DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Die „Pille danach"
Patienten einer Kohorte verstor- ben ist. Das gibt nicht selten ein anderes Bild als nach der Mortali- tät. Diese stellt bekanntlich die Summe aller Sterbefälle eines Ka- lenderjahres dar, unabhängig da- von, wann die Erkrankung begon- nen hat.
Wie bei der Tuberkulose und in ei- nem Krebsregister ist auch bei AIDS der Zeitpunkt der Erfassung ausschlaggebend für die zeitliche Zuordnung im Meldesystem. Der Zeitpunkt der Infektion bezie- hungsweise lnitiierung ist dafür ebensowenig geeignet wie der Be- ginn von Beschwerden.
Vorschlag: Kohortensystem Am zweckmäßigsten wird auch bei AIDS die Sterblichkeit nach dem Kohortensystem mitgeteilt, also wer vom Erfassungsjahr 1982 in diesem Jahr, 1983, 1984 usw. ver- storben ist. Wenn das Jahr für Jahr fortgesetzt wird, läßt sich daraus sehr leicht ein Trend der Abster- beordnung ersehen, das heißt eine Änderung der Prognose. Das ein- fache Aufaddieren taugt dazu nicht. Vermutlich erlaubt aber die gegebene Meldesituation nicht die Verwirklichung dieses Vorschla- ges.
Ein Letztes: Unstreitig hat sich in der Vergangenheit die Zahl der re- gistrierten AIDS-Kranken in relativ kurzer Zeit jeweils verdoppelt; ge- nannt sind sechs bis acht Monate (3). Verdoppelungen sind mathe- matisch gesehen eine geometri- sche Reihe, die schnell zu hohen Zahlen führt. Geht man von derzeit 100 Erkrankungen pro Jahr in der Bundesrepublik aus, so erhält man nach 19 Verdoppelungen ei- ne Zahl von 52,5 Millionen, das heißt in der Phase von der 19. zur 20. Verdoppelung litte die gesam- te Bevölkerung der Bundesrepu- blik an AIDS. Nimmt man die ge- nannten sechs Monate an, so wäre das schon in zehn Jahren der Fall, bei 18 Monaten „erst" in 30 Jah- ren. Nun, Extrapolationen, speziell im geometrischen Maßstab, haben
ihre Tücken. Insgesamt sollte das unbestreitbar Neue an AIDS nicht länger daran hindern, zu den in der Epidemiologie üblichen Be- griffen: Mortalität, Inzidenz, Punkt-Prävalenz zurückzukehren und den Ausflug in die Jahres- grenzen überschreitenden Aufad- dierungen zu beenden.
Die Zahlen wären dann zwar zu- nächst niedriger, liefen aber nicht Gefahr, wegen ihrer Besonderheit mißdeutet zu werden.
Zu der jetzt eingeführten „Pille da- nach" bringen wir die Kurzmittei- lung eines erfahrenen Gynäkolo- gen. Wie auch unser Fachredak- teur, Prof. Stoll, betont, sollte die relativ hohe Hormondosis den schwer zu definierenden „Notfäl- len" vorbehalten bleiben, die aber in der Praxis eine große Rolle spie- len dürften. Vorausgegangen sein müßte ein ungeschützter Kontakt während des Empfängnis- optimums bei einer fertilen Frau, die keine Antikonzeption betreibt.
Rudolf Gross Ende September 1985 wurde offi- ziell die „Pille danach" auf dem deutschen Markt eingeführt. Es handelt sich dabei keineswegs um eine revolutionäre Neuheit, son- dern um ein Präparat, das die bei- den weiblichen Sexualhormone Östrogen und Gestagen enthält, also um nichts anderes als die gu- te alte Antibabypille. Das Medika- ment unter dem Handelsnamen Tetragynon® enthält pro Dragee je 0,25 mg Levonorgestrel und 0,05 mg Ethinylestradiol.
Lediglich die Dosierung ist also ei- ne andere. Bis spätestens 48 Stun- den nach einem ungeschützten Geschlechtsverkehr — insbesonde- re zur Zeit der Ovulation — muß die Frau die ersten zwei Tabletten ein- nehmen und dann noch einmal zwei Tabletten 12 Stunden später.
Nach 60 Stunden muß die Einnah- me beendet sein.
Literatur
(1) Habermehl, A.: Mortalität-Letalität-Morbi- dität (Inzidenz-Prävalenz). Dtsch. Ärztebl. 83, Heft 3 (1986) 98-99 — (2) Koch, M. A.; J. L'Age- Stehr: AIDS: Der heutige Stand des Wissens.
Dtsch. Ärztebl. 82, Heft 36 (1985) 2560-2567 — (3) L'Age-Stehr, J.: Epidemiologie von AIDS.
Off. Gesundh.-Wes. 47 (1985) 343-348 — (4) N.
N.: Accquired immune deficiency syndrome (AIDS) — Update Wkly Epidem. Rec. 60 (1985) 199-202
Anschrift des Verfassers:
Professer Dr. med.
Gerhard Neumann Urachstraße 3 7000 Stuttgart 1
Je früher die ersten beiden Tablet- ten eingenommen werden, um so sicherer läßt sich eine Schwanger- schaft verhindern. Das Medika- ment wirkt so, daß eine Abbruch- blutung ausgelöst wird und eine eventuell befruchtete Eizelle sich nicht mehr im Endometrium einni- sten kann. Damit handelt es sich rein juristisch gemäß § 219 d des StGB nicht um eine frühe Abtrei- bung, sondern um eine erlaubte Möglichkeit der Empfängnisver- hütung, da die „Wirkung vor Ab- schluß der Einnistung des be- fruchteten Eies in die Gebärmutter eintritt".
Die sogenannte Pille danach sollte nun keineswegs herkömmliche Methoden der Empfängnisverhü- tung ersetzen, sondern wirklich
„Notfällen" vorbehalten bleiben.
Erstens ist die Zuverlässigkeit be- grenzt, und zweitens kann die re- lativ hohe Hormoneinnahme zu Zyklusstörungen führen. Eine mehrfache Anwendung innerhalb eines Monatszyklus sollte auf alle Fälle unterbleiben. Das Präparat ist natürlich verschreibungs- und apothekenpflichtig. Die Kosten werden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht übernom- men.
Dr. med. Reiner Gödtel Chefarzt der Frauenklinik Evangelisches Krankenhaus 6798 Kusel
Tetragynon: Die „Pille danach"
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 13 vom 26. März 1986 (69) 895