DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
A
usgerechnet ein weitver- breitetes buntes Blatt, das wegen seines Inhalts auch in vielen Wartezimmern ausgelegt wird, stellt die pro- vozierend klingende Frage„Unsere Ärzte — ein Gesund- heitsrisiko?". An Hand von fünf „Kunstfehlern" versucht das Blatt zu belegen, daß „un- sere Ärzte" zu wenig Fortbil- dung betreiben und daß sie vor allem mit 65 Jahren auf- hören sollten. Dazu wird aus einer Umfrage zitiert: 72 Pro- zent der befragten Bürger hät- ten sich für eine Pensions- grenze für Ärzte ausgespro- chen, 77 Prozent für eine Wis- sensprüfung alle fünf Jahre.
„Es ist also höchste Zeit, daß die Politiker reagieren!", schließt der „Kommentar von vital".
Leider gibt es weit mehr als fünf Behandlungsfehler jähr- lich — warum wurden also nur solche von über 65jährigen Ärzten herausgegriffen? Wei- ter heißt es, Lokführer und
Vertrauen untergraben
Lufthansa-Piloten würden re- gelmäßig ärztlich untersucht, und Piloten würden sogar mit 55 pensioniert. Daß es sich hier um den Unterschied zwi- schen Angestellten und Frei- beruflern handelt, wird nir- gends erwähnt, ebensowenig die Tatsache, daß angestellte und beamtete Ärzte genauso pensioniert werden wie jeder andere Arbeitnehmer.
Eine „erschreckende Abnah- me" der Bereitschaft der Ärz- te, sich fortzubilden, wird fol- gendermaßen „belegt": 1977 hätten 9563 deutsche Ärzte an internationalen Fortbildungs- kongressen teilgenommen, im letzten Jahr waren es noch 4259. Bei diesen Zahlen kann es sich nur um die Bundesärz-
tekammerkongresse handeln
— als ob es gar keine anderen Kongresse gäbe, von nationa- len und regionalen Fortbil- dungsveranstaltungen ganz zu schweigen, und als ob nur Kongreßfortbildung vor Be- handlungsfehlern schützte!
Soll man „vital" etwa so ver- stehen, daß jüngere Piloten oder Lokführer niemals Feh- ler machen und daß jüngeren Ärzten niemals Diagnose- oder Behandlungsfehler un- terlaufen? In Amerika sind bei einigen Facharztgruppen re- gelmäßige Nachprüfungen vorgeschrieben; trotzdem häufen sich dort die Behand- lungsfehlerprozesse. Aber da- von hat man bei „vital" offen- bar noch nie etwas gehört.
Es ist also höchste Zeit, daß
„vital" aufhört, mit schiefen Vergleichen, willkürlich her- ausgegriffenen Fällen, fal- schen Zahlen und rührseligen Friedhofsfotos das Vertrauen der Bevölkerung zu den Ärz- ten zu untergraben! gb
up
ie Konzertierte Aktion hat den Bundesarbeitsmini- ster beauftragt, zusam- men mit den Leistungsträ- gern, den Krankenkassen und übrigen Beteiligten ein Ge- samtkonzept zur Weiterent- wicklung des gegliederten Systems der Gesundheitssi- cherung zu entwickeln. Das klingt zwar löblich, wurde aber schon früher herunterge- betet, ohne eine realistische Gesundheitspolitik zu bewir- ken.Die Systemstabilisierung muß unter maßgeblicher Einbezie- hung der Selbstverwaltung der Ärzteschaft bei Zusiche- rung fairer Rahmenbedingun- gen geschehen. Unter diesen Prämissen kann es gelingen, eine Übereinkunft über ein ausreichendes, langfristig fi- nanzierbares „Kernangebot"
der Krankenversicherung zu erzielen. Wenn jetzt über Mil- liardendefizite und Beitrags- erhöhungen erneut geklagt wird, so werden diese weitge-
Defizit-
Solidarität?
hend vom gesetzlich erzwun- genen Defizit in der Rentner- krankenversicherung verur- sacht. Allein 1,6 Milliarden DM des Drei-Milliarden-Defi- zits im Jahr 1984 resultieren aus Mehrausgaben für Rent- ner, die die aktiv Versicherten zusätzlich zu ihrem Solidar- beitrag im Rahmen der Lohn- entwicklung zahlen mußten.
Bei 29 Prozent Rentneranteil beanspruchen die Rentner mehr als 50 Prozent der Lei- stungsausgaben für Arznei- mittel. Allein das wachsende Defizit in der Rentnerkran- kenversicherung verdeutlicht, daß Gedeih und Verderb der Krankenversicherung we- sentlich davon abhängen, ob die Rentnerkrankenversiche-
rung auf ein sozial ausgewo- genes Fundament gestellt wird. Dies bedeutet: Entwe- der die Rentner selbst oder die Rentenversicherungen müssen für die wachsenden Krankheitsausgaben der Rentner in weit höherem Ma- ße als bisher einstehen. Zu- mindest finanzierungstech- nisch muß die Rentnerkran- kenversicherung von der Krankenversicherung der Ak- tiven „abgekoppelt" und im Sinne einer klaren und wah- ren „Buchführung" so finan- ziert werden, daß nicht eine Gruppe permanent Kostgän- ger der anderen ist.
Um nicht erneut mißverstan- den zu werden: Die Rentner sollen nicht aus der Solidar- gemeinschaft hinauskompli- mentiert werden, sondern es sollte künftig eine tragfähige- re Finanzierungsgrundlage geschaffen werden, die sich mehr nach dem Solidaritäts- und Verursacherprinzip aus- richtet. HC
Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 15 vom 10. April 1985 (1) 1037