DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
ÜBERSICHTSAUFSÄTZE:
Ergänzende Diagnostik bei Verdacht auf A-Streptokokken- erkrankung Die prothetische Sofortversorgung von Amputationsstümpfen Das geistig
behinderte Kind Pharmakotherapie mit Antidysrhythmika Gerinnungsstörungen bei vorzeitiger
Plazentalösung
KONGRESS- NACHRICHTEN
AUSSPRACHE:
Gefahren trizyklischer Antidepressiva
TECHNIK
IN DER MEDIZIN
FÜR SIE GELESEN
DIAGNOSTIK IN KÜRZE
Erkrankungen durch ß-hämolysie- rende Streptokokken der Gruppe A spielen trotz unveränderter Emp- findlichkeit dieser Keime gegen Penicillin und andere Antibiotika nach wie vor eine große Rolle in der medizinischen Praxis.
Akute Erkrankungen der Haut, der Schleimhaut, durch Bakteriämie und Organbefall können in der Re- gel durch Erregernachweis diagno- stiziert werden. Anders liegen die Verhältnisse bei toxischen und sensibilisierenden Folgeerkrankun-
gen, die dem kardiorheumatischen Formenkreis zuzurechnen sind.
Auch für andere Erkrankungen wie zum Beispiel für den Lupus erythe- matodes wird die ursächliche Rolle einer vorangegangenen A-Strepto- kokkeninfektion diskutiert, wobei der Beweis häufig auf Grund immu- nologischer Abläufe schwer zu er- bringen ist.
In der Regel ist der Antikörper- nachweis gegen Streptokokkenan- tigene länger möglich als der Erre- gernachweis. Als serologische
Ergänzende Diagnostik bei Verdacht auf
A-Streptokokkenerkran ku ngen
Die Bedeutung der Antistreptolysin-, Antistreptodornase B-, Antihyaluronidase- und Anti-NADase-Reaktion für Diagnose und Verlauf von A-Streptokokken-Erkrankungen und -Folgeerkrankungen
Ekkehard Tiesler
(Aus der medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes, Fach Hygiene und Mikrobiologie)
Die bei A-Streptokokkenerkrankungen bisher allein übliche Bestim- mung des Antistreptolysin-O-Titers (ASO-Titers) zeigt zum Teil un- spezifische Reaktionen und ist im wechselnden Prozentsatz negativ.
Die Durchführung von Antikörperbestimmungen gegen andere Streptokokkenantigene (Streptodornase B, Hyaluronidase und NA- Dase) ergibt spezifische Ergebnisse von erheblichem diagnosti- schen und prognostischen Wert. Der Titerverlauf dieser Reaktionen wird unter anderem dem kardiologisch, pädiatrisch und otorhinolo- gisch tätigen Arzt die Gefahr einer Erkrankung des kardiorheumati- schen Formenkreises früher und sicherer erkennen und beurteilen lassen.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 47 vom 20. November 1975 3239
21. Substrat Erythrozyten DNS, Hyaluronsäure, NAD u. az Puffer
,•,
Serum
z. B.
/ 1. korpuskulär:
/ Erythrozyten,
/ Bakterien, Latex Agglutination
/
2. Stoffwechselprodukte und Zeltbestandteile:
1: x 1:2x 1:4x 1:8x 1 ....x
Serum-(AK-)verdünnung 1: (Titer)
21. Enzyme, wie Staphylolysin, Streptolysin 0, Streptodornase, Hyaluronidase, NADase u. a.
Darstellung 1: Prinzip der Antikörper-Titerbestimmung für verschiedene bakterielle Antigene
Tabelle 1: Zellwand- und intrazelluläre Komponenten und extrazel- luläre Stoffwechselprodukte bei A-Streptokokken
extrazelluläre Zellwand- und intra- Stoffwechselprodukte zelluläre Komponenten
Hyaluronidase Proteinase (Vorstufe) Proteinase (aktiv) NAD-glycohydrolase Desoxyribonuclease (A—D)
Ribonuclease Streptolysin 0 Streptolysin S
Zellsensibilisierender Faktor Streptokinase (A, B)
Nephrotoxin Mitogen
Erythrogenes Toxin Cardiohepatoxin
Hyaluronsäure M-, T-, R-Protein C-Polysaccharid Protoplasmamembran intracelluläres Hämolysin-O, -S Zellgebund. Hämolysin Nucleoprotein
Kreuzreaktives Antigen Lipoproteinase
Phosphatase Esterase
N-acetylglucosaminidase Amylase
Glucuronidase Dehydrogenasen ATPase
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A-Streptokokkenerkrankungen
3240 Heft 47 vom 20. November 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Standardreaktion konnte bisher die Antistreptolysin-O-Reaktion ange- sehen werden; für diese Bestim- mung stehen seit längerem stan- dardisierte Reagenziensätze ver- schiedener Hersteller zur Verfü- gung. Es ist jedoch bekannt, daß auf der einen Seite bei bestimmten Erkrankungen unspezifisch erhöhte Titer gefunden werden (zum Bei- spiel Hepatitis) und auf der ande- ren Seite bei nachgewiesenen A- Streptokokkenerkrankungen ein Ti- teranstieg ausbleibt (je nach Unter- sucher zwischen 15 bis 45 Pro- zent).
Hierbei kommt dem Infektionsort (Haut, Schleimhaut, Generalisie- rung) offenbar eine entscheidende Bedeutung zu. So führt die alleini- ge Bestimmung des Antistreptoly- sintiters zu unbefriedigenden Er- gebnissen. Deswegen werden in den USA bereits seit längerem zu- sätzliche Antikörpertiter gegen die anderen genannten Streptokokken- antigene bestimmt.
Streptokokken der Gruppe A pro- duzieren neben dem Streptolysin-0 noch andere immunogen wirksame intra- und extrazelluläre Substan- zen (Tabelle 1).
Um immunogen wirksam zu wer- den, müssen diese Antigene für eine bestimmte Zeit in ausreichen- der Menge vorhanden sein. Bakte- rien und damit auch A-Streptokok- ken können auf Grund ihres „ein- chromosomalen" Genoms nur eine begrenzte Menge an Information zur Synthese von Polymeren reali- sieren. Für Escherichia coli zum Beispiel kann man kalkulieren, daß dessen Genom nur in der Lage ist ca. 3000 Proteine von einem Mole- kulargewicht von 5x10 4 zu syntheti- sieren. Auf Grund dieser Tatsache ist nicht anzunehmen, daß alle bis- her gefundenen Immunogene der A-Streptokokken durch diese in gleicher Zahl und Menge produ- ziert werden. Auch Induktionsme- chanismen könnten in vivo eine Rolle spielen. Selbst unter Berück- sichtigung der unterschiedlichen Ansprechbarkeit des individuellen Immunapparates ergibt sich daraus
L „,
• •
nach Ayoub
Darstellung 2: Zelluläre Antigene von A-Streptokokken, die nach experimentellen Befunden immunologische Kreuz- reaktionen mit verschiedenen Geweben zeigen (nach Ayoub)
•
Haut Kapsel
Hyaluronsäure
plastische Schicht Protein, M, T, R-Antigene
Gruppenkohlehydrat
Zytoplasmamembran Proteine, Lipide
Mukopeptide N•acetylglucosamin, N•acetylrnuraminsäure, d-Alanin u. a.
Gelenk
Myokard
Endokard
Myokardsar- kolemm, Gefäßintima
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eine Erklärung für einen fehlenden Antistreptolysintiteranstieg bei be- stimmter Lokalisation und bei be- stimmten Stämmen.
Es erscheint daher naheliegend, bei begründetem Verdacht auf das Vorliegen einer A-Streptokokken- (Folge-)Erkrankung andere Anti- körper zu untersuchen. Diese Be- stimmungen stießen bisher auf Schwierigkeiten, da entsprechende Reagenzien-Sets nicht erhältlich oder die Bestimmungen zu aufwen- dig waren. Als zum Antistreptolysin- fiter ergänzende Methoden bieten sich an die Antistreptodornase B- (eine Desoxyribonuclease), Anti- hyaluronidase- und Anti-Nikotin- amid-adenin dinucleotidase-Re- aktion. Im Prinzip gleichen sich diese Reaktionen: Zu einer Serum-
verdünnungsreihe wird das Antigen (Streptolysin-O, Streptodornase B, Hyaluronidase, NADase) in defi- nierter Aktivität hinzugegeben und geprüft, ob die Aktivitäten dieser Enzyme durch Antikörper neutrali- siert werden oder nicht. Als Indika- tor dient das jeweilige Substrat (Erythrozyten, DNS, Hyaluronsäure, NAD) (Darstellung 1). Bei der Anti- streptodornase B-, der Antihyaluro- nidase- und Anti-NADase sind bis- her keine unspezifischen Reaktio- nen wie bei der Antistreptolysinre- aktion beobachtet worden.
Bestimmt man bei den verschie- denen A-Streptokokkenerkran- kungen die vier genannten Antikör- pertiter, so zeigt sich für die einzel- nen Tests ein recht unterschiedli- cher Titeranstieg und -verlauf. Der
getrennten Bestimmung ist daher gegenüber dem sogenannten Streptozym-Test der Vorzug zu ge- ben. Je nach Infektionsort und -dauer können ein, zwei, drei oder vier erhöhte Antikörper gefunden werden. Bei Hauterkrankungen zum Beispiel werden häufig Stäm- me isoliert, deren DNAse B-Pro- duktion gegenüber der von Isola- ten anderer Herkunft deutlich hö- her ist. Hieraus resultiert, daß bei Hauterkrankungen der Antistrepto- dornase B-Titer häufiger erhöht ge- funden wird als der Antistreptolysin 0-Titer.
Ein Zusammenhang mit dem Sero- typ konnte nicht ermittelt werden.
Die Streptodornase B-Produktion von A-Streptokokken des gleichen Serotyps verschiedener Herkunft
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 47 vom 20. November 1975 3241
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A-Streptokokkenerkran kungen
zeigt erhebliche Unterschiede, so daß hier eine weitere biochemi- sche Differenzierung möglich er- scheint. Während die Streptodor- nase B von allen bisher untersuch- ten A-Streptokokken in unter- schiedlicher Menge in vitro gebil- det wird, werden die Streptodorna- sen A, C und B in 29, 50 bzw. 24 Prozent zusätzlich synthetisiert.
In bestimmten Fällen kann der An- tikörpernachweis gegen diese Iso- enzyme ergänzend eine Informa- tion geben. Streptokokken anderer
Gruppen bilden zum Teil vor allem Streptodornase A. Dieses Enzym ist Bestandteil der Varidase®.
• Wie bei allen Titerbestimmungen ist eine Verlaufskontrolle von besonderem Wert
Als Normaltiter können alle Werte bis zu 1:200 für alle vier Antikörper angesehen werden. Die Antikörper- bildung gegen die verschiedenen Streptokokkenantikörper und de- ren Persistenz scheint unterschied- lich zu sein. Daraus resultiert der diagnostische Wert der gleichzeiti- gen Bestimmung mehrerer Antikör- per beim begründeten Verdacht des Vorliegens einer A-Streptokok- kenerkrankung und -folgeerkran- kung. Die Erfassungsgrenze erhöht sich damit auf nahezu 100 Prozent.
Einen Typ M 26 konnten wir aus ei- nem Nebenhöhlenprozeß isolieren, bei dem allerdings keiner der vier Antikörper einen erhöhten Wert er- gab. Nach unseren Untersuchun- gen wird eine durch A-Streptokok- ken verursachte Tonsillitis durch die Bestimmung der ADNase B, Antihyaluronidase und Anti-NADa- se in 99 Prozent erkannt, die allei- nige Bestimmung des AST nach Dextranadsorbtion ergab nur in 55 Prozent einen erhöhten Titer.
Kardiorheumatische Folgeerkrankungen
Nach Untersuchungen von Kaplan et al. spielt bei kardiorheumati- schen Folgeerkrankungen eine An-
tigengemeinschaft zwischen Ge- websantigenen (zum Beispiel Endo- kard) und Streptokokkenantigenen (zum Beispiel gruppenspezifisches Kohlenhydrat C) die entscheidende Rolle für die Pathogenese dieser Erkrankungen. In Darstellung 2 sind solche Zusammenhänge auf- gezeigt.
Viele dieser Streptokokkenantigene sind jedoch nur wenig immuno- gen wirksam. Erst ein dauernder Stimulus führt zur Antikörper- bildung. Dieser ist bei langdau- ernder Erkrankung oder Besiede- lung vor allem der Schleimhäute des oberen Respirationstraktes (zum Beispiel chronische Tonsilliti- den, Foci) gegeben. Dem Nachweis von anderen Streptokokkenantikör- pern kommt demnach auch pro- gnostisch eine große Bedeutung zu.
Es ist nachgewiesen worden, daß nur solche Stämme für längere Zeit ein Haftvermögen in der Schleim- haut haben, die über sogenannte Pili verfügen, feinste haarförmige Gebilde an der Bakterienoberflä- che, die im Zusammenhang mit dem Pathogenitätsmerkmal M-Pro- tein stehen.
Bestimmung
der Streptokokken-Antikörper Das Prinzip dieser Reaktion ist be- reits eingangs erläutert worden.
Bestimmungen können sowohl als Makro- oder Mikromethode durch- geführt werden. Letztere bieten sich besonders an aus Gründen der Automatisierung und Ersparnis von Reagenzien und Serum.
Entsprechende Reagenziensätze sind zum Teil bereits im Handel oder werden in Kürze ausgeliefert.
2 ml Serum sind völlig ausreichend, um die vier Streptokokkenantikör- per- und die Rheumateste durchzu- führen. Dies ist gerade bei Kindern von Vorteil, bei denen die Gewin- nung größerer Serummengen häu- fig auf Schwierigkeiten stößt und bei denen diese Untersuchungen von besonderem diagnostischen Wert sind. Das Serum kann posta-
lisch an Laboratorien versandt werden, in denen diese Tests be- reits durchgeführt werden.
Schlußfolgerung
Unter Berücksichtigung der darge- stellten Tatsachen ist festzustellen:
43 Die alleinige Bestimmung des ASTO-Titers als Suchreaktion für floride oder abgelaufene A-Strepto- kokkenerkrankungen erscheint nach dem gegenwärtigen Stand der Kenntnisse unzulässig. Bei der Durchführung der Antikörperbe- stimmung gegen mehrere Strepto- kokkenantigene werden wesentlich mehr A-Streptokokkenerkrankun- gen und -träger erfaßt.
Q Bei allen chronischen Erkran- kungen, die auf eine ätiologische Bedeutung der A-Streptokokken verdächtig sind (chronische Tonsil- litiden, Infektionen der oberen Luft- wege) sollten grundsätzlich mehre- re Streptokokkenantikörper be- stimmt werden, um die Entstehung kardiorheumatischer Folgeerkran- kungen und anderer Erkrankungen zu verhindern.
O Bei dem bestehenden klini- schen Verdacht einer A-Strepto- kokkenerkrankung sollten die Anti- körpertiter nach zwei bis drei Wo- chen erneut überprüft werden, auch wenn Sie anfangs nicht er- höht waren.
O Bei erkannten A-Streptokokken- erkrankungen sollte eine Erhö- hung der Streptokokkenantikörper nicht nur der Bestätigung der Dia- gnose dienen, sondern der Titer- verlauf sollte entscheiden, ob ein antigener Stimulus weiter wirkt, ohne daß eine floride Erkrankung weiterhin besteht.
Professor
Dr. med. Ekkehard Tiesler Medizinische Fakultät
der Universität des Saarlandes 655 Homburg (Saar)
Medizinische Fakultät Haus 5
3242 Heft 47 vom 20. November 1975 DEUTSCHES _ÄRZTEBLATT