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Das Elternrecht: rechtshistorische Wertungen und Entwicklung

Im Dokument Band 49 LV (Seite 37-58)

B. Vom Objekt zum Subjekt – Perspektivwechsel zum Rechtsträger Kind am Beispiel

II. Debatte: Gewichtung der betroffenen Interessen

2. Das Elternrecht: rechtshistorische Wertungen und Entwicklung

Im europäischen Rechtsraum findet das Elternrecht als „Naturrecht“ der Eltern gegenüber dem Kind vor allem in Staaten mit christlich-katholischer Prägung seine verfassungsrechtliche Beachtung.166 Auch im verfassungsgebenden Parlamentarischen Rat setzte sich die CDU/CSU-Fraktion mit ihrem Wunsch der verfassungsrechtlichen Fixierung des Elternrechts durch.167 Auch findet das Elternrecht in EMRK, IPbPR und KRK Berücksichtigung.168

Der Umfang des Elternrechts wird auf völkerrechtlicher Ebene jedoch unterschiedlich beurteilt:

Einer Ansicht nach beschränkt sich das Elternrecht im Rahmen der EMRK auf die schulische Bildung.169

Anderer Auffassung nach ist das Recht auf Achtung des Familienlebens weit zu verstehen und umfasst die soziale, moralische und kulturelle Beziehung im Erziehungsverhältnis der Eltern zum Kind.170

Für die zweitgenannte Ansicht spricht, dass der Familienschutz der EMRK weniger institutionell als vielmehr auf das familiäre Leben als Teil des Privatlebens bezogen sei und damit mehr „lebensbestimmt, weniger rechtsbestimmt“ verstanden wird.171 Ein weites Verständnis des Erziehungsrechts nach der EMRK, erscheint hiernach vorzugswürdig.

Wie oben erläutert, genießt das Elternrecht seit seiner Aufnahme in das Grundgesetz eine umfassende Bedeutung, wird vom Gesetzgeber weit ausgelegt und gegenüber internationalem Recht vor einer Spaltung der Kindesinteressen gegenüber den Elternrechten familienpolitisch abgeschirmt.

Hinsichtlich der Perspektivierung der Eltern als Rechtsträger kann mithin kein

166 Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 155 Rn 8.

167 Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 155 Rn 4.

168 Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 155 Rn 5-7; vgl. Ipsen, Staatsrecht II § 7 Rn 354, 355.

169 Höfling in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb.d.StR, Bd. VII § 155 Rn 5-7; vgl. Ipsen, Staatsrecht II § 7 Rn 354, 355.

170 Meyer-Ladewig, HK EMRK Art. 8 Rn 49.

171 Marauhn/Meljnik in: Grote/ Marauhn (Hrsg.), KK Kommentar EMRK/GG Kap. 16 Rn 38.

relevanter Wandel zur Autonomisierung des Kindes festgestellt werden.

3. Rechtssoziologische Anknüpfungspunkte

Wichtig für die Betrachtung der rechtlichen Interessen der Eltern und des Kindes sind auch soziologische Überlegungen, die die Interdependenz zwischen Rechtssatz und Rechtssubjekt im gesellschaftlichen Kontext verdeutlichen.

Recht und Gesellschaft stehen miteinander in einem Wechselwirkungsverhältnis, beeinflussen sich und spiegeln sich im demokratischen Staat gegenseitig wieder.172 Diesem Ansatz folgend ist zu untersuchen, welche Perspektive auf das Kind sich in der Gesellschaft des deutschen bzw. europäischen Rechtsraums durch die Rechtsquellen etabliert hat bzw. wie sich in den bestehenden positivrechtlichen Quellen der gesellschaftliche Wertekonsens wiederfindet. Daneben ist zu erarbeiten, wie sich diese Zusammenhänge mit der Rolle des Kindes im muslimischen bzw.

jüdischen Familienverbund und Kulturkreis in Deutschland bzw. Europa verhalten.

a. Die Soziologie

173

und Entwicklungstheorie des Kindes

Die Historie des Kindes als Familien- und Gesellschaftsmitglied ist von klarer Unterordnung unter einen oder beide Elternteile geprägt.174 Sie wurden wie Erwachsene behandelt und gefordert, doch wurde ihnen keine eigenständige Persönlichkeit zugesprochen.175 Ab dem 16. Jahrhundert entwickelte sich der Zweckverband Familie zum Bereich emotionaler Zuwendung, in welchem den Kindern langsam ein eigenständiger Bereich zugeordnet wurde, der ihrer Schutzbedürftigkeit Rechnung trug.176

172 Zippelius, Gesellschaft und Recht, S. 10, 11, 71 (social engineering), 97, 101; Luhmann, Rechtssoziologie, S. 94, 100.

173 Begriffen als soziales Handeln untersuchende Wissenschaft / Betrachtung der Interaktion des Individuums mit und ohne seine Umwelt: vgl. Biermann, Soziologische Grundlagen, 1.1.2, S. 17 f.

174 Siehe Schmeken, Kindheit als Lebensphase, S. 15, 16; so auch im ALR: siehe Kammerloher-Lis, RKEG, S. 65, 66; Roell, Grundrechte für Minderjähige, S. 49.

175 Schmeken, Kindheit als Lebensphase, S. 17; vgl. Bindung der Gerichte an die Autorität des Vaters im französischen Rechtraum: Simitis, Kindeswohl, S. 101, 102; Andresen/Hurremann in: World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.), Kinder in Dtl. 2007, S. 37.

176 Schmeken, Kindheit als Lebensphase, S. 17; Andresen/Hurrelmann in: World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.), Kinder in Dtl. 2007, S. 38.

Als Phase der Sozialisation wird das Verhältnis von Eltern zum Kind im 19./20.

Jahrhundert bezeichnet, in welcher es den Willen des Kindes nicht mehr zu brechen galt und das Interesse des Kindes am „richtigen Weg“ in der Gesellschaft betont wurde.177 Schließlich entwickelte sich das Eltern-Kind-Verhältnis ab Mitte des 20.

Jahrhunderts zu einem als Unterstützung bezeichneten Verhältnis, welches auf dem Gedanken basiert, dass das Kind besser als die Eltern wisse, was es in seinem jeweiligen Lebensstadium braucht.178 Dennoch wird beobachtet, dass Erwachsene weitgehend von pädagogischen Erwägungen gesteuert auf Kinder zukommen und ihnen damit nicht von Person zu Person, sondern von Erzieher zu Erziehungsobjekt begegnen.179 Die Bildung einer Ich-Identität des Kindes werde dabei durch den traditionell geringfügigen Grad an Entwicklungsfreiheit erschwert und in die Jugendphase verlagert.180 Als wichtig für die

„angemessene Entwicklung wird neben der unbewussten Sozialisation durch das Verhaltensvorbild der Umwelt eine zwar leitende und fordernde [,] aber zugleich die Person des Kindes anerkennende Erziehung“

angesehen, welche es dem Kind ermöglicht,

„sich im Kontakt mit der Umwelt als effektiv zu erleben und Kontrolle über die Ereignisse in der Umwelt zu haben“.181

Unterstützung sei hiernach der Schlüsselbegriff familialer Erziehung.182

Dass Kinder schon früh ein ausgeprägtes Bewusstsein über Rechte und Gerechtigkeit entwickeln und ihrem Willen rational und strategisch Ausdruck verleihen können, zeigt die Bildung von Kinderbewegungen in Lateinamerika in den 80er Jahren: In diesen Bewegungen wehrten sich Kinder in organisierter Form vor allem gegen Armut und Kinderarbeit und forderten dabei zugleich die eigene Entwicklung mitzubestimmen.183 Kinder können mithin, je nachdem mit welchem

177 Schmeken, Kindheit als Lebensphase, S. 18; vgl. dazu auch das RKEG von 1921: Kammerloher-Lis, RKEG, S. 214, hiernach verblieb das Kind noch als Objekt der Gesetzgebung und wurde nicht als eigenständiges Rechtssubjekt behandelt, sein Wille war allerdings ab dem 10. Lebensjahr zu hören.

178 De Mause, Hört ihr die Kinder weinen?, S. 84; vgl. Andresen/Hurrelmann in: World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.), Kinder in Dtl. 2007, S. 55.

179 Schmeken, Kindheit als Lebensphase, S. 19.

180 Schmeken, Kindheit als Lebensphase, S. 20ff.

181 Engelbert, Erziehungsleistungen, S. 93.

182 Engelbert, Erziehungsleistungen, S. 93.

183 Dazu Liebel, Interessenartikulation von Kindern, S. 233 ff.

Grad an Eigenverantwortung sie aufwachsen, früh einen eigenen profunden Willen hinsichtlich ihrer Entwicklung bilden und auch vertreten - sich und ihre Umwelt abstrakt begreifen. Der enge Zusammenhang zwischen Erziehungsweisen der Eltern sowie den Umweltfaktoren und der Entwicklung des Kindes unterstreicht die Notwendigkeit der individuellen Betrachtung des Reifegrades und des Selbstverständnisses jedes Kindes. Zugleich hängt das „geeignete“ Alter der

Rechtswahrnehmungskompetenz wiederum vom relevanten

Bedürfniszusammenhang und der dazu notwendigen Kommunikationsfähigkeit ab.

Je komplexer das Wechselspiel der betroffenen Interessen bei der Rechtswahrnehmung, desto später wird eine Einsichtsfähigkeit angenommen werden können. Jedenfalls aber können bereits Kinder im Vorschulalter wesentliche Interessenzusammenhänge zuordnen und einschätzen184, sodass die mehrheitlich vertretene Orientierung am 14. Lebensjahr als zu spät anzusehen ist.

b. Rechtsanwendung in einer pluralen Gesellschaft

Unter Beachtung des Zusammenhangs von Rechtskultur und Staatsvolkskultur185 eröffnet sich in diesem Zusammenhang ein Reibungspunkt, der wohl mit ursächlich für die Intensität und Emotionalität der Beschneidungsdebatte ist:

Die Beschneidung der Vorhaut Minderjähriger ohne medizinische Indikation ist dem säkularisierten westkontinentaleuropäischen Kulturkreis fremd, während eben dieser Ritus im südosteuropäischen, vorderasiatischen, arabischen und jüdischen Kulturkreis fester Bestandteil gelebter Tradition ist. Somit kollidiert kulturelles Selbstverständnis mit kulturellem Unverständnis186 – die Frage lautet in der Konsequenz, unter welchem kulturellem Verständnis die Rechtsquellen im europäischen und deutschen Rechtsraum zu lesen und anzuwenden sind.

Ausgehend vom Gedanken der pluralistischen Gemeinschaft in Europa fordern Gleichheitsrecht und Diskriminierungsverbot in Verbindung mit der Religionsfreiheit, die Wertvorstellungen des jeweils betroffenen Rechtssubjekts und dessen

184 So konnten schon 4-5 - Jährige wissenschaftlich verwertbar zum Stellenwert der Religion in ihrer Familie befragt werden: Schneekloth/Leven in: World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.), Kinder in Dtl.

2007, S. 89.

185 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 95; Zippelius, Gesellschaft und Recht, S. 104, m.V.a. Gustav Radbruch.

186Sich verwirklichende seelische Riten treffen hier auf eine materialistische stark vernunftsbezogene Zivilisation: vgl. Zippelius, Gesellschaft und Recht, S. 126 m.w.N., 128 ff.; vgl. auch Gesellschaften als Teilsysteme einer Weltgesellschaft nach Luhmann, Rechtssoziologe, S. 334 f.

Selbstverständnis in seinem individuellen kulturellen Verbund zugrundezulegen.187 Insoweit genügt das Argument, dass die Beschneidung, die keine körperlichen Funktionen des beschnittenen männlichen Kindes beeinträchtigt, in der Mehrheitsbevölkerung atypisch ist und daher keine Notwendigkeit der frühen Beschneidung des Kindes gesehen wird, nicht. Die Gemeinschaftswerte der Toleranz und kulturellen wie religiösen Freiheit188 erfordern vielmehr die gesellschaftliche Akzeptanz divergenter Riten und Traditionen im Gemeinschafts- und Bundesgebiet.189

Rechtsverständnis und -ordnung in Europa bilden sich aus pluralen Gemeinschaftsgruppen heraus, nicht aus der Gesellschaft und dem Staat.190 Hieraus geht ein notwendiger Wertepluralismus und gleichsam ein Rechtspluralismus191 im Sinne eines kulturell an die jeweilig betreffende Bevölkerungsgruppe angepassten Rechtsverständnisses hervor.

Diesem Ansatz folgend ist bei der Auslegung grundrechtlicher Interessen das Gewicht des jeweils betroffenen Interesses unter Berücksichtigung der Bedeutung des untersuchten Verhaltens im relevanten Kulturkreis zu beachten, um den Einklang von positivierten Rechtsnormen und Lebenswirklichkeit der Gesellschaft zu erhalten.

4. Rückführung zum Verhältnis von Kindesinteressen und Elternrecht im Beschneidungsfall

Ein Verbot der Beschneidung ist zu befürworten, wenn diese dem Kindeswohl zuwider läuft.192 Eine einseitige Wohlbeurteilung ohne Beachtung des Willens des Kindes wird dem Personsein des Kindes als autonomer Mensch nicht gerecht.193 Zudem ist die Einbettung des Kindes in seinen familiären Kultur- und Religionskreis bei der Gewichtung der Interessen zu berücksichtigen. In die Eruierung des Kindeswohls muss somit auch seine Sozialisation fließen. Insoweit genügt es nicht,

187 Vgl. dazu die Debatte um das Recht auf kulturelle Identität auf Ebene der EMRK: Stavenhagen in:

Berting, J. (Hrsg.), Human rights in a pluralist world, S. 255, 258; Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 370, 371.

188 Vgl. Präambel des GG: „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ als Ausdruck des

übernormativen Grundsatzes gemeinsamer Werte, die alle Weltanschauungen einbeziehen: Maunz in: ders./Dürig (Hrsg.), GG, Bd. I, Präambel Rn 17, 18.

189 Entspr. Präambel der KRK.

190 Vgl. Zippelius, Gesellschaft und Recht, S. 107, 114 ff.; Luhmann, Rechtssoziologie, S 334, 335.

191 Zur Herleitung des Rechtspluralismus: Raiser, Rechtssoziologie, S. 333.

192 Vgl. Ipsen, Staatsrecht II, § 7 Rn 350.

193 Vgl. Dietzen, Menschwerdungsgrundrecht, NJW 1989, S. 2519 (2520).

den Eingriff mangels medizinischer Indikation als reflexiv schädigend194 für das Kind zuzuordnen.

Nach Auslegung der elterlichen Perspektive ist damit festzustellen, dass die Beschneidung identitätsstiftend auf das Kind wirkt und damit seine Entwicklung innerhalb seines Kulturkreises ermöglicht.195

Nach Auslegung des Kindeswohls aus objektiver Perspektive ist festzustellen, dass der vergleichsweise risikoarme Eingriff durch das Bedürfnis der Identitätsentwicklung in der Familie und im kulturellen Umfeld aufgewogen wird. Ohne die Schaffung einer für das Kind erkennbaren kulturellen Identität, kann dieses sich im Verlauf seines Lebens auch nicht dazu abgrenzen, keine Gemeinschaft als die seine ansehen, sei es die säkulare oder die religiöse. Gleichwohl ist dem Personsein des Kindes entsprechend das Kind zu hören, wenn es in einem Alter beschnitten wird, in dem es die Bedeutung der Beschneidung in seiner religiösen und medizinischen Dimension erkennt und hieran Zweifel vorbringt. Die Durchsetzung einer Beschneidung gegen den erklärten Willen des Kindes, auch wenn diese Erklärung nicht rational, sondern emotional begründet ist, erscheint vor dem Hintergrund des Traumatisierungspotenzials, etwa durch Fixieren oder andere Zwangsmaßnahmen, unangemessen.196

Soweit im Einzelfall auf das Erleben des Schmerzes zum Beweis der Männlichkeit197 bestanden wird, ist dies als objektivierendes und damit in ungerechtfertigter Weise in die Würde des Kindes nach Art. 1 Abs. 1 GG eingreifendes Verhalten198 einzuordnen und damit auch nicht über einen gegebenenfalls imperativen Glaubenssatz legitimierbar.

Eine Beschneidung ohne hinreichende Analgesie erscheint damit vor dem Hintergrund der notwendigen Umsetzung der Beschneidung unter minimaler Beeinträchtigung des Wohlbefindens des Kindes ebenfalls als unangemessen.

Eine Altersbegrenzung der Beschneidung nicht unter 14 Jahren199 macht in dem hier relevanten Kulturkreis insoweit keinen Sinn, als der Zeitpunkt der Beschneidung

194 So bei Stehr/Putzke/Dietz, Zirkumzision, DÄBl. 2008 105 (34/35), A 1778-80: der Beitrag leitet aus einer, was nach hiesiger Strafrechtsdogmatik so nicht zu halten ist, unterscheidet § 223 StGB begrifflich doch gerade Körperverletzung zugleich eine Gesundheitsschädigung ab, um die Staatspflicht zum Verbot des Ritus nach § 24 KRK herzuleiten zwischen Körperverletzung und Gesundheitsschädigung.

195 Vgl. Präambel der KRK: „.. unter gebührender Beachtung der Bedeutung der Traditionen und kulturellen Werte jedes Volkes für den Schutz und die harmonische Entwicklung des Kindes..“.

196 Vgl. die Darstellung bei Kelek, Die verlorenen Söhne, S. 129 ff.

197 Kelek, Die verlorenen Söhne, S. 129 ff.

198 Vgl. zur Objektformel BVerfGE 39, 1 (41); BVerwG NvwZ 1990, S. 668 (669).

199 Wie vom alternativen Gesetzentwurf zu § 1631 d BGB gefordert: BT-DS 17/11430.

gerade Teil des gelebten Glaubens ist.

Teils wird zudem ein Widerspruch in dem Verbot der Beschneidung gegenüber der Zulassung der Beschneidung weltweit zugunsten des Islams als eine der größten Weltreligionen gesehen.200

Beachtlich ist auch im Fall des Verbots der Beschneidung, wie bei allen Praktiken im Grenzbereich der Rechtsordnung, die Gefahr des Abdrängens des Ritus „an den Küchentisch“, durchgeführt von einem nach anerkanntem Sorgfaltsmaßstab unter Umständen unzureichend ausgebildeten Mohel oder Sünnetci, was widerum mit einer Steigerung der Risiken für die zu beschneidenden Kinder einherginge.201

Aufgrund der wesentlichen identitätsstiftenden Funktion der Beschneidung als Bekenntnisakt, liegt diese nicht nur im Interesse der Eltern sondern auch im Interesse des Kindes selbst. Somit ist die Beschneidung unter Ausschluss medizinischer Kontraindikation und unter Gewährleistung anerkannter medizinischer Standards grundsätzlich als zulässig zu erachten. Der Wille des Kindes ist dabei unter individueller Annahme der Einsichtsfähigkeit letztverbindlich und an keine pauschale Altersschwelle zu knüpfen. Der Wille des einsichtsunfähigen Kindes verbleibt soweit beachtlich, wie eine Beeinträchtigung der Psyche des Kindes infolge zwangsweiser Durchführung der Beschneidung nicht ausgeschlossen werden kann.

C. Fazit

Es ist festzustellen, dass sich im Wesentlichen drei Autonomiegrade in der Betrachtung des Kindes als Rechtsträger erkennen lassen:

Zum einen ist der absolute Elternvorrang zu benennen, innerhalb dessen es keine Emanzipation des Kindes gibt und auch keine Kindesinteressen letztverbindlich werden (exklusive Elterninterpretation)202.

Zweitens gibt es einen Autonomiegrad, der es erlaubt, die Kindesinteressen den Elterninteressen voranzustellen, wenn seine Entwicklung, Physis oder Psyche gefährdet ist (Priorität der Kindeswohlinteressen mit Elternprärogative).203

Der weiteste Grad der Kindesautonomie wäre folglich die Anerkennung der

200 Vgl. Klinkhammer, Zirkumzision, DÄBl. 2012, 109 (39), A 1918.

201 Kretzschmar, Beschneidung, DÄBl. 2008, 105 (44), A 2328; Harrer-Haag, Beschneidung, DÄBl.

2008, 195 (44), A 2328.

202 Siehe Simitis, Kindeswohl, S. 102: etwa bis zu den 50er Jahren im europäischen Raum etabliert.

203 Vgl. Simitis, Kindeswohl, S. 107.

Verbindlichkeit des Kindeswillens über das drittbestimmte Kindeswohl hinaus, soweit das Kind zu rationaler Meinungsbildung und Entscheidungsfindung individuell in der Lage ist.

Die Sichtung der zuvor dargestellten Rechtsquellen ergibt, dass diese sich national wohl im zweiten Grad der Kindesautonomie befinden, das Kindeswohl aus Perspektive Dritter auf das Kind zentralisierend. Bei der Abwägung der Kindes- und Elterninteressen sind also die Grenzen der nachhaltigen Kindesgefährdung maßgeblich. Dabei folgt die methodische Interessenbetrachtung dem oben beschriebenen objektiven Ansatz.

Demgegenüber wird im soziologischen Kontext von einer in der Erziehung tiefgreifenderen Autonomie des Kindes ausgegangen, wobei die Entwicklung autonomer Urteilsfähigkeit mit dem von Eltern zur Verfügung gestellten Freiraum korreliert.

Auch historisch lässt sich die Entwicklung in der Gesellschaft weg vom Paternalismus hin zur Subjektivität des Kindes erkennen.

In Zeiten der Weimarer Republik wurde das Kind auch nach dem RKEG noch als

„Object realer Beherrschung“ im rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Eltern bzw. zum Vater, bis zur eigenen Familiengründung bzw. wirtschaftlicher Unabhängigkeit, betrachtet.204

Seit den 50er205 Jahren hinführend zu den Studentenrevolten der 68er war eine Entwicklung der Unabhängigkeit, der Abgrenzung zu den Eltern und der Autonomie gegenüber klassischen Familienstrukturen und deren Erziehungsweisen eingetreten.

Die daran anknüpfende Bewegung antiautoritärer Erziehung in den 70ern ließ eine neue Betrachtung der „freien Entwicklung des Kindes“ nach seinen Interessen und nach seinem Willen zu.206

Insgesamt hat sich das Großwerden in Familien nunmehr unter Zulassung früherer Liberalität und Eigenverantwortung, nicht zuletzt aufgrund des wachsenden Anteils

204 Siehe Kammerloher-Lis, RKEG, S. 214 ff.; gleichwohl liegt in diesem Gesetz bereits der Kern

„modernder demokratisch-pluraler Gesellschaftsordnung“ und der „Individualität des Kindes“:

Raack/Döffing/Raack, Religiöse Kindererziehung, S. 17.

205 Zwischen 1933-1945 wurde die Perspektivierung der Kinder freilich in die vollkommene

Unterordnung unter das Führerprinzip und die Rassenideologie umgekehrt. Die Erziehung wurde wieder Staatsangelegenheit: dazu Raack/Döffing/Raack, religiöse Kindererziehung, S. 19-21.

206 Anknüpfend wurde über das KindRVerbG beabsichtigt, auf die elterlich autoritäre Haltung

hinsichtlich der Anwendung von Gewalt gegen Kinder einzuwirken, was als Teil der erforderlichen Achtung der Persönlichkeit und Entwicklung des Kindes betrachtet wurde: siehe dazu Baltz, Ächtung der Gewalt, ZfJ 2000, S. 210 (212f.); vgl. auch die Auslegung des BVerfG: BVErfGE 72, S.

155 (170-173).

Alleinerziehender und berufstätiger Mütter und Väter, etabliert.

Dem folgend kann festgestellt werden, dass sich die Diskussion um die Gewichtung der Kindesinteressen in die gesellschaftliche Liberalisierung der Kinder von den Eltern einreiht. Im Wesentlichen ist die Debatte also Hinweis darauf, dass die Betrachtung des Kindes als Rechtssubjekt sich weiter hin zur Individualität, losgelöst vom Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Eltern, wandelt, sich damit unter den oben erörterten Autonomiegraden zwischen dem Zweit- und Drittgenannten bewegt.

Auf nationaler Ebene zeigt sich dabei eine restriktive Haltung zur emanzipatorischen Betrachtung der Kindesinteressen gegenüber dem Familienverbund bzw. den Eltern, während auf völkerrechtlicher und europarechtlicher Ebene durchaus die Weichen zur stärkeren Subjektivität des Kindes gestellt sind.

Der bundespolitische Wille bleibt dabei neben den Wertungen des Europarechts und Völkerrechts auch hinter der Lebenswirklichkeit heutiger Formen des Familienverbundes zurück:

Klassische Familienstrukturen, die vom Gesetzgeber politisch geschützt werden, bestehen heute paritätisch neben offenen und individualisierteren Familienverbunden.207 Der Begriff Familie impliziert damit heute eine komplexere Rollenfindung der Mitglieder und erzeugt zugleich die Notwendigkeit, jedes Mitglied mit seinen besonderen Bedürfnissen und Beziehungen zu seiner Umwelt autonomer wahrzunehmen.208 Es bestehen offenere, flexiblere Familienstrukturen in Großteilen der Gesellschaft, die die klassische Kernfamilie, in der der Gesetzgeber Rechtsstreitigkeiten und Oppositionen zu vermeiden sucht, faktisch bereits aufgebrochen haben.

Unter Sichtung der Beiträge in den Medien (Ärzteblatt, jüdische allgemeine, FAZ usf.) ist festzustellen, dass sich die Autoren nicht mit der Frage der Perspektivierung des Kindes und der Verbindlichkeit des Kindeswillens im Einzelfall auseinandersetzen.

Vielmehr wird mit starken Begriffen wie „Kulturkampf“, „Wahn“, „blutiger Ritus“,

„archaische Tradition“, „radikale Ideologen“, „Amputation“ gearbeitet209, sodass zwei

207 Vgl. Andresen/Hurrelmann in: World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.), Kinder in Dtl. 2007, S. 45:

wenige Geschwister, alleinerziehende Elternteile, Berufstätigkeit beider Eltern, Verbund von Eltern und Stiefeltern (Patchwork); vgl. Schneekloth/Leven in: World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.), Kinder in Dtl. 2007, S. 65 ff.

208 Beachtung von „Wahlnetzen“ des Kindes: Andresen/Hurrelmann in: World Vision Deutschland e.V.

(Hrsg.), Kinder in Dtl. 2007, S. 45.

209 Exemplarisch: Steiman, Wahn und Werte, jüd. Allg. 23.8.2012/

http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/13780; Diez, Beschneidung, DÄbl. 2008, 105 (44), A 2327; Herzberg,

extreme Meinungslager produziert wurden, die in der öffentlichen Debatte keine Vermittlung finden (wollten).

Hinweise darauf, dass es sich im Kern um eine neue, geänderte Betrachtungsweise des Rechtssubjekts Kind handelt, ergeben sich auf den ersten Blick nicht, wird doch mehrheitlich auf die Schutzbedürftigkeit der Kleinkinder und Säuglinge verwiesen und ein Interesse der Kinder an einer Beschneidung nicht substanziell erwogen.210 Auch der Gesetzgeber verbleibt in seiner Restriktivität zur Ermöglichung der Selbstbestimmtheit des Kindes.211 Die Fraktion der FDP bezeichnet ein im Rechtsausschuss diskutiertes Vetorecht212 des Minderjährigen gar als „Fremdkörper im System des Familienrechts“, der zu Rechtunsicherheit führe.213

Auf den zweiten Blick jedoch zeigt sich durchaus eine Tendenz, Kinder mehr und mehr in ihrem eigenständigen Rechts- und Interessenkreis zu begreifen und dem Kindeswillen ab Bestehen der Einsichtsfähigkeit im relevanten Rechtskontext Verbindlichkeit zuzugestehen. Die öffentlich geführte Diskussion verharrt dabei zwar in der Perspektivierung des Kindes in seiner passiven Schutzbedürftigkeit, sucht jedoch zugleich die Lösung vom Abhängigkeitsverhältnis zu den Eltern. Dieser Schluss ergibt sich aus den Forderungen, die Beschneidung auf einen späteren Zeitpunkt zu verlagern oder sich explizit verweigernde, abwehrende Kinder einstweilen unbeschnitten zu lassen – eben um den Willen des Kindes in den Vordergrund zu stellen und seine Verbindlichkeit abzuwarten.214

Ebenso empfahl der Deutsche Ethikrat die explizite Festlegung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des zu beschneidenden Kindes215 und gab damit zumindest einen politischen Anstoß.

Zugleich weist ein Teil der Bundestagsabgeordneten in seinem Gesetzentwurf zur Beschneidung auf den

Rechtliche Probleme der rituellen Beschneidung, JZ 2009, S. 332 (334).

210 So auch vom Gesetzgeber selbst: siehe BT-DS 17/11295, S. 13; Herzberg, Rechtliche Probleme der rituellen Beschneidung, JZ 2009, S. 332 (332); Rixen, Das Gesetz über den Umfang der Personensorge, NJW 2013, S. 257 (259, 260).

211 „Ebenso kann der entgegenstehende Wille eines nicht einsichts- und urteilsfähigen Kindes zu berücksichtigen sein.“: BT-DS 17 / 11295, S. 18.

212 BT-DS 17/11815, S. 6.

213 Siehe BT-DS 17 /11814, S. 10.

214 Exemplarisch Sternberg-Lieben/Reichmann, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, NJW 2012, S. 257 (259, 261); vgl. Herzberg, Rechtliche Probleme der rituellen Beschneidung, JZ 2009, S. 332 (336).

215 Ethikrat, PM vom 23.08.2012, http://www.ethikrat.org/presse/pressemitteilungen/

2012/pressemitteilung-09-2012.

„Zusammenhang mit der Anerkennung und der rechtlichen Weiterentwicklung unseres Bildes vom Kind als eigenständiger Träger von Grundrechten“

hin.216

Die Betrachtung des Entscheidungskonflikts zur Beschneidung gibt also einen Hinweis darauf, dass die weitergehende Subjektivierung von Kindern als unabhängige und zur Eigenverantwortung fähige Interessenträger, in das Rechtsverständnis Einzug erhält.

216 BT-DS 17/11430, S. 7; im Rechtsausschuss wird zudem konkret die Fixierung eines Vetorechts gefordert: BT-DS 17/11814, S. 5, 6-7, 8; vgl. auch BT-DS 17/11816, S. 2, 3.

Im Dokument Band 49 LV (Seite 37-58)