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Archiv "Gesundheit und Umwelt: Ansätze zu einer ökologischen Medizin" (23.04.1986)

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Z

unehmend finden sich in den Human- und Sozialwissen- schaften Ansätze, die Interak- tionen zwischen Mensch und Um- welt zum Gegenstand ihrer Arbei- ten machen (1)*). Nicht der Mensch oder die Umwelt, sondern das „Beziehungsgefüge" (Interak- tionsgefüge) steht im Mittelpunkt des Interesses. Diese Sichtweise wird manchmal auch als „Human- ökologie" (Ökologie des Men- schen) bezeichnet, da sie der Öko- logie der Pflanzen und Tiere äh- nelt (2).

Nach Haeckel (1866) versteht man unter der Ökologie „die gesamte Wissenschaft von den Beziehun- gen des Organismus zur umge- benden Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle Existenzbedin- gungen rechnen können" (3).

Trotz der fachübergreifenden Dis- - kussion der aktuellen Umweltpro- bleme gibt es jedoch noch keine umfassende konkrete Humanöko- logie.

Als Beispiel für die „Ökologisie- rung" einiger Humanwissenschaf- ten kann die Diskussion in der Psychologie dienen, bei der sich seit Mitte der siebziger Jahre eine stärkere Ausarbeitung der ökolo- gischen Perspektive erkennen läßt (4). Da diese Entwicklung für die Medizin interessante Parallelen zeigt, sollen hier einige wesent- liche Punkte angeführt werden.

Bemerkenswert ist zunächst, daß, bereits Hellpach in den zwanziger Jahren einen Grundstein für eine

„Umweltpsychologie" gelegt hat, indem er sich mit der Frage der Einflüsse von Klima und sozialen Faktoren auf das Erleben und Ver- halten befaßte (5). In den dreißiger Jahren hat Lewin seine „Feldpsy- chologie" entwickelt, die den Le- bensraum einer Person als dyna- misches Kräftefeld von „Valen- zen" der Umweltobjekte auffaßte.

Damit war die Grundlage für die

„ökologische Psychologie" gelegt

*) Die in Klammern stehenden Zahlen bezie- hen sich auf das gesonderte Literaturver- zeichnis, das beim Autor angefordert wer- den kann.

Gesundheit und Umwelt

Ansätze zu einer

ökologischen Medizin

Felix Tretter

worden (6). Die beiden unter- schiedlichen Sichtweisen setzen sich auch in der gegenwärtigen psychologischen Diskussion fort.

Unterschieden wird zwischen der

„Umweltpsychologie", die sich mit konkreten, aktuellen Umwelt- fragen befaßt, und der „Ökopsy- chologie", die sich grundlegender für die Untersuchung der Wech- selbeziehungen von Umwelt und Erleben beziehungsweise Verhal- ten interessiert. Neuerdings wer- den beide Positionen unter der

Bezeichnung „psychologische Ökologie" einander näherge- bracht (7).

Diese „Ökologisierung der Psy- chologie" ist nach dem Umwelt- psychologen Proshansky vor al- lem als Kritik an der traditionellen Psychologie zu verstehen, die sich nicht um „problembezogene Me- thoden" bemühe, sondern „me- thodenbezogene Probleme" erfor- sche und die „Quantifizierung um jeden Preis" betreibe (8).

I

Verhalten unter

alltäglichen Bedingungen Thematisch ist die Umwelt- bezie- hungsweise Ökopsychologie durch das Interesse am Verhalten unter den alltäglichen Lebensbe- dingungen der Menschen gekenn-

zeichnet. Forschungsstrategisch sind die Zuwendung zur Feldfor- schung, die relative Abwendung von Laboruntersuchungen, die in- terdisziplinäre Orientierung und die Kontextbezogenheit der For- schung kennzeichnend. Im meß- theoretischen und meßprakti- schen Bereich steht die Entwick- lung qualitativer Untersuchungs- methoden im Vordergrund. An praktischen Problemstellungen überwiegen Studien des Verhal- tens in Räumen, der Wahrneh- mung von „Umwelt", des Einflus- ses von personeller Dichte und physischer Nähe auf das Erleben und Verhalten sowie Studien von Lärmreaktionen und die psycholo- gische Streßforschung (9). In mo- delltheoretischer Hinsicht wird ge- genwärtig auf die Problematisie- rung der Begriffe „Umwelt", „Si- tuation" und „Interaktion" beson- ders viel Wert gelegt, da die Be- griffsgestaltungen die Konzeption der empirischen Forschung ent- scheidend beeinflussen (10).

I

Differenzierung

des Begriffes „Umwelt"

In diesem Zusammenhang bemer- kenswert ist die Differenzierung des Begriffes „Umwelt", wie er in der medizinischen Literatur nicht zu finden ist. Zunächst ist die Un- terscheidung zwischen „objekti- ver" Umwelt (Standpunkt des For- schers) und „subjektiver" Umwelt (Standpunkt des Lebewesens) be- deutsam. Die Unterscheidung be- ruht einerseits auf der Konzeption von Haeckel, der unter der „umge- benden Außenwelt" die äußerlich, also objektiv beschreibbare Um- welt verstand, und geht anderer- seits auf von Uexküll zurück, der den Begriff „Umwelt" in die Biolo- gie einführte und dabei die „sub- jektiven Bilder" der Umwelt als

„Merkwelt" und „Wirkwelt" unter- schied (11).

Darüber hinaus wird zwischen der „kulturellen" (Wertsysteme),

„sozialen" (Handlungssysteme),

„technischen" (apparative Syste- me), „natürlichen" und der „per-

(2)

Medicus cu- rat, natura sa- nat! Aber wo ist sie geblie- ben — die Na- tur?

Zeichnung:

Jutta Karas

sonellen" Umwelt unterschieden.

Eine verbindliche Taxonomie wur- de jedoch bisher noch nicht ent- wickelt (12). Betont worden ist auch in verschiedenen psycholo- gischen Forschungsansätzen die Unterscheidung zwischen der

„proximalen" (nahen) und „dista- len" (entfernten) Umwelt sowie zwischen der „aktuellen" und

„potentiellen" Umwelt (13). Nach Größenordnungen unterscheidet man auch zwischen der „Mikro-",

„Meso-" und der „Makroumwelt"

(14).

In mehreren Arbeiten ist auch eine funktionelle Differenzierung des Umweltbegriffes zu erkennen, die die Umwelt hinsichtlich ihrer Wir- kungen auf das Erleben und Ver- halten als „Stressor", „Barriere",

„Ressource" und „Territorium"

klassifiziert (15). Darüber hinaus werden auch zunehmend die „Le- bensbereiche" genauer definiert (16).

Eine derartige differenzierte Be- handlung des Umweltbegriffes ist in der medizinischen Forschung nicht vorhanden: Man denke nur

an die „Anlage-Umwelt-Kontrover- se" (17).

Solche Differenzierungen sind vor allem für die psychologische Streßforschung bedeutend. So ist es notwendig, den „Typ" der aktu- ellen Umwelt beziehungsweise der Umweltbezüge genau zu erfassen:

Aufgabenumwelt, unkontrollierba- re Situationen, Konfliktsituationen usw. Auch wird immer deutlicher, wie wichtig die subjektiven Um- welt- beziehungsweise Situations- interpretationen sind. Aber auch, welche Streßbewältigungsmecha- nismen (Rationalisieren, Verleug- nen) aufgrund welcher Erwartun- gen (Handlungs-Folgen-Erwartun- gen) und Verarbeitungsprozesse auftreten können. Hier trifft sich die an den inneren Vorgängen in- teressierte „kognitive" Psycholo- gie mit der experimentellen (La- bor-)Psycho(physio)logie und mit der Umwelt- beziehungsweise Ökopsychologie, so daß man ge- genwärtig keine konzeptionelle Einigkeit erkennen kann.

Da die Stressoren und Streßzu- stände für mehrere Erkrankungen

ätiologisch bedeutsam sind, kann man die Verbindung zwischen der Psychologie und Medizin durch ei- ne ökologische Ausrichtung ver- bessern (18). Das ökologische Pa- radigma in der Psychologie kann somit Hinweise auf interessante Arbeitsschwerpunkte in der ökolo- gisch orientierten Medizin geben.

Die Mediziner haben bereits aus anderen historischen, arbeits- und konzeptbedingten Ansätzen ei- genständige Stellungen und Auf- fassungen entwickelt.

I

Ansätze zu einer Umweltmedizin Bedingt durch die Diskussion ak- tueller Umweltfragen haben sich in den letzten Jahren einige medi- zinische Disziplinen herausgebil- det, die in ihrer Gesamtheit Kontu- ren einer „Umweltmedizin" zeigen (19). Während der Kernkraftdebat- te Mitte der siebziger Jahre haben sich vor allem Radiologen mit strahlenbiologischen Problemen beschäftigt. So wurden wichtige Dosis-Wirkung-Fragen beispiel- haft diskutiert (20). Neuerdings wird die Radioaktivität von Bau- materialien untersucht (21).

Die Dioxin-Katastrophe in Seveso und die Formaldehyd-Debatte ha- ben die Pharmakologie bezie- hungsweise die Toxikologie als ein weiteres zentrales Basisfach der Medizin zu Stellungnahmen herausgefordert (22). Angesichts der durch Rückstände von Pflan- zenschutzmitteln und Schwerme- tallen verunreinigten Nahrungs- mittel werden Pharmakologen und Umwelttoxikologen zunehmend zu wichtigen Meinungsbildern in der Umweltdiskussion (23).

Immer wieder werden Luftverun- reinigungen und ihr Einfluß auf die Gesundheit von Pädiatern (Pseudo-Krupp) und Pulmologen thematisiert (24). Dermatologen diskutieren den Zusammenhang zwischen dem Auftreten allergi- scher Erkrankungen und der Um- welt (25).

(3)

Allerdings gibt es kaum gesicher- tes Wissen zu den einzelnen um- weltmedizinischen Fragestellun- gen. Studien, die die Umweltätio- logie bestätigen oder widerlegen, scheinen sich fast die Waage zu halten. Fazit: „Das Risiko ist nicht bewiesen, aber auch nicht ausge- schlossen."

Ist die Toxizität eines Stoffes er- wiesen, so gibt es heftige Debat- ten über Dosis-Wirkungs-Bezie- hungen. Nur sehr selten finden sich Studien, die Pro und Kontra abwägen. Studien, die besorgte Kliniker aus der Praxis heraus ent- wickeln, werden von Wissen- schaftlern wegen der angewand- ten meßtechnischen, stichproben- technischen und statistischen Ver- fahren kritisiert. Manchmal ge- schieht das so heftig, daß man glauben könnte, es gäbe schon ei- ne normative Wissenschaftstheo- rie der Umweltmedizin (26).

Verkompliziert wird die wissen- schaftliche Debatte durch die po- tentiell enormen politischen Kon- sequenzen, wenn Studien Indizien für krankheitsfördernde Effekte von Umweltfaktoren liefern. Kriti-

ker solcher Studien wirken in der Öffentlichkeit dann oft so, als wür- den sie Schädigungen bagatelli- sieren und als seien sie von Indu- strie und Behörden beeinflußt.

Auch scheinen viele Forscher sich der Sorgen von Bürgern, die sich von Umweltfaktoren bedroht oder geschädigt sehen, nicht anzuneh- men. Scheinbar schließen sich wissenschaftliche Rationalität und Engagement für Gefährdete aus.

Doch gerade Ärzte müssen sowohl der Wissenschaft als auch den In- teressen kranker Menschen ge- recht werden, was zu erheblichen Konflikten führen kann.

Ebenso sind weiterreichende (so- ziale) Risiko-Nutzen-Abwägungen (z. B. veränderte Schadstoffgrenz- werte) mangels eines komplexen humanökologischen Bezugsrah- mens nur schwer durchführbar (Ökologie kontra Ökonomie, Indi- viduum kontra Gesellschaft). Da- her haben es wissenschaftlich

orientierte Ärzte schwer, in der ak- tuellen Umweltdiskussion ihren Standpunkt zu finden.

Neben den Angehörigen der Er- krankten haben vor allem enga- gierte Journalisten die Rolle der Meinungsführer übernommen. So kommt Dost in seinen Büchern zu dem Schluß, daß die Umwelt krank macht.

Dagegen gibt es aus der medizini- schen Fachwelt noch kein ver- gleichbares Buch, das allerdings zunächst die Mißverständnisse, Unschärfen und Überzeichnungen in Dosts Büchern korrigieren müß- te. Dies ist aber auch nicht zu er- warten, da in der Umweltmedizin eine integrativwissenschaftliche Basis fehlt, die neben einer um- weltorientierten Epidemiologie, Radiologie und Toxikologie auch eine umweltorientierte Pathologie in sich vereinigt und ihre Erkennt- nisse allgemeinverständlich dar- stellt (27)! Dies beruht auf der mangelnden forschungspoliti- schen Bereitschaft, Ansätze zur Umweltmedizin zu fördern.

Solche Ansätze hat bereits Graul in seiner viel zu wenig beachteten

„medizinischen Environtologie"

skizziert, in der er grundlegend den Einfluß physikochemischer Umweltfaktoren auf die Gesund- heit aufzeigt (28).

I

Konturen einer

ökologischen Medizin Eigentlich ist noch eine wesent- liche Erweiterung der Umweltme- dizin nötig: Jeder Mensch ist nicht nur einem einzigen Faktor, son- dern einer Vielzahl gleichzeitig wirkender Umweltfaktoren ausge- setzt. Diese belasten nicht nur, sondern stützen oder schützen auch, ganz abgesehen davon, daß auch Belastungen positiv wirken können. Wie beim Stichwort Streß bereits angesprochen, beeinflus- sen auch psychische Faktoren wie die Einstellung gegenüber Ge- sundheitsrisiken den Umgang mit Schadstoffen (z. B. Rauchen).

Daher ist nicht nur nach Haeckel bei jeder spezifischen Krankheits- theorie oder Pathogenitätsein- schätzung von Umweltfaktoren an die „gesamten Existenzbedingun- gen" zu denken, sondern auch nach Uexküll an die Differenzie- rung „Umgebung", „Merkwelt"

und „Wirkwelt". Ein solcher als

„ökologisch" zu bezeichnender Ansatz wirft allerdings fast unlös- bar erscheinende Probleme wie Variablenzahl und Interdependen- zen auf, so daß neue Wege in der Analyse solcher komplexer Syste- me beschritten werden müßten.

Bereits Anfang der siebziger Jahre wurde in der Approbationsord- nung der Medizin ein ökologi- scher Fächerkreis definiert, der

Fächer zusammenfaßt, die sich weder dem „operativen" oder dem

„nicht operativen" klinischen Fä- chern noch den „nervenheilkund- lichen" Fächern zuordnen lassen.

Hygiene, Sozialmedizin, Arbeits- medizin usw. bauen diesen Fä- cherkreis auf, der somit als Rand- gebiet und nicht als grundlegende und durchgehende Perspektive konzipiert ist.

Bisher finden sich in der medizini- schen Literatur nur wenige detail- lierte, aber dennoch integrative Beiträge zu einer „Humanökolo- gie für Medizin", also eine Kon- zeption für eine Medizin, die ne- ben der Krankheit nicht nur den Menschen, sondern auch seine Umweltbeziehungen ausdrücklich wahrnimmt.

Eine grundlegende Begriffsbe- stimmung einer solchen „human- ökologischen Medizin" versuchte Paul (29). Er unterschied drei Va- rianten:

• „medizinische Ökologie"

(Ökologie in der Medizin),

• „ökologische Medizin" (Medi- zin in der Ökologie),

> „Ökologie der Medizin".

Zwar bergen solche terminologi- sche Vorschläge gewisse Proble-

(4)

me in sich, doch sind sie durch- weg ernsthaft zu betrachten: Die vielen Differenzierungen der bio- logischen Ökologie legen auch für humanökologische Ansätze eine ähnliche terminologische Diffe- renzierung nahe, die besondere Perspektiven und Fokussierungen der Untersuchungsposition her- vorheben können.

Neuerdings hat Begemann eine globale Konzeption von einer öko- logischen Medizin vorgelegt, die vor allen Dingen auf den Einbezug von Umwelt in der sogenannten systemtheoretischen Sichtweise abzielt (31).

Diese Entwürfe haben allerdings den Nachteil, die inneren Voraus- setzungen der Medizin in Form der Ökologisierung ihrer Spezial- disziplinen nicht ausdrücklich zu berücksichtigen. Für die weitere Entwicklung einer „ökologischen Medizin" scheinen daher beson- ders die Verbindungen zwischen den medizinischen Einzeldiszipli- nen, die ökologische Orientierun- gen zeigen, nützlich zu sein.

Vor allem das Fach Hygiene, das erst kürzlich durch den Gebiets- arzt für Hygiene akzentuiert wurde und für den Kenntnisse in der Um- welthygiene nachgewiesen wer- den müssen, bietet hierzu eine wichtige Basis. Trotz der häufig engen Verbindung mit dem für die klinische Diagnostik wichtigen Fach Mikrobiologie geht jedoch der direkte Bezug der Hygiene zu den klinischen Fächern in der Pra- xis über die Hygiene des Kranken- hauses kaum hinaus (32).

Ähnliches gilt auch für die Sozial- medizin. Schäfer und Blohmke ha- ben ein bemerkenswertes hu- manökologisches Rahmenmodell dargelegt, das zwischen „tech- nosomatischen", „technopsychi- schen", „soziosomatischen" und

„soziopsychischen" Wirkungen unterscheidet und somit indirekt eine Differenzierung des Umwelt- begriffes einbringt (33). Damit er- öffnet sich der breiten Leserschaft eine humanökologische Perspek-

tive. Für die Praxis der klinischen Medizin ist das Konzept dennoch meist zu global und abstrakt.

Zumindest die ärztliche Praxis zeigt, daß der Umweltbegriff noch wesentlich differenzierter und

„dynamisierter" konzipiert wer- den muß, um der Wirklichkeit ge- recht zu werden. Vor allem subjek- tive Faktoren der Umweltwahrneh- mung und des Verhaltens gegen- über der Umwelt werden dabei be- deutsam. Daher ist die ökologi- sche Medizin auch eine Erforder- nis der ärztlichen Praxis.

I

Ökologische Aufgaben der praktischen Medizin Vor allem der Allgemeinmediziner auf dem Lande ist mit dem Le- bensraum und mit der Lebensfüh- rung seiner Patienten konfrontiert.

Als Hausarzt lernt er beim Hausbe- such eine Vielzahl von Lebensbe- dingungen kennen, die die Ge- sundheit seiner Patienten gefähr- den, sie durch Krankheit belasten oder die Gesundung fördern kön- nen. Es sind „natürliche", „techni- sche", „personelle", „soziale"

und „kulturelle" Faktoren, die ne- ben den psychophysischen Merk- malen des Kranken die Erkran- kung beziehungsweise die Gesun- dung fördern oder hemmen kön- nen (34).

Bei bestimmten Krankheiten scheint dieser Umweltaspekt be- sonders wichtig zu sein. Doch muß der Arzt bei der Analyse die- ser Merkmale seine „objektive Sicht" der Situation mit der „sub- jektiven" Sicht der Situation des Patienten abstimmen (35).

Diese Aspekte in der Anamnese, Diagnose und Therapie miteinzu- beziehen, könnte ausdrücklicher und in integraler, die Zusammen- hänge überprüfender Weise erfol- gen, nicht wie bisher in der übli- chen, fast nur tabellarisch aufzäh- lenden Weise. Für die theoretische Basis bietet sich in dieser Hinsicht die Übernahme humanökologi- scher Konzepte an.

Dadurch könnten auch Fragen aus dem Kreis der praktischen Ärzte und Allgemeinärzte als wichtige Erfahrungen in die wissenschaft- liche Diskussion eingebracht wer- den. Andererseits kann man durch eine derartige Verbindung auch ökologisch-medizinisches, wis- senschaftliches Wissen als sachli- che Lebenshilfe in die Bevölke- rung rückvermitteln. Die oft ge- wünschte ganzheitliche Sichtwei- se (36) erscheint damit ohne Preis- gabe von wissenschaftlichen Dif- ferenzierungen und Spezialisie- rungen möglich.

Auch im stationären Sektor ergibt sich vor allem im rehabilitativen und im (tertiär) präventiven Be- reich eine humanökologische Auf- gabenstellung. Bei der Entlassung aus der stationären Behandlung erwartet der Patient oft vom Arzt Empfehlungen zur Lebensfüh- rung, die die Verschlechterung seines Leidens oder das Wieder- auftreten der Erkrankung verhin- dern sollen. Mehr Sport und weni- ger Rauchen, Trinken und Essen sind häufige Empfehlungen, deren wissenschaftliche Basis für den Einzelfall oft schmal ist und die oft wenig an die individuellen Eigen- heiten des Patienten und seiner Situation angepaßt sind. Die Ab- lehnung des Arztes ist dann oft die Folge.

„Lebensführung" ökologisch defi- niert würde hier bedeuten, daß der Patient lernt den Umgang mit sei- nen Beziehungen zu sich selbst (mit seinen Erwartungen, Zielen, Plänen) und zu seiner Umwelt (mit ihren Angeboten, Anforderungen, Zwängen, Erwartungen) seinen krankheitsbezogenen Fähigkeiten (ökologische Potenz) anzupassen.

Die Anpassung der persönlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse des Kranken an die Möglichkeiten und Grenzen seiner Umwelt ist also das Ziel einer ökologischen Medi- zin (37).

In der Chirurgie beispielsweise be- deutet das, Fragen zu beachten, die die rehabilitativen Kapazitäten des Umfeldes des Patienten, die

(5)

täglichen Belastungsfaktoren so- wie die Hindernisse betreffen, die einem ambulanten Rehabilita- tionsprogramm entgegenstehen.

Vor allen Dingen sind die „sozia- len Netzwerke" (Angehörige, Nachbarn, Freunde), auf die sich der Rehabilitant beziehen kann, zu beurteilen, insbesondere wenn posttraumatische Defektzustände gegeben sind.

Im Verbund damit stellt sich auch für die Neurologie bei verschiede- nen Erkrankungen die Frage, ob die Umweltverhältnisse es erlau- ben, den Patienten nach Hause zu entlassen oder ob andere Unter- bringungsmöglichkeiten in Be- tracht gezogen werden müssen (z. B. Paresen). Diese Fragen mün- den in eine „Ökologie der Behin- derten", wie sie Paul bereits skiz- zierte (38). Auch in der inneren Medizin zeigen viele Erkrankun- gen eine ökologische Dimension.

Das Paradebeispiel sind die Infek- tionskrankheiten.

Besonders wichtig sind jedoch die Alterspatienten, bei denen die Ein- schätzung des Aktionsradius, der Mobilität, Wohnsituation, der Ver- kehrsverhältnisse sowie die sozia- le und personelle Situation oft im Hinblick auf das vorliegende Lei- den wichtig ist: Kann der Patient noch nach Hause oder ist der Um- zug in ein Heim zu empfehlen? Bei gerontopsychiatrischen Patienten kann sich der Arzt der Notwendig- keit, solche Betrachtungen diffe- renziert vorzunehmen, nicht mehr entziehen. Es ist daher verständ- lich, daß auch für die Geriatrie die von Paul herausgearbeiteten hu- manökologischen Ansätze be- deutsam sind (39).

In der Psychosomatik stellt sich die ökologische Frage auf der Ebene des Umgangs mit sich und der Umwelt. Bei Krankheiten, bei denen „Streß" als wesentliche Krankheitsursache in Betracht kommt (z. B. Herzinfarkt), finden sich psychosomatisch orientierte Rehabilitationskliniken, die diese Aspekte mitbehandeln helfen.

Theoretisch haben sich T. von Uexküll und seine Mitarbeiter dar- um bemüht, eine umfassende und grundlegende ökologische Be- trachtungsweise herauszuarbei- ten (40).

Besonders bedeutsam ist aber ei- ne ökologische Perspektive für die Psychiatrie (und Psychotherapie), die ja mit besonderer Intensität mit dem gesamten Umfeld des Patien- ten konfrontiert ist. Hilfen beim Ar- beitgeber, für die Wohnsituation, im privaten und sozialen Umfeld, Aktivierung des Freizeitbereiches usw. sind ökologische Aufgaben, die mit der Behandlung der Sym- ptome nur sekundär zu tun haben, aber für den Verlauf der Gesun- dung und für die Rezidivprophyla- xe oft von erhebliche Bedeutung

„Publikationen zum Thema Umweltmedizin bedürfen ei- ner kritischen Überprüfung, weil sie oft nicht frei von Pro- paganda, Emotion und Wunschdenken sind."

(Bundesärztekammer, 1974)

zu sein scheinen. Ansatzweise hat erst Dörner solche Aspekte als ökologische Aufgabe in der Psychiatrie hervorgehoben (41).

Auch in anderen klinischen Diszi- plinen stellen sich verschiedent- lich humanökologische Aufgaben, beispielsweise in der Gynäkologie (!), in der Pädiatrie, Orthopädie usw. (42).

Es wird somit deutlich, daß eine ökologische Perspektive in der Medizin nicht nur in der aktuellen

„Umweltdiskussion" und im theo- retischen Bereich klärend, son- dern auch in der Praxis hilfreich wäre, da sie die „Mensch-Umwelt- Passung" als Problem und Aufga- be exakter erfassen könnte, wo bisher nur intuitive Entschei- dungsgrundlagen zur Verfügung standen. Keineswegs ist damit der Weg für eine neue Spezialdisziplin

„Ökomedizin" gebahnt. Vielmehr ginge es darum, daß Radiologen, Pharmakologen und Pathologen

mit klinischen Disziplinen wie All- gemeinmedizin, Innere Medizin, Chirurgie, Neurologie, Dermatolo- gie, Pädiatrie, Psychiatrie, Psycho- somatik usw. den Aufbau einer einerseits differenzierten, aber in- tegrativen ökologischen Medizin vorantreiben.

Eine enge Zusammenarbeit mit Biologen und Psychologen er- scheint dabei unumgänglich. An- gesichts der vorherrschenden Spezialisierungen und der Praxis, zu komplexeren Fragen unvermit- telt meist relativ isoliert arbeitende Experten kurzfristig zur gemeinsa- men Stellungnahme zu bringen, erscheint ein solches Vorhaben dringlich notwendig.

Zwar besteht Gefahr, daß eine praktizierte ökologische Medizin Folgekosten für Krankenkassen bedeutet, Überansprüche von und gegenüber der Medizin als totale Lebensfürsorge entstehen und daß sich Übergriffe in gesell- schaftspolitische Fragestellungen ergeben. Doch dürfen diese Aspekte nicht daran hindern, ge- zielter die Integration medizini- schen Wissens zur Frage „Umwelt und Gesundheit" zu institutionali- sieren.

Die zunehmende Zahl von Men- schen, die sich über Auswirkun- gen der sich zusehends verän- dernden Lebensbedingungen auf die psychische und physische Ge- sundheit Sorgen macht, müßte ei- gentlich Anlaß genug sein, die Fundierung einer ökologischen Medizin voranzutreiben. Die Grün- dung praxisfreundlicher, multidis- ziplinär besetzter universitärer Ar- beitsgruppen (oder gar Instituten) wäre zumindest in Form von Pilot- Projekten notwendig, wenn die Medizin ihrer Ratgeberfunktion zu Gesundheitsfragen weiter gerecht werden will.

Literatur und weitere Nachweise beim Verfasser

Dr. Dr. Felix Tretter Pündterplatz 3 8000 München 40

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