Zur Fortbildung Aktuelle Medizin KOMPENDIUM
Die Diagnose einer chronisch pro- gressiven oder in Schüben verlau- fenden spinalen Erkrankung sollte ohne Untersuchung des Liquor ce- rebrospinalis und ohne Kenntnis des Röntgenbefundes der gesam- ten Wirbelsäule nicht gestellt wer- den. Sie ermöglichen erst die Dif- ferentialdiagnose zwischen spina- ler Systemerkrankung und opera- bler Neubildung des Rückenmarks selbst, seiner Wurzeln, Blutgefäße und Hüllen. Fehldiagnosen erfol- gen besonders häufig bei denjeni- gen Neubildungen am Rückenmark (insbesondere arteriovenöse An- giome), die ohne Schmerzen ein- hergehen. Bei Kindern und Ju- gendlichen wird häufig mangels ei- nes neurologisch - krankhaften Be- fundes der sehr schmerzhafte Tu- mor des Kaudasacks übersehen.
Halsmarktumoren, besonders die hohen, lassen sich manchmal auch mit einer Kontrastdarstellung des Spinalkanals nicht erfassen, und seine Symptome werden als Zervi- kalsyndrom beziehungsweise zervi- kale Myelopathie bei Osteochondro- se der Halswirbelsäule mißdeutet.
Aber auch wenn alles paßt: gürtel- förmiger segmentaler Schmerz im Brust- oder Bauchbereich mit spa- stischer Lähmung der Beine, viel- leicht gar mit Störungen der Bla- sen-Mastdarm-Sphin kter-Funktion und Sensibilitätsausfällen, kommt es immer wieder vor, daß in erster Linie an eine Erkrankung derjeni- gen Organe gedacht wird, die in den Schmerzbereich einbezogen sind; vor allem werden Gallenbla-
se, Appendix oder Adnexe ver- dächtigt. Auch die röntgenologisch nachgewiesene einseitige, scharf- randige Erweiterung eines Fora- men intervertebrale kann einer Strahlentherapie zugeführt werden;
und endlich ist im Liquor die Dis- sociation cyto-albuminique (Guil- lain-Barrä-Syndrom), das heißt ein Mißverhältnis zwischen Zellzahl und Eiweißgehalt im Liquor zu- gunsten des letzten, nicht immer Ausdruck einer Polyneuritis, son- dern sie kommt genausogut beim Rückenmarktumor als sogenann- ter Sperrliquor (Nonne-Froinisches- Syndrom) vor.
Wenn man nicht den Raritäten zu- viel Gewicht beimessen will, dann sind eigentlich nur fünf Neubildun- gen im Wirbelkanal von Bedeu- tung:
O Neurinom
• Meningeom
• Ependymom
O arteriovenöses Angiom
O primäre oder metastatische Ge- schwülste der knöchernen Wirbel- säule mit Rückenmarkbeteiligung.
Diese Neubildungen können fol- gende topische Beziehungen zum Rückenmark haben:
O Intramedullär (Ependymom, Tei- le eines Angioms),
Bei der Kontrolle der Ana- mnesendauer von Patienten mit Rückenmarktumoren zeigt sich gelegentlich, wie notwendig es ist, darauf hin- zuweisen, daß für die Differen- tialdiagnose zwischen einer Systemerkrankung des Rük- kenmarks und einer Neubil- dung unbedingt Röntgenauf- nahmen der gesamten Wir- belsäule, Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit und beim geringsten Verdacht auf einen Tumor die Kontrastdar- stellung des Wirbelkanals er- forderlich sind.
• iuxtamedullär (zwar innerhalb der Häute, aber außerhalb des Marks), z. B. Neurinome, Menin- geome, arteriovenöse Angiome;
O sowohl iuxtamedullär als auch extradural (sanduhrförmige Menin- geome),
O rein extradural (selten Menin- geome, aber vorwiegend Metasta- sen).
Auf die Abschnitte der Wirbelsäule bezogen, finden sich Neurinome
`überall vom Hals- bis zum Lenden- bereich; Meningeome sind bevor- zugt in der Brustwirbelsäule lokali- siert, Ependymome trifft man am häufigsten im Kaudasack am Filum terminale. Arteriovenöse Angiome können lange Strecken des ganzen Rückenmarks zwischen Hals- und Lendenbereich bedecken; nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung müssen Metastasen die zwölf Brustwirbel häufiger befallen als die sieben Hals- oder fünf Lenden- wirbel.
Wie fast alle neurologischen Krankheitsbilder, so haben auch die Rückenmarktumoren artver- schiedene Alterspräferenzen:
0 Beim Kinde und beim Heran- wachsenden findet sich am ehe- sten ein Ependymom.
Rückenmarktumoren
Wilhelm Driesen
Aus der Abteilung für Neurochirurgie
(Vorstand: Professor Dr. med. Wilhelm Driesen) der Chirurgischen Universitäts-Klinik Tübingen
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 14 vom 3. April 1975 961
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Rückenmarktumoren
Q Das Neurinom ist der typische Tumor der mittleren Jahrgänge zwischen der zweiten und fünften Dekade.
O Das Meningeom ist quasi die se- nile Warze des Rückenmarks ober- halb der fünften Dekade.
O Das arteriovenöse Angiom muß wachsen und „reifen", bis es die Durchblutung des Rückenmarks stört, und wird selten vor dem 40.
Lebensjahr entdeckt.
o Die Metastase der Wirbelsäule tritt, wie selbstverständlich, im so-
genannten Krebsalter zwischen dem fünften und sechsten Lebens- dezennium gehäuft auf.
Symptomatik
Die Symptome eines Rückenmark- tumors sind in allen Abschnitten der Wirbelsäule im Prinzip gleich:
Abbildung 1: Ein glatt begrenztes, typisch an einer Wurzel wachsendes, intra- medulläres Neurinom. Das Rückenmark liegt sichelförmig komprimiert seitlich neben dem Tumor. Mikroskop-Photographie
Abbildung 2: Das Rückenmark ist aufgetrieben durch ein intramedulläres Epen- dymom. Es wird von pathologischen Blutgefäßen gespeist. Mikroskop-Photographie
Am Ort, wo er sitzt, also in seinem topisch zugeordneten Segment, ver-
ursacht er ein- oder doppelseitige Reizerscheinungen an den aus- tretenden Wurzeln. Sie erzeugen den häufig als Erstsymptom auftre- tenden Schmerz im Ausbreitungs- gebiet dieser Wurzeln. Im zervika- len Bereich tritt dieser Schmerz als Nacken-Schulter-Arm-Syndrom mit ziehendem bohrendem Charakter bis in die Fingerspitzen in Erschei- nung. Das Nackenbeugephänomen ist im Gegensatz zu spinalen Sy- stemerkrankungen positiv.
An Thorax und Abdomen entsteht ein Schmerz, der höher oben wie eine Interkostalneuralgie imponiert und weiter unten als Gürtelgefühl empfunden wird. Tumoren im Be- reiche der Cauda equina, also in der Lendenwirbelsäule, verursa- chen einen Schmerz, der an der Vorder- und Rückseite der Beine hinunter zu den Füßen und Zehen zieht und hier Veranlassung zur Verwechslung mit denjenigen Reiz- erscheinungen gibt, welche durch einen Bandscheibenprozeß bedingt sein können.
Wenn ein Rückenmarktumor dort inseriert, wo eine dichtgedrängte Zahl von Wurzeln zur Versorgung einer Extremität auftritt, zum Bei- spiel Wurzeln, die den Plexus bra- chialis bilden und die an der Intu- mescentia cervicalis entspringen, oder Wurzeln, die den Plexus lum- bo-sacralis bilden und an der Intu- mescentia lumbalis austreten, dann pflegt es neben den Schmerzen in der befallenen Extremität zu deutli- chen Muskelatrophien zu kommen.
Das zusätzliche Auftreten von Fas- zikulationen mit gesteigerten Refle- xen kann Anlaß zu einer Verwechs- lung mit der amyotrophen Lateral- sklerose geben.
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Abbildung 3 a (links): Deszendierende Myelographie mit Pantopaque®: Das Rückenmark ist von einem pathologischen Blut- gefäß bedeckt und begleitet; es endet in einem Varixknoten, der den Wirbelkanal verschließt. — Abbildung 3 b (rechts): Ope- rationsmikrophotographie zu Abbildung 3 a: Ein arteriovenöses Angiom bedeckt das Rückenmark
Es versteht sich, daß bei den iuxta- medullären Geschwülsten die radi- kulären Reiz- und Ausfallserschei- nungen ausgeprägter sein können als bei intramedullären Neubildun- gen, wenn die Ausfallserscheinun- gen des Rückenmarks selbst, bes- ser ausgedrückt seiner langen Bahnen, im Vordergrund stehen. Es finden sich dann Sensibilitätsstö- rungen aller Qualitäten; das Haut- gefühl beim iuxtamedullären Tu- mor geht mit einem deutlichen quer- schnittsähnlichen Niveau einher.
Dissoziierte Empfindungsstörungen zwischen Temperatur- und Schmerz- beziehungsweise der Oberflächensensibilität findet man
eigentlich nur bei intramedullären Tumoren.
Die motorischen Funktionen sind beim Tumor im Bereiche der me- dullären Abschnitte der Wirbelsäu- le, also zwischen C 1 und L 1, im allgemeinen im Sinne der spasti- schen Paraparese mit Vermehrung des Muskeltonus, Hyperreflexie und Pyramidenbahnensymptomen (wie Babinski) gestört. Aber auch einseitige oder halbseitige Läh- mungen sind möglich, insbesonde- re beim Halsmarktunnor. Hier kann vor allem dann eine Fehldiagno- se in Richtung auf einen Großhirn- tumor möglich werden, wenn die
Liquorzirkulationsstörung in der Nähe des Hinterhauptsloches bei einem hochsitzenden Halsmark- tumor zu Stauungspapillen führt.
Die gleichzeitige Schädigung der motorischen und sensiblen Bahnen erzeugt häufig neben der spasti- schen Paraparese die spinale Ata- xie mit ausfahrenden schleudern- den Bewegungen, besonders der unteren Extremitäten. Das Anstoßen der Füße an Möbel, Türen oder Wände verursacht Kontusionen an den Zehen, deren Spuren man bei der ärztlichen Inspektion an blut- unterlaufenen Zehennägeln und Phalangen erkennt; der Kranke empfindet sie wegen der gestörten
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—ECHO
Zu: „Homöopathie und ärztliche Praxis" von Prof. Dr. med. Gustav Kuschinsky in Heft 8/1975, Seite 497 ff.
Homöopathie auf dem Prüfstand
„Eine Überprüfung der ho- möopathischen Heilmetho- den hat der Mainzer Pharma- kologe Prof. Gustav Ku- schinsky gefordert. Da die wissenschaftlichen Grundla- gen dieser Therapie nicht ge- sichert sind, meint Kuschins- ky im ,DEUTSCHEN ÄRZTE- BLATT', müßten von homöo- pathischen Ärzten anerkann- te Mittel im ,doppelten Blind- versuch' gezielt getestet werden. Bei diesen Versu- chen wissen weder Patient noch Arzt, ob eine wirksame oder unwirksame Droge ge- geben wurde. Erfolgreiche Untersuchungen dieser Art, wie sie heute auch die phar- mazeutischen Firmen durch- führen, könnten zeigen, daß die von den Schulmedizinern oft abgelehnten Homöopa- then auch pharmakologisch wirksame Mittel verord- nen ..." (Deutsche Pres- se-Agentur vom 26. Februar 1975)
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Rückenmarktumoren
Sensibilität nicht als schmerzhaft.
Beim Rückenmarktumor ergibt die Gesamtbetrachtung der Sympto- matologie ein klinisches Bild, das aus einer längeren Anamnese mit segmentalen Schmerzen, motori- schen Lähmungen mit oder ohne Muskelatrophien und einem sensi- blen Querschnittssyndrom besteht, das nach fortgeschrittener Krank- heitszeit durch eine Stuhl- und Harnverhaltung mit Oberlaufblase bei Dysfunktion der Sphinktermus- kulatur ergänzt wird.
Diagnostik
Mit objektiven Methoden soll die Diagnose bestätigt und die Höhen- lokalisation exakt festgestellt wer- den.
Die Röntgenaufnahmen der Wirbel- säule zeigen im erkrankten Ab- schnitt unter Umständen eine Ver- breiterung des Wirbelkanals mit Ver- mehrung der Bogenwurzelabstän- de oder bei radikulären Prozessen eine Erweiterung des betreffenden Foramen intervertebrale. Bei meta- stasierenden Geschwülsten in der Wirbelsäule ist entweder eine Auf-
lösung der Knochenstruktur an den Wirbelkörpern oder bei sorgfälti- ger Betrachtung von oben nach un- ten und von unten nach oben eine osteolytische Auslöschung der Bo- genwurzeln zu erkennen, die ein- oder doppelseitig sein kann. Der Röntgenbefund allein kann den Ausschlag für die Indikation zu einer Kontrastmitteluntersuchung des Wirbelkanals geben. Ist er nor- mal, soll man auf das Ergebnis der Untersuchung der Zerebrospinal- flüssigkeit nach Lumbalpunktion warten: beim Rückenmarktumor findet man im Liquor gewöhnlich eine geringe bis mäßige Zellzahler- höhung, aber eine massive Eiweiß- vermehrung zwischen 100 und 2000 mg°/o. Wie immer, schließt ein normaler oder an der Grenze der Norm liegender Befund die Diagno- se nicht aus.
Die Kontrastmitteluntersuchung des Wirbelkanals kann mit öligen Mitteln (Pantopaque®, Duroliopa- que®) oder mit wasserlöslichen
(heute Dimer-X®) jeweils ohne vor- hergehende Anästhesie durchge- führt werden. Beim Rückenmark- tumor findet man sowohl bei de- szendierender als auch bei aszen- dierender Prüfung ein Passagehin- dernis mit meist glockenförmiger Begrenzung des oberen oder unte- ren Kontrastmittelendes bezie- hungsweise eine seitliche Ausspa- rung je nach Lokalisation der Neu- bildung. Beim arteriovenösen An- giom sieht man auf langgezogenen Strecken unregelmäßige Kontrast- mittelaussparungen, die früher leicht im Sinne der Arachnoiditis constrictiva mißdeutet wurden, aber auf guten Röntgenbildern und bei genauer Betrachtung werden die parallelen Schatten der angio- matösen Blutgefäße negativ sicht- bar. Die Blutgefäßmißbildung kann durch eine selektive Angiographie der großen radikulären Arterien aus der Aorta heraus gesichert werden; an einigen Instituten be- dient man sich dazu der Ossoveno- graphie über Dornfortsätze.
Therapie
Wurde die Diagnose eines Rücken- marktumors gesichert, ist Heilung praktisch nur durch seine operati- ve Beseitigung möglich. Bei den ty- pischen oben von eins bis vier ge- nannten Neubildungen gibt es kei- ne Alternative. Die Therapie mit Strahlen oder Zytostatika bleibt für die bösartigen Geschwülste reser- viert.
Technisch ist die operative Entfer- nung von soliden Tumoren inner- halb des Wirbelkanals nicht allzu schwierig. Sie wird durch die An- wendung des Operationsmikro- skops noch sicherer als zuvor;
ohne optische Vergrößerung ist die operative Entfernung eines spina- len arteriovenösen Angioms heut- zutage nicht mehr denkbar.
Die Neurochirurgie der Rücken- markgeschwülste hat schon im 19.
Jahrhundert eines der schönsten Kapitel der operativen Therapie aufgeschlagen. Sie machte Lahme gehend, die schon seit Jahren bett- lägerig oder an den Rollstuhl ge-
bunden waren. Aber damit die Neu- rochirurgen nicht einer Hybris ver- fallen, hat die Natur ihren Möglich- keiten eine Grenze gesetzt: Wenn die Erkrankung, deren Ursache ein operabler spinaler Tumor war, durch druckabhängige Sperre der Blutzufuhr zur Nekrose des befalle- nen Rückenmarkabschnittes und so zur schlaffen Lähmung (Paraly- se) der unteren Extremitäten ge- führt hat, dann kommt die operati- ve Beseitigung des Grundleidens zu spät; denn die schlaffe Quer- schnittslähmung bleibt irreversibel.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Wilhelm Driesen 74 Tübingen, Calwer Straße 7
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