 5 Abs. 2, 11 Abs. 2 und 13 Abs. 3 GG lassen daneben den Rückschluss zu, dass die Grundrechtsausübung im Übrigen vom Verfassungsgeber bewusst „altersoffen“ gehalten wurde.120

Die Normierung der Altersgrenze im RKEG sei zudem Beleg dafür, dass die Altersbeschränkung als Grundrechtsbegrenzung anzuerkennen sei, die unter dem Gesetzesvorbehalt stehe.121

Eine Beschränkung der Rechtssubjektivität bedarf hiernach jedenfalls einer gesetzlich konkretisierten Eingriffsnorm und Rechtfertigung.

Gegen die Geeignetheit pauschaler Altersgrenzen spricht, dass gerade im Fall der Beschneidung nicht nur die Einsicht zur kulturellen und religiösen Bedeutung maßgeblich ist sondern auch die Einsicht in die Tragweite und Bedeutung des medizinischen Eingriffs.122 Das Beispiel zeigt, dass die Rechtswahrnehmung oft mehrere Rechtsgüter tangiert, die sich überlagern oder kreuzen. Der Erfassung unterschiedlicher Lebenskomplexitäten ist mit einer pauschalen Altersgrenze, die für unterschiedliche Rechte unterschiedlich festgesetzt wird, nicht beizukommen.

Vor dem Hintergrund des möglichen Einsatzes von Gutachtern zur Feststellung der Einsichtsfähigkeit (so ja auch im Umgang mit Volljährigen, deren Einsichts-/Prozessfähigkeit in Zweifel gezogen wird) ist eine pauschale Altersbegrenzung auch nicht erforderlich, da intensiver eingreifend und im Einzelfall aufgrund seiner Pauschalität ineffektiver als eine Einzelfallbegutachtung.

Nicht zuletzt sind Widersprüche zwischen „haben“ und „ausüben“, die durch die künstliche Trennung der Grundrechtsgewährung entstehen können123, im Sinne eines umfassenden, dem Menschenwürdeprinzip entsprechenden Grundrechtsschutzes124, zu vermeiden.

Mithin ist die Grundrechtsmündigkeit jedes Kindes individuell zu beurteilen. Im Fall der Beschneidung ist der Wille des Kindes somit verbindlich, sobald es die kulturelle

120 Roell, Grundrechte für Minderjährige, S. 32, 33; ähnlich Spallek, Staatsrecht, S. 333. 121 Roell, Grundrechte für Minderjährige, S. 43, 47.

122 Putzke, Religiöse Beschneidung, NJW 2008, S. 1568 (1569, 1570).

123 Steindorff-Classen, Subjektives Recht des Kindes, S. 13, 14; Roell, Grundrechte für Minderjährige, S. 17, 18.

(28)

Bedeutung des Eingriffs erkennt und die Tragweite und Risiken des Eingriffs nachvollziehen und zuordnen kann.

Unter Annahme der Grundrechtsmündigkeit im Sinne einer Feststellung der individuellen Fähigkeit, rechtliche Interessen abstrakt sowie konkret zu begreifen und wahrzunehmen, ist eine Subjektivierung des Kindes mithin durchaus im Grundgesetz angelegt. Gleichwohl ist die Auslegung und Anwendung des Verfassungsrechts, wie schon unter Darstellung des verfassungsrechtlichen Kontextes der Beschneidung ermittelt, unter Perspektivierung des Kindes bis zum Jugendalter als objektiv schutzbedürftiger und passiver Rechtsträger, etabliert.

c. Völkerrecht

Im Folgenden soll erarbeitet werden, welche Perspektivierung des Kindes auf völkerrechtlicher Ebene angelegt ist. Hierin einbezogen werden die

UN-Kinderrechtskonvention, die EMRK und das Haager

Minderjährigenschutzabkommen.

aa. UN-Kinderrechtskonvention von 1989125

Mit der Verabschiedung der KRK wurden Kindern erstmalig neben Schutz- und Fürsorgeansprüchen (Art. 3 Abs. 1 KRK: Vorrang des Kindeswohls) auch Freiheits- und Beteiligungsrechte zugeordnet ( die sog. vier „Ps“ – participation, protection, prevention, provision126), was einen Wechsel weg vom Paternalistischen hin zum Blick auf das Kind als Teilhaber an der Gesellschaft bezeugt.127 Das Elternrecht erschöpft sich nach diesem Ansatz in der Pflicht zur Ermöglichung und Unterstützung der Rechtswahrnehmung des Kindes.128 Insbesondere ist auf den Regelungsgehalt

125 Die Geltungskraft der KRK in Deutschland ist aufgrund der Ratifikationserklärung der BRD, die teils als Vorbehalt der Vereinbarkeit mit deutschem Recht, teils als Beschränkung der KRK auf die Natur als „zwischenstaatliche Abmachung“ ausgelegt wird, umstritten: siehe Tomuschat, Verwirrung über KRK, FS Zacher, S. 1143 (1154 f.). Unter Verzicht auf die Streitführung, soll sie in diesem Rahmen als völkerrechtlicher Vertrag mit Geltungsrang zwischen GG und Bundesrecht angeführt werden.

126 Van Bueren, The International Law on the Rights of the Child, S. 15.

127Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (20, 21); siehe im Kontrast zur zuvor geltenden UN Deklaration der Kinderrechte von 1959: Kerber-Ganse, Die Menschenrechte des Kindes, S. 47, 80, 84; Morche, Der kleine Morgen, S. 146.

(29)

des Art. 24 Abs.1 KRK hinzuweisen. Hierin ist das individuelle Menschenrecht des Kindes auf den Schutz seiner Gesundheit sowohl als Abwehrrecht als auch als Recht mit objektiver Schutzpflichtdimension verfasst.129 Art. 24 Abs. 3 KRK konkretisiert dieses Menschenrecht dahingehend, dass dem unterzeichnenden Staat die Pflicht auferlegt wird, überlieferte Bräuche, die die Gesundheit des Kindes schädigen, abzuschaffen. Aus diesem Wortlaut könnte entsprechend die Pflicht des deutschen Gesetzgebers abzulesen sein, die das körperliche Wohlbefinden minderjähriger Jungen zumindest vorübergehend und die substanziell physische Unversehrtheit dauerhaft beeinträchtigende Praxis der rituellen Beschneidung zu verbieten. Der Wortlaut ist jedoch vor dem Hintergrund der Entstehungsdebatte zur Norm zu lesen: Die Regelung zielt in ihrem Kern auf die Verhinderung genitaler Verstümmelung von Mädchen ab, deren gesundheitliche Folgen mehrheitlich von gravierenden körperlichen Schäden bis hin zu psychischen Erkrankungen oder gar zum Tod des Kindes reichen.130 Die Debatte um Absatz 3 befasste sich also vornehmlich mit einem Brauchtum, das traditionell ohne medizinische Fachkenntnis, entsprechend ohne Achtung der geschlechtsspezifischen Anatomie sowie grundsätzlich ohne Betäubung des betroffenen Kindes durchgeführt wird. Die Erzeugung dauerhafter körperlicher Schäden und die unwiderrufliche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und Empfindsamkeit des weiblichen Genitals ist die ganz reguläre Folge des in der Debatte diskutierten Eingriffs. Vor diesem Hintergrund erscheint fraglich, ob die hier untersuchte rituelle Beschneidung an minderjährigen Jungen, die die Resektion eines Teils des männlichen Genitals betrifft, dessen gesundheitliche Relevanz selbst schon diskutabel ist (s.o.), unter den hier verwendeten Begriff der Gesundheitsschädigung zu fassen ist. In beiden Fallgruppen handelt es sich um Eingriffe, die das jeweilige Genital substanziell dauerhaft verändern. Jedoch liegen ganz wesentliche Unterschiede in Art und Ausmaß der Durchführung und damit in der Dimension physischer Integritätsverletzung und psychischer Traumatisierung durch den jeweiligen Ritus. Eine gesetzgeberische Pflicht zur Positivierung eines Beschneidungsverbots an minderjährigen Jungen wäre auf Grundlage des

129 Schmahl in: dies. (Hrsg.), HK UN-Kinderrechtskonvention, Art. 24 Rn 1, 3; vgl.

Wyttenbach/Cottier/Rosetti in: Kirchschläger et al. (Hrsg.), Menschenrechte und Kinder, S. 226, 227.

130Schmahl in: dies. (Hrsg.), HK UN-Kinderrechtskonvention, Art. 24 Rn 20; siehe die Ausführungen bei Van Bueren, The International Law on the Rights of the Child, S. 307 ff.; weitere debattierte Fallgruppen, die unter diesen Artikel gefasst werden sollten, sind die Bevorzugung des männlichen Kindes bei Ernährung und gesundheitlicher Fürsorge sowie gefährdende traditionelle

(30)

Art. 24 Abs. 3 KRK mithin nur zu begründen, wenn die Kinderrechtskonvention an dieser Stelle so zu lesen ist, dass jeglicher Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes durch überlieferte Bräuche als Gesundheitsschädigung im Sinne des Art. 24 Abs. 3 der Konvention zu verstehen wäre. Neben dem Recht auf Gesundheit wird aber auch die Kenntnis über und der Umgang mit der leiblichen Familie durch die KRK Bestandteil des Rechts des Kindes auf Identität nach Art. 8 Abs. 1 KRK131, was zugleich verdeutlicht, welche Bedeutung dem Familienverbund als identitätsstiftende Institution beigemessen wird. Die Wechselwirkung zu den Rechten des Kindes auf seine familiäre und kulturelle Integration und Identifikation spricht also dafür, den Kreis staatlicherseits abzuschaffender Bräuche auf solche Gesundheitsbeeinträchtigungen zu beschränken, die ein Störungspotenzial der kindlichen Entwicklung erreichen, das mit den Folgen weiblicher Genitalverstümmelung vergleichbar ist.132 Eine solche vergleichbare Schädigungsschwelle wird wohl im Regelfall bei der rituellen Beschneidung des Präputiums nicht erreicht. Gleichwohl ist die abwehrrechtliche Dimension des Art. 24 KRK insoweit zu beachten, als sie die Subjektivität des Kindes unterstreicht und damit die Ableitung der zwingenden Beachtlichkeit des entgegenstehenden kindlichen Willens zur Beschneidung zulässt. Die Beachtlichkeit des kindlichen Willens wird in diesem Zusammenhang durch Art. 12 KRK ergänzt.

Art. 12 KRK fundamentiert das Recht des Kindes auf Beteiligung und Berücksichtigung seiner Meinung in den das Kind betreffenden Angelegenheiten, welches das Kind als jungen Bürger und kompetenten Akteur innerhalb seiner Rechtsbeziehungen erkennt.133 Ein im Zweifel vorrangiger Wille des Kindes wird von der KRK jedoch nicht klar benannt.134 Sie geht insoweit nicht explizit über die Wertungen des Grundgesetzes hinaus.

Sie untermauert vielmehr die nach dem individuellen Reifegrad zu bestimmende

131Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (22); so ebenfalls in der EMRK: vgl. v. Boetticher in: Münder/Wiesner/Meysen (Hrsg.), Hdb. Kinder- und Jugendhilferecht, Kap. 1.6 Rn 48; Morche, Der kleine Morgen, S. 168; zur Entstehungsgeschichte siehe Van Bueren, The International Law on the Rights of the Child, S. 119.

132 Vgl. die Ausführungen bei Van Bueren, The International Law on the Rights of the Child, S. 307-308.

133 Steindorff-Classen, Eur. Kinderrechtsschutz, EuR 2011, S. 19 (23); Liebel zufolge kennzeichnet die KRK dennoch die Perspektive auf das Kind als Problem denn als soziales Potenzial: Liebel, Interessenartikulation von Kindern, S. 235 m.w.N., 236, 238.

134Die durch die KRK geforderte freie Meinungsäußerung des Kindes gelte als Voraussetzung für das Kindeswohl. Dazu etwa Morche, Der kleine Morgen, S. 140 f. Dies sagt jedoch noch nichts über die Letztverbindlichkeit der kindlich hervorgebrachten Meinung aus. Diese wird hieraus nicht

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Denn auch wenn rechtlich der Artikel sauber erscheint, so möchte ich – Christin mit zwei Kindern, ein Sohn, dieser nicht beschnitten, auch wenn wir, die Eltern, dies aus hygie-

Am meisten Aufsehen dürfte eine Entschließung machen, die sich an die Bundesärztekammer wen- det und diese auffordert, „sich der Tatsache anzunehmen, daß offen- sichtlich auch in

Kritikwürdiges Verhalten: Fehlende Thematisierung von FGM während der Schwangerschaft; Reinfi bula- tion (siehe Seite 12) der Patientin ohne entsprechen- des Gespräch im Vorfeld;

Dabei wäre die Kenntnis der Rituale und ihrer Folgen gerade für deutsche Ärztinnen und Ärzte wichtig, um betroffene Frauen im Fall einer Krankheit oder einer Schwangerschaft bes-

Mein persönlichster Dank gilt meiner Familie. Meine Eltern, Heidemarie Grobe und Bodo Göttsche, sowie meine Geschwister Dr. Juliane Göttsche und Dr. Götz Göttsche, haben mich

Mit der jeweiligen historischen Einbettung der verschiedenen globalen und regionalen (Rechts-)Kämpfe um FGM/Cs bemüht sich die Arbeit darum zu zei- gen, dass die Praktik

In Ihrem Artikel ist Ihnen wahrscheinlich ein kapitaler Fehler unterlaufen: Es mag zwar sein, dass Psychologen mehr zum Einzelgängertum neigen als Ärzte, aber sicher nicht in der

Jungen und der Beschneidung von Mäd- chen durch die Mitglieder des Gesprächs- kreises, kamen die Teilnehmer der Dis- kussion zu der Ansicht, dass die Beschnei- dung von Jungen