DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
DER KOMMENTAR
W
irtschaftstheoretische Er- kenntnisse und aus der praktischen wirtschaftspo- litischen Erfahrung gewonnene Lehrsätze scheinen immer mehr auch die Gesundheitspolitik zu befruchten: Analog zum magi- schen Drei- oder Vier-Eck („Poly- gon") der Wirtschaftspolitik gibt es auch in der praktischen Ge- sundheitspolitik Zielbündel und Handlungsmaximen, die im Wi- derstreit stehen.Die vier gesundheitspolitischen Ziele, die landauf, landab den Ge- sundheitspolitikern so leicht von den Lippen gehen, lauten:
1. Vollversicherung aller Bundes- bürger in der gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV);
2. Maximalmedizin und perma- nente Verwirklichung des medizi- nisch-technischen und wissen- schaftlichen Fortschritts, des me- dizinisch wie technisch Machba- ren bei gleichzeitiger quantitati- ver und qualitativer bestmöglicher personeller wie instrumenteller Ausstattung aller Einrichtungen des Gesundheitswesens — selbst- verständlich mit einer flächendek- kenden, optimalen Verteilungs- struktur von der Wiege bis zur Bahre, Babys wie Greise mit ein- schließend.
3. die Garantie und Realisierung einer möglichst preiswerten Ver- sorgung und
4. gesetzliche, vertragliche wie tarifvertragliche Absicherung möglichst hoher Einkommen aller
„Produzenten" und „Leistungs- anbieter" im Gesundheitswesen, insbesondere aller Fachberufe im Gesundheitswesen, insonderheit auch der Angehörigen der selb- ständigen (akademischen) Heilbe- rufe.
Jeder weiß, nicht erst seit Inkraft- treten des New Deals in der Ge- sundheitspolitik und der Analysen theoretisch wie realpolitisch en- gagierter Gesundheitsökonomen, daß das Gesundheitswesen und
insbesondere die gesetzliche Krankenversicherung nicht durch
„himmlische Quellen gespeist"
werden (so ein Spruch des auch für das Gesundheitswesen — teil- weise — zuständigen Bundesmini- sters für Arbeit und Sozialord- nung, Dr. phil. Norbert Blüm).
Vernunft und Einsicht in die real- politischen „Sachzwänge" ge- mahnen: Nur jeweils zwei der im magischen Dreieck der Gesund- heitspolitik aufgelisteten Zielfixie- rungen sind — wenn auch unter Anstrengung und Disziplinierung
— gleichzeitig annähernd zu rea- lisieren. Wer aber verspricht, drei oder gar vier miteinander konkur-
Magisches Viereck
rierender gesundheitspolitischer Ziele gleichzeitig anzusteuern und umzusetzen, muß entweder ein begabter Zauberer sein oder aber die Augen vor der Realität verschließen. Denn eine Versiche- rung für alle — und das ist in nahe- zu perfekter Weise die gesetzli- che Krankenversicherung, in der mehr als 92 Prozent Bundesbür- ger Schutz und Heimat finden, schließt eine paradiesische Voll- versicherung zu Hundert-Prozent- Tarifen de facto aus. „Eine solche Totalversicherung für jedes Weh- wehchen und für jeden nicht si- cherungsbedürftigen Bürger de- naturiert das Versicherungsprin- zip." (Münnich)
Heute scheint dringlicher denn je, die Erfahrungen und Theoreme neoliberaler Wirtschaftspolitik auch im Gesundheitswesen nach- zuvollziehen oder zumindest für deren Thesen vorbehaltlos offen zu sein. Denn an der Knappheit volkswirtschaftlicher Ressourcen, die zum wirtschaftlichen Handeln und zu sparsamer Verwendungs-
weise zwingt, kommt auch das Gesundheitswesen nicht vorbei.
Nicht verwunderlich ist es des- halb, daß Stimmen vermehrt dafür plädieren, die üppig ins Kraut ge- schossene soziale Krankenversi- cherung wie auch die übrigen Be- reiche der Sozialversicherung wieder auf eine Grund- und Kern- versorgung zurückzuführen. Eine Entschlackungskur, eine Schlank- heitskur also, die allerdings nicht zur Magersucht führen darf, soll- ten die Gesundheitspolitiker jed- weder Provenienz auf die Fahnen schreiben!
Wenn heute wieder von „überfälli- ger Strukturreform" und einem unabweisbaren Handlungsbedarf im Gesundheitswesen gespro- chen wird, nachdem der bereits eingeleitete staatliche Konsolidie- rungsprozeß abgeschlossen ist, so kann es nur darum gehen, das System wieder funktionstüchtig und langfristig bezahlbarer zu ma- chen. Die Liberalisierung und strukturelle Weiterentwicklung des Systems der Gesundheitssi- cherung kann nicht mißverstan- den werden als eine Aufforde- rung, das Krankheitsrisiko von der Solidarveranstaltung „Gesetz- liche Krankenversicherung" in die Privat- und Individualsphäre völlig zu reprivatisieren. Bei der Weiter- entwicklung der sozialen Kran- kenversicherung muß es vielmehr darum gehen, das System so flexi- bel zu gestalten, daß das Versi- cherungsprinzip auch bei Beibe- haltung des für die gesetzliche Krankenversicherung maßgeben- den Sachleistungsverfahrens wie- der mehr zum Tragen kommt. Fle- xibilität und mehr wettbewerb- liche Spielregeln bedeuten, obso- let gewordene und überzogene Leistungen einzugrenzen, abzu- bauen oder ganz „auszugren- zen", um mit den freigewordenen finanziellen Ressourcen die in ei- ner dynamischen Gesellschaft stets neu auftretenden Risiken über die Solidarveranstaltung Krankenversicherung abzusi- chern. Solidarität und Subsidiari- tät müssen wieder ins Lot ge- bracht werden! Dr. Harald Clade Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 46 vom 14. November 1984 (21) 3401