Klinische Novelle
Oliver Sacks: Der Tag, an dem mein Bein fortging, Ro- wohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1989, 223 Seiten, gebunden, 34 DM
„Das Ich ist zunächst ein körperliches", schrieb Freud.
Die körperliche Neurologie der Funktionen aber verliert dieses Ich mit seinen existen- tiellen Erfahrungen leicht aus ihrem Blick. Ein Paradox?
Wenn ein Neurologe auf ei- ner Bergwanderung stürzt, sich mit gerissener Quadri- ceps-Sehne ins Tal zurück- schleppt, glücklich gefunden, in ein Krankenhaus transpor- tiert und schließlich operiert wird, ist er dann gerettet?
Scheinbar ja. Wenn aber nach der Operation der Ober- schenkel wabbelig wird, das Bein dem Körper nicht mehr gehorcht, ja, nicht mehr ge- hört? Wenn dann der behan- delnde Chirurg sagt: „Unsinn.
Es ist gar nichts": dann be- ginnt die Erfahrung, Patient zu sein, auf der anderen Seite der Medizin. Zunächst wird das Bein verrückt, dann sozu- sagen der Neurologe selbst.
Die naheliegende Diagnose einer peripheren Nervenlä- sion wird verfehlt, der Patient gerät in eine Lebenskrise. Er schildert uns „das Tasten ei- ner verirrten, verwirrten See- le durch die Finsternis der langen Nacht". Diese Finster- nis sucht er zu erhellen durch Nachdenken über sich selbst, über den modernen Medizin- betrieb, aber auch durch Er- leuchtungen, die leidende Meister gesetzt haben, von Leibniz bis Wittgenstein, von Hiob bis T. S. Eliot. Mag hier die Grenze von der Pretiosi- tät zur Prätentiosität auch hin und wieder gestreift werden, so besticht doch die Ehrlich- keit, mit der der Weg der Lei- den geschildert wird. Er en- det glücklich: In einer Reha- Klinik meldet sich das Bein zurück. Er endet aber auch mit einem überraschenden Rückgriff auf Kant und dem versuchten Ausblick auf eine
„Neurologie der rechten Hirnhälfte". Zu wirr? Dann lesen Sie es einfach, in der vorbildlich klaren Überset- zung von D. van Gunsteren, als eine spannende klinische Novelle!
Jan Christians, Schöningen
Federführende Ärzte
Peter Pfeiffer, Harald Rauchfuss (Hrsg.): ÄSIB — Ärzte schreiben in Bayern, Erster Band, Ph. C. W.
Schmidt Verlag, Postfach 16 60, D-8530 Neustadt/
Aisch, 1988, 391 Seiten Erstaunlich, was da aus Bayern auf den Tisch kommt
— aus „den frischen Gräbern der Schubladen"! Ein erfreu- liches unpathetisches Vor- wort sagt auch, was man will:
Erfahrungen aus mensch- lichen Kontakten (Patienten) aufarbeiten, ferner eine Sammlung gedanklicher
„Ausflüsse" einer (nur regio- nalen?) Berufsgruppe zur Diskussion stellen, und eine anregende Demonstration anbieten, die zeigt, „daß jeder Gedanke und jede Äußerung ihren Wert haben", nicht sel- ten auch einen therapeuti- schen. Verblüffend, mit wel- chem Mut ganz unterschied- liche (zum Beispiel vom Al- ter, der literarischen Ana- mnese, des erprobten Kön- nens oder des noch unerprob- ten Talentes) Autoren sich hier auf doch beachtlichem Niveau präsentieren: Wirk- lich nur „etwas Verlegenheit, ein bisserl Hochmut, etwas Torheit, etwas Respekt, ein bißchen Eitelkeit oder ein bißchen Bescheidenheit" — wie es als humorvolles Under- statement im Nachwort heißt? . . . Was solls? Der Band gefällt, kommt an, spricht an und macht schon die Runde. Wie treffend for- muliert es doch einer der Herausgeber am Schluß: „In solcher Weise übergibt ÄSIB dem Leser Notwendiges — es öffnet und schließt Türen und läßt bedenken, was einen flüchtigen Augenblick zu se- hen war: die gemeinsame Welt im Widerschein indivi- dueller Spiegel, bisweilen hart, zuweilen zart im Wort angegangen." Als „Nordlicht"
— gibt es da eine literarische Nord-Süd-Achse? — bleibt ei- nem nur zu sagen: Konkur- renz belebt! Wenn schon (wer weiß?) nicht das Geschäft, so
doch die Geschäftigkeit schreibender Ärzte. Man ge- winnt gerade bei diesem Buch den Eindruck: Wie gut, daß es sie gibt! Keine schlechte Idee, gleich den 2. Band an- zukündigen! Irgendwie tut sich da was in Bayern, seit eh und jeh schon die Wiege fe- derführender Ärzte! Ein Ge- danke, der öfter beim Lesen auftauchte: Eigentlich müs- sen Ärzte vom Leben schrei- ben, da sie nicht vom Schrei- ben leben müssen.
Gerhard Uhlenbruck, Köln
Gestörte Beziehungen
Adelheid Duvanel: Das verschwundene Haus, Erzäh- lungen, Luchterhand Litera- turverlag, Darmstadt, 1988.
88 Seiten, 22,80 DM.
Tiefgreifende Beziehungs- störungen scheinen die Men- schen, von denen die kurzen Episoden berichten, wie durch einen Graben von Ver- ständnislosigkeit voneinander zu trennen. Auf unverstande- ne Handlungen folgen häufig scheinbar sinnlose Reaktio- nen, begleitet von Gesprä- chen, in denen die Protagoni- sten aneinander vorbeireden.
Allein der Leser wird zum Mitwisser der Probleme de- rer, die durch fehlendes Ur- Vertrauen oder einschnei- dende Veränderungen in ih- rem Leben der Einsamkeit und Schutzlosigkeit preisge- geben und für allgemeine Le- bens- und Problembewälti- gung nicht gerüstet sind — al- leingelassen von Mitmen- schen, die sich ihnen durch hektische Betriebsamkeit ver- weigern.
Ein Gefühl der Beklem- mung beschleicht den Leser.
Sind uns allen nicht solche Gespräche auch bekannt? Ei- ne Problematik, auf die Adel- heid Duvanel den Leser mit außerordentlicher Eindring- lichkeit aufmerksam macht.
1987 wurde sie für diese Er- zählungen mit dem Literatur- preis der Stadt Basel ausge- zeichnet. UF
Moderner Harem
Prinzessin Djavidan Ha- num: Harem, Erzählungen, Verlag Vis-ä-Vis, Berlin, 1988, 391 Seiten, 39,80 DM
Harem — das Wort öffnet die Tür zu einer Welt, die bis heute Traumstoff und Aphro- disiakum für uns Europäer geblieben ist. Prinzessin Dja- vidan Hanum, die aus dem europäischen Adel ent- stammte, heiratete 1908 den letzten Khediven von Ägyp- ten, der 1914 von den Englän- dern abgesetzt wurde. Der Herrscher, in Europa erzogen und ausgebildet, war aufge- klärt und modern. Doch nach außen mußte der Schein der orientalischen Ehe gewahrt werden. Der moderne Harem wird als Ort ohne Leiden- schaften beschrieben, an dem
es weder Muttergefühle noch Kommunikation gibt, sondern nur Berechnung und Proto- kolle, das entwertete Objekt
„Frau" und den Mann als ah- nungsloses Opfer der Macht- strukturen. Durch ihre eigene Situation und im Verkehr mit anderen orientalischen Herr- scherhäusern, in denen die al- te Tradition des Harems mit Vielweiberei, Eunuchen- und Sklaventum herrschten, setzt sich die Autorin intensiv mit der Stellung der Frau im Is- lam auseinander. Ihre Erin- nerungen münden in ein Plä- doyer, daß die trennenden Mauern zwischen Mann und Frau — nicht nur im Harem — fallen sollen und in dem Ap- pell, daß die Menschen sich mit weniger Gleichgültigkeit und mit mehr Güte begegnen mögen.
Andrea Klünsch, Troisdorf A-1872 (80) Dt. Ärztebl. 86, Heft 24, 15. Juni 1989