Die Information:
Bericht und Meinung AUS EUROPA
ITALIEN
Streiks und Pistolenschüsse
Völlig verwirrt und unübersichtlich war die Situation in Italien in den letzten Tagen vor dem lange vorher- sehbaren Inkrafttreten des Kern- punktes der „Riforma sanitaria", die letztendlich zu einer Art staatlichen Gesundheitsdienstes führen soll:
Am 1. Juli 1977 wurden die Kranken- kassen „aufgelöst", ihre Kompeten- zen wurden von den Regierungen der Regionen übernommen.
Praktisch bedeutet diese „Auflö- sung", daß zwar die Verwaltungen der Krankenkassen, so wie sie bis- her arbeiteten, zunächst bestehen- bleiben, ihre Leitung jedoch von Staatskommissaren übernommen wird. Ansonsten läuft zunächst alles weiter wie bisher.
Aktionen für die Reform
Genau dies aber war der Grund, weshalb in der Woche vor dem Stichtag ein großer Teil der italieni- schen Ärzte von einer Vereinigung der meisten ärztlichen Berufsver- bände, der „Intersindacale medica", zu einem dreitägigen Streik aufgeru- fen wurde, der auch in den meisten Teilen Italiens weitgehend befolgt wurde. Dieser Streik richtete sich nicht gegen die „Riforma sanitaria"
— er sollte vielmehr die beiden Häu- ser des Parlamentes darauf auf- merksam machen, daß eine Reihe von Voraussetzungen für einen rei- bungslosen Übergang der Kranken- kassen in Staatshand noch schleu- nigst geregelt werden müßte; zwei diesbezügliche Gesetzentwürfe be- fanden sich in diesem Augenblick noch in den Ausschüssen von Senat und Abgeordnetenkammer.
Die Ärzte waren dabei natürlich an drei speziellen Problemen interes- siert, die vornehmlich die Ärzte an- gehen — allerdings sind diese Fragen auch innerhalb der Ärzteschaft um-
stritten, und die Öffentlichkeit ver- steht sie, weil sie recht kompliziert sind, schon gar nicht.
Es geht dabei um die Frage der Ver- träge zwischen den freipraktizieren- den Kassenärzten und den Kranken- kassen: Vor drei Jahren sind die ver- traglichen Bestimmungen, die da- mals bestanden, durch ein Regie- rungsdekret festgeschrieben und blockiert worden, weil die Regie- rung verhindern wollte, daß durch eine Weiterentwicklung von Ver- tragsbestimmungen die „Auflö- sung" der Krankenkassen erschwert würde. Unter den Kassenärzten hat diese Blockierung natürlich zu gro- ßem Unmut geführt, weil sich seit- dem auch die Honorare nicht mehr geändert haben — trotz beachtlicher Inflationsraten. Der Streik sollte den baldigen Neuabschluß von Verträ- gen erreichen.
Die Aktion sollte ferner dazu dienen, den freiberuflichen Charakter der kassenärztlichen Tätigkeit soweit wie möglich auch nach der Über- nahme der Krankenkassen durch den Staat beizubehalten; insbeson- dere wenden sich die Ärzte dage- gen, daß Kassenärzte, in deren Liste eine bestimmte Anzahl von Patien- ten eingetragen ist, keine private Ne- bentätigkeit mehr ausüben sollen, dies vielmehr nur denjenigen Ärzten erlaubt sein soll, deren Patienten- zahl unter dieser Größenordnung liegt. Damit würden gerade die er- folgreichen Ärzte, so meinen die ärztlichen Organisationen, dem An- pestelltenverhältnis nähergebracht.
Schließlich — und deshalb kamen in diesem Fall Krankenhaus- und Kas- senärzte in einer Aktion zusammen — wollten auch die Krankenhausärzte wieder einmal darauf aufmerksam machen, daß sie durch das Verbot freiberuflicher Nebentätigkeit in ih- rer Berufsausübung eingeschränkt seien.
Motiv
im Hintergrund
Die Regierung, die ohnehin von zahlreichen völlig anderen Sorgen geplagt wird, zeigte sich in dieser
Angelegenheit sehr gelassen und verwies darauf, daß zur Zeit das Par- lament das Wort habe. Sie konnte das im übrigen auch deshalb tun, weil von dem Streik keine sonder- liche Wirkung zu erwarten war. In Regierungskreisen weiß man sehr genau, daß trotz der recht ein- drucksvoll erscheinenden Streikbe- reitschaft der Ärzte (der Notdienst und die Intensivbehandlung waren übrigens überall sichergestellt) die Interessen innerhalb der verschiede- nen Ärztegruppen recht stark diver- gieren und die wirkliche Sorge der Ärzte an einer ganz anderen Stelle drückt: Es ist die Tatsache, daß die Zahl der jungen Ärzte, die von den Universitäten kommen, in rapidem Rhythmus ansteigt. In den vergan- genen Jahren war es nicht möglich, den Staat zu einer Ausbildungspoli- tik zu bewegen, die wenigstens halbwegs eine Übereinstimmung zwischen dem Ärztebedarf und der Zahl der Studienabgänger hätte her- beiführen können. In weiten Teilen der italienischen Ärzteschaft hat sich deshalb eine Stimmung ausge- breitet, die darauf hinzielt, dem Staat, der diese Fehlentwicklung zu verantworten hat, nun auch die Ver- antwortung dafür aufzubürden, wie die Ärzte beschäftigt werden kön- nen. Damit entstand aber auch die Bereitschaft, die bekanntermaßen höchst personalintensive Verstaatli- chung des Gesundheitswesens hin- zunehmen, ja sie sogar durch Aktio- nen wie die von Ende Juni zu unter- stützen.
Dissidenten
in Bozen und Mailand
Dies ist nun allerdings nicht überall der Fall. Die Bozener Ärztekammer hat, wie ihr Präsident Dr. Schuster Ende Juni auf der Konsultativtagung der ärztlichen Organisation der deutschsprachigen Länder in Win- terthur berichtete, innerhalb der Fö- deration der italienischen Ärztekam- mern immer gegen einen staatlichen Gesundheitsdienst gesprochen. In der Provinz Bozen sind die Verhält- nisse insofern etwas günstiger, als es dort nur sehr wenige Krankenkas- sen gibt, so daß deren „Auflösung"
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 30 vom 28. Juli 1977 1901
Die Information:
Bericht und Meinung Reform auf Italienisch
tatsächlich eher nur den Charakter einer Umfirmierung hat. Nicht betei- ligt haben sich am Streik auch die Ärzte in der Stadt und der Provinz Mailand - mit einer ganz anderen Begründung: Wir sind, so erklärte der Sekretär der Ärztekammer und Präsident der Vereinigung der Kas- senärzte, Dr. Roberto Anzalone, ge- gen die Verstaatlichung des Ge- sundheitswesens, und wir werden deshalb auch nicht für Forderungen kämpfen, die innerhalb eines sol- chen Konzepts zugunsten der Ärzte verwirklicht werden sollten.
Attentat
auf den Kammersekretär
Hier geschah nun etwas Groteskes:
Als Dr. Anzalone am 24. Juni 1977- dem letzten der drei außermilanesi- schen Streiktage - abends seine Praxis verließ und gerade seinen Fiat 500 besteigen wollte, stand plötzlich ein gut gekleideter bärtiger junger Mann vor ihm, zog eine Pisto- le 38 und schoß ihm sechs Kugeln in die Beine.
Mit erheblichen Verletzungen - ein Schienbein und ein Knie waren durchschossen - wurde Anzalone ins Krankenhaus Fatebenefratelli gebracht, wo er zwei bis drei Monate wird liegen müssen.
Zwei linksradikale Organisationen meldeten sich später und bean- spruchten die Urheberschaft des At- tentats, die "Roten Brigaden" und eine weniger bekannte Organisation namens "Prima Linea". ln einem Schriftstück der "Prima Linea", das in einer Telefonzelle gefunden wurde, stand der Vorwurf, Anzalone habe sich der werktätigen Bevölke- rung gegenüber insbesondere da- durch feindselig gezeigt, weil er Re- geln über die Krankschreibung ver- faßt und an die Ärzte weitergegeben habe. Daß "Prima Linea" mit diesem Attentat etwas zu tun haben könnte (allerdings: es gibt ungefähr 60 mehr oder weniger gewalttätige Or- ganisationen in Italien, jedenfalls nach einer Liste, die vor wenigen Wochen in der Zeitschrift der Verei- nigung der höheren Polizeibeamten
DIE ARZNEIMITTELKOMMISSION
DER DEUTSCHEN ÄRZTESCHAFT GIBT BEKANNT:
Strenge
Indikationsstellung für Clomethiazol!
Durch das Frühwarnsystem zur Erfassung von Verände- rungen der Mißbrauchsmuster chemischer Stoffe in der Bun- desrepublik*) wurde die Arz- neimittelkommission der deutschen Ärzteschaft darauf aufmerksam gemacht, daß der immer noch zunehmende Mißbrauch von Clomethiazol durch Alkoholkranke jetzt auch auf Nicht-Alkoholkranke übergreift.
Bei der Verschreibung von Clomethiazol ist darum in Zu- kunft an die Möglichkeit miß- bräuchlicher Verwendung auch durch Nicht-Alkohol- kranke zu denken.
~ Die Arzneimittelkommis- sion der deutschen Ärzte- schaft rät daher in Zusam- menarbeit mit dem Bundesge- sundheitsamt, Clomethiazol nicht über die Dauer akuter bedrohlicher Zustände hinaus zu verabreichen. lnsbesonde-
') Professor Dr. med. W. Keup, Kari- Bonhoeffer-Nervenklinik, Oranien- burger Straße 285, 1000 Berlin 26.
Italiens veröffentlicht wurde), hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich: Es waren wahrscheinlich auch Mitglieder von "Prima Linea", die im Dezember vergangenen Jahres ei- nen Überfall auf das Büro der Verei- nigung der Mailänder Kassenärzte ausgeführt, den Vizepräsidenten Dr.
Giorgio Occhipinti mit einem Pisto- lenknauf niedergeschlagen und 40 000 Lire (etwa 110 DM) gestohlen hatten.
re dürfen Alkoholkranken keine den akuten Bedarf über- schreitenden Mengen ver- schrieben oder mitgegeben werden. Bei der nur in der Ge- riatrie unter strenger Indika- tionsstellung darüber hinaus- gehenden Behandlung ist dar- auf zu achten, daß die ver- schriebene Menge dem tat- sächlichen Bedarf des Patien- ten entspricht. Es ist bekannt, daß Süchtige sich Clomethia- zol über Verschreibung an Dritte verschaffen.
~ Erneut wird außerdem daran erinnert, daß Clome- thiazol nur zur Behandlung des Entziehungs- und Konti- nuitätsdelirs und nicht zum psychischen Entzug (Entwöh- nung) des Alkoholkranken verschrieben werden soll.
Auch bei Abhängigkeit von anderen Substanzen ist Clo- methiazol wegen der Gefahr einer polyvalenten Sucht grundsätzlich kontraindiziert;
die Anwendung beim schwe- ren körperlichen Entzugssyn- drom sollte auf Fachkliniken beschränkt bleiben.
Präparat: Distraneu rin® lnfu- sionslösung, lnjektionslö- sung, Kapseln, Mixtur und Ta- bletten (Astra Chemicals)
Das Attentat auf Dr. Anzalone - in- nerhalb von wenigen Wochen das fünfte auf einen Prominenten, das in der Form des Schießans auf die Beine ablief - hatte zur Folge, daß die Mailänder Ärzte nun ihrerseits aus Protest gegen dieses Attentat, aber auch aus Protest gegenüber Regierung und Behörden, die ein solches Klima der Gewalttätigkeit nicht zu ändern vermögen, ihre Ar- beit für drei Tage niederlegten. bt
1902 Heft 30 vom 28. Juli 1977 DEUTSCHES ARZTEBLATT