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Archiv "Veränderte Kindheit: Anmerkungen aus der Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie" (15.08.1997)

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achdem Rudolf Virchow (Berlin) beauftragt worden war, „die schädlichen Einflüs- se der Schule auf die Gesund- heit der Jugend“ zu untersuchen, leg- te er 1869 (16) ein Gutachten vor mit dem Titel „Über gewisse die Gesund- heit benachteiligende Einflüsse der Schulen“, in dem er Übel oder Krank- heiten unterschied, „welche durch die Schulen hervorgebracht werden“.

Unter diesen nennt er:

¿ Augenübel, besonders Kurz- sichtigkeit

À Kongestionen des Blutes zum Kopfe (Kopfweh, Nasenbluten, Kropf)

Á Verkrümmungen der Wirbel- säule

 Erkrankungen der Brust- eingeweide (zum Beispiel Lungen- schwindsucht)

à Erkrankungen der Unter- leibsorgane (Verdauungsorgane, Se- xualorgane)

Ä Ansteckende Krankheiten (zum Beispiel Scharlach, Masern, Diphtherie)

Å Verletzungen.

Unter den Krankheitsursachen führt er an: Die Luft im Schullokal, das Licht im Schullokal, das Sitzen im Schullokal, die körperlichen Bewe- gungen, die geistigen Anstrengungen (Dauer, Abwechslung, individuelles Maß), die Strafen, insbesondere kör- perliche Züchtigungen, das Trinkwas- ser, die Abtritte und die Unterrichts- mittel.

Wenn wir diese beiden Listen be- trachten, so sind psychische Störun- gen oder Auffälligkeiten weder unter den „Krankheiten, welche durch die Schulen hervorgebracht werden“, noch bei den Krankheitsursachen er- wähnt. Es erhebt sich also die Frage:

Gab es diese Störungen damals nicht?

Oder wurden sie nicht zur Kenntnis genommen, weil weit wichtigere kör- perliche Erkrankungen (darunter sol- che mit Lebensgefahr) so weit im Vor- dergrund standen, daß die Psyche auf der Strecke blieb?

Vieles spricht dafür, daß letzteres der Fall war. Denn wenig später (1887) erschien das berühmte Lehrbuch von Hermann Emminghaus „Die psychi-

schen Störungen des Kindesalters“ (3), welches als erstes Lehrbuch der Kin- der- und Jugendpsychiatrie betrachtet werden kann. Die Kinder- und Jugend- psychiatrie, aus deren Blickwinkel hier argumentiert wird, gab es damals als eigene Facharztdisziplin noch nicht;

die Kinderheilkunde hatte sich auch erst kurz zuvor aus der Inneren Medi- zin heraus entwickelt, so daß die psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters von zwei Diszipli- nen bearbeitet wurden: von der Er- wachsenenpsychiatrie und der Kinder- heilkunde. Dies betont auch Emming- haus in der Einleitung zu seinem Lehr- buch, wenn er ausführt:

„Zwei wichtige Disziplinen, wel- che im Laufe der Zeit zu selbständi- gen Zweigen der Pathologie herange- wachsen sind, teilen sich gegenwärtig in die Aufgabe, die Lehre vom Irre- sein im Kindesalter zu fördern: die Kinderheilkunde und die Psychiatrie.

Keine von beiden kann heute die in Rede stehende Krankheitsgruppe von ihrem Gebiete ausschließen oder gar der anderen zuweisen.“

Ein wenig später fährt er fort:

„Bei dem Eifer, ihr Wissen auf die größtmögliche Höhe und Vollkom- menheit zu bringen, der jeder Spezia- lität eigen ist, dürfen wir wohl erwar- ten, daß die – bisher auch erfreulich friedliche – gemeinsame Arbeit der beiden Spezialitäten auf dem Gebiete der Kinderpsychosen in der Zukunft reiche Früchte trage, daß eine die an- dere fördern und ergänzen wird.“

Es hat jedoch noch lange gedau- ert, ehe die Kinder- und Jugendpsych- iatrie ein eigenes Spezialgebiet wur- de. Dies geschah mit der Weiterbil- dungsordnung der Bundesärztekam- mer im Jahre 1968, also rund 100 Jah- re nach dem hier zitierten Bericht von Rudolf Virchow.

Fragen wir heute, was sich seither an den Lebensbedingungen von Kin- dern, in ihrem Erleben und Verhalten, an der Arbeit für Kinder, an ihren Zu- kunftserwartungen und ihren Zu- kunftschancen verändert hat, so ist dies so viel, daß jede Betrachtung un- vollständig bleibt, insbesondere dann, wenn sie auf engem Raum kompri- miert werden muß.

Veränderte Lebensumstände

Der leitende Gedanke muß dabei sein, die Situation von Kindern stets in der Perspektive ihrer Entwicklung zu sehen, wobei Entwicklung stets Veränderung umfaßt. In der Definiti- on von Thomae kann Entwicklung aufgefaßt werden als eine „Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen, die bestimmten Or-

Veränderte Kindheit

Helmut Remschmidt

Anmerkungen aus der Sicht

der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Seit den Tagen Rudolf Virchows, der sich bereits 1869 mit dem Zusammenhang zwischen schädlichen Einflüssen der Schule und der Gesundheit der Kinder befaßte, haben sich unsere Welt und die Lebensbedingungen von Kindern nach- haltig verändert. Diese Veränderungen erstrecken sich unter anderem auf den Wandel gesellschaftlicher Prozesse, auf Veränderungen im familiären und schulischen Bereich und auf den Wandel im Spektrum körperlicher und seeli- scher Erkrankungen. Etwa zwölf bis 13 Prozent aller Schulkinder leiden an psy- chischen Auffälligkeiten, aber deutlich weniger als fünf Prozent werden bera- ten oder behandelt. Obwohl Ansätze für präventive Maßnahmen existieren, wer- den Programme zur Prävention kaum durchgeführt. Die Ärzteschaft muß sich dieser Herausforderung stellen.

Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugend- psychiatrie und Psychotherapie (Direktor:

Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt), Philipps-Universität, Marburg

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ten des zeitlichen Kontinuums eines individuellen Lebenslaufes zuzuord- nen sind“.

Diese Definition umschreibt Entwicklung ganz allgemein als Ver- änderung des Verhaltens und stellt den zeitlichen Zusammenhang da- durch her, daß diese Verhaltensände- rungen jeweils auf bestimmte Zeitab- schnitte (Altersstufen) bezogen wer- den. Durch diese Rückführung auf festgelegte Zeitabschnitte wird es möglich, zufällige und beliebige Ver- haltensänderungen von gesetzmäßi- gen, entwicklungsbedingten zu unter- scheiden. Es ist wichtig, daß sich alle Fachdisziplinen, die sich mit Kindern beschäftigen, in dieser oder ähnlicher Weise am Entwicklungsgedanken ori- entieren.

Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich

Seit den Zeiten von Virchow und Emminghaus haben zwei Weltkriege und ihre Auswirkungen die Welt und unser Land erschüttert. Zusammen- bruch und Wiederaufbau haben viele zukunftsweisende Entwicklungen zerstört, aber auch Kräfte freigesetzt – man denke an das Wirtschaftswun- der nach dem Zweiten Weltkrieg –, die die materiellen Lebensbedingun- gen entscheidend verbessert haben.

Große gesellschaftliche Wandlungen sind in der gesamten Arbeitswelt fest- zustellen, zum Beispiel die Umstel- lung auf maschinelle Produktion, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Stär- kung der Rechte von Arbeitnehmern.

Entscheidungsprozesse in allen Le- bensbereichen werden nach demo- kratischen Regeln und Prinzipien her- beigeführt, die Bildungschancen für alle sind größer geworden, die Mas- senmedien haben das Freizeitverhal- ten signifikant verändert und üben er- heblichen Einfluß auf Denkprozesse und Meinungsbildung der Bevölke- rung aus.

Alle diese Einflüsse sind nicht spurlos an unseren Kindern vorüber- gegangen. Eltern und Lehrer klagen über die Reizüberflutung der Kinder durch die Massenmedien, die Frei- zeitgestaltung ist vielfach überfrach- tet, und unsere Gesellschaft nimmt viel zu wenig Rücksicht auf kindliche Bedürfnisse, obwohl die Rechte der

Kinder seit der Jahrhundertwende ei- ne immense Aufwertung erfahren ha- ben.

Für viele dieser Veränderungen sind Auswirkungen auf unsere Kinder nachgewiesen, jedoch wird seitens der Politik aus ökonomischen Gründen unterlassen, hieraus konkrete Gegen- maßnahmen abzuleiten. So gibt es vielfältige Hinweise darauf, daß Ge- waltdarstellungen in den Medien bei Kindern und Jugendlichen gewalttäti- ges Verhalten fördern. Dabei spielt sowohl die Vorbildfunktion eine Rol- le als auch der gewissermaßen kataly- tische Einfluß auf ein bereitliegendes aggressives Potential. Hierbei sind in- tervenierende oder Kontextvariablen bedeutsam, wie die Rechtfertigung von Gewalt, Belohnung oder ausblei- bende Bestrafung des Aggressors, den Zuschauer befriedigende Ge- waltdarstellungen oder Gewaltdar- stellungen, die nicht kritisch in Frage gestellt werden. Darüber hinaus wird die Auswirkung von Gewaltdarstel- lungen durch folgende Momente be- einflußt (2, 5):

¿ Sozial akzeptierte Gewalt hat nachweisbare negative Auswirkun- gen, verglichen mit sozial nicht akzep- tierter Gewalt.

À Belohnte Gewalthandlungen erwecken beim Zuschauer den Ein- druck eines wirksamen Problemlöse- verhaltens und sind insofern von größerem Einfluß.

Á Gewalthandlungen, die für die Lösung einer Konflikt- oder Pro- blemsituation relevant sind, haben ei- ne verstärkende Wirkung auf die Auslösung von Gewalthandlungen beim Zuschauer.

 Auch das Erregungsniveau des Zuschauers ist von Bedeutung. So haben erotische und aggressive Inhal- te zur Folge, daß das Erregungsni- veau des Zuschauers gesteigert wird, und ein gesteigertes Erregungsniveau wiederum erhöht nachweislich die Gewaltbereitschaft.

Im Hinblick auf die Auswirkung von Gewaltdarstellungen in den Mas- senmedien führt die Anti-Gewalt- kommission der Bundesregierung fol- gendes aus (8): „Die Massenmedien beeinflussen die Perzeption der Wirk- lichkeit und die Reaktion auf die so- ziale Realität. Dramatische, beson- ders spektakuläre Gewaltdarstellung

ermutigt, stimuliert und rechtfertigt Gewaltanwendung. Selbst wenn die dargestellte Gewalt nicht unmittelbar nachgeahmt wird, führt die ständige Überschwemmung des Bewußtseins mit Gewaltreizen zur Trivialisierung der Gewalt, die als alltägliches Ereig- nis weder als ungewöhnlich eingestuft noch vermieden wird.“

Veränderungen im familiären Bereich

Gesellschaftliche Veränderun- gen wirken sich natürlich auch auf Fa- milien aus. Wenn man den Wandel der letzten 50 Jahre betrachtet, so las- sen sich folgende Tendenzen ausma- chen: Berufstätigkeit beider Eltern, neuerdings eingeschränkt durch die hohen Trennungs- und Scheidungsra- ten und dadurch Anstieg der Zahl al- leinerziehender Elternteile, Verar- mung der intrafamiliären und extrafa- miliären Bindungen, zunehmende Er- schwernis für Kinder, freundschaftli- che Beziehungen zu Gleichaltrigen in ihrem sozialen Nahraum aufnehmen zu können, Unsicherheiten im erzie- herischen Verhalten, hohe materielle Ansprüche bei sehr unterschiedlichen finanziellen Voraussetzungen in den einzelnen Familien. Es ist die Frage, wie sich diese Veränderungen in psy- chischen Störungen und Erkrankun- gen widerspiegeln und welche Aus- wirkungen sie insbesondere auf das Verhalten von Kindern und Jugendli- chen in der Schule haben.

Veränderungen im schulischen Bereich

Auch im schulischen Bereich sind die Veränderungen zahlreich und lassen sich nicht auf einen Nen- ner bringen, weshalb die im folgen- den gewählte Aufzählung nicht auf alle Regionen und Gemeinden zu- trifft: zunehmende Anonymisierung durch Auflösung der Klassenverbän- de, Zusammenfassung der Schüler in Mammutschulen, Einführung wenig erprobter neuer Lehrmethoden (Mengenlehre, Ganzwortmethode), zu starkes Experimentieren mit di- daktischen Konzepten, starke Ein- schränkung des erzieherischen Auf- trages der Schule (trifft eher auf die höheren Schulen zu), Überforderung

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

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der Kinder mit altersinadäquaten Problemen und Entscheidungen, zu geringe Rücksichtnahme auf Kinder mit speziellen Lern- und Leistungs- störungen (zum Beispiel Teillei- stungsstörungen), chronischen Er- krankungen und Behinderungen un- terschiedlicher Art. Zur Lösung der sich daraus ergebenden Probleme ist eine intensive Zusammenarbeit zwi- schen Lehrern, Eltern und Ärzten er- forderlich, wobei der schulärztliche Dienst eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.

Veränderungen im Spektrum körperlicher und seelischer Erkrankungen

Änderungen im Bereich der Er- krankungen und Störungen haben sich in den folgenden Bereichen erge- ben:

Zunächst ist festzustellen, daß die Zahl der chronisch körperlich kranken Kinder zugenommen hat.

Dies hängt mit dem Fortschritt der Medizin zusammen, der es mit sich bringt, daß viele Kinder, die früher nicht am Leben geblieben wären, heute überleben, aber teilweise Be- hinderungen aufweisen, die sie le- benslang begleiten. Ferner ist eine Vielzahl von Erkrankungen behan- delbar, für die es früher keine adäqua- te Behandlungsmethode gegeben hat.

Die Folge dieser Entwicklung ist eine Zunahme von chronisch kranken Kindern (zu nennen sind asthmakran- ke Kinder, Kinder mit Mukoviszidose, Kinder mit Diabetes mellitus, nieren- kranke Kinder, anfallskranke Kinder, Kinder mit verschiedenen Stoffwech- selstörungen, Kinder mit zerebralen Funktionsstörungen und andere).

Auch bestimmte psychische Er- krankungen und Störungen haben zu- genommen. Glücklicherweise trifft dies nicht auf alle seelischen Erkran- kungen zu, worauf hier nicht näher eingegangen werden soll.

Nach einer sorgfältigen Analyse der Literatur können wir drei Typen von seelischen Erkrankungen und Störungen unterscheiden, deren Ent- wicklungstrend über die letzten 50 Jahre im folgenden beschrieben wer- den soll.

Typ I zeigt keine Veränderungen in der Häufigkeit in diesem Zeitraum.

Dies trifft zu auf schizophrene Er- krankungen im Kindes- und Jugend- alter, auf bipolare Störungen (ma- nisch-depressive Erkrankungen), auf tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie den frühkindlichen Autismus und das Rett-Syndrom sowie auf organi- sche Hirnschädigungen einschließlich

der Epilepsie. Diese Störungen haben ganz überwiegend eine starke geneti- sche Basis, von der man natürlich nicht erwarten kann, daß sie sich in ei- nigen wenigen Dekaden verändert.

Typ II umfaßt solche Störungen, bei denen sowohl genetische als auch Umweltfaktoren zusammenwirken und auch Entwicklungsprozesse eine besondere Rolle spielen (speziell zur Zeit der Pubertät und Adoleszenz).

Der Zeittrend dieser Störungen ist nicht einheitlich, sondern muß diffe- renziert gesehen werden. Diese

Störungen zeigen Fluktuationen in ih- rer Häufigkeit, aber ob sie sich wirk- lich im Zeitraum der letzten 50 Jahre signifikant in ihrer Häufigkeit verän- dert haben, bleibt fraglich. Zu diesem Typ gehören die Anorexia nervosa, die Bulimia nervosa, Zwangsstörun- gen und Angsterkrankungen.

Typ III schließlich beinhaltet je- ne Störungen, bei denen eine eindeu- tige Zunahme in den letzten 50 Jahren zu beobachten ist, wenngleich be- stimmte Fluktuationen in der Häufig- keit bestehen. Diese Auffälligkeiten lassen sich unter der Bezeichnung psychosoziale Störungen zusammen- fassen. In allen entwickelten Ländern haben sie an Häufigkeit bedeutsam zugenommen. Es handelt sich um:

Adipositas, Alkohol- und Drogen- konsum sowie -abhängigkeit, delin- quentes Verhalten und Kriminalität, depressive Störungen und Erkran- kungen sowie vollendete Suizide und suizidales Verhalten.

Viele dieser Störungen sind eng miteinander verknüpft. Der Zusam- menhang muß aber kein direkter sein, er kann auch indirekt durch soge- nannte intermediäre Einflüsse (14) vermittelt werden. So ist Alkohol- und Drogenmißbrauch häufig mit Kriminalität assoziiert (Kriminalität im Kindes- und Jugendalter zeigt übrigens den höchsten Anstieg in al- len entwickelten Ländern mit Aus- nahme Japans). Weiterhin sind Störungen des Sozialverhaltens häu- fig Vorläufer von Drogenmißbrauch und Kriminalität. Depressive Störun- gen, Suizide und Suizidversuche kor- relieren hoch miteinander, aber es gibt auch eine ausgeprägte Komorbi- dität zwischen Depressionen, Störun- gen des Sozialverhaltens und Angst- störungen. Beide sind die stärksten Prädiktoren für suizidales Verhalten.

Die Zunahme dieser psychoso- zialen Störungen läuft parallel zu be- merkenswerten Entwicklungen in der Gesellschaft seit dem Zweiten Welt- krieg. Solche sind (14):

1 die Verlängerung der Periode der Adoleszenz,

1 die Zunahme der Lebenser- wartung,

1 der Babyboom nach dem Zweiten Weltkrieg, der gefolgt war durch eine Abnahme junger Men- schen in der Allgemeinbevölkerung, Schulische Einflüsse auf

die Entwicklung von Kindern

¿ Vorschulische Einflüsse

Vorschulerziehung hat eindeu- tig positive Effekte auf Lernori- entierung, Lernmotivation und Selbstwertgefühl

À Lern- und Leistungsmotivation sowie „Selbstüberschätzung“

fallen nach den ersten Schuljah- ren ab

Á Leistungsschwache Schüler ent- wickeln sich ungünstig, wenn sie in „Sonderklassen“ zusammen- gefaßt werden

 Es besteht eine negative Bezie- hung zwischen Klassengröße und Leistungsniveau

à Kleine Klassen sind insbesonde- re zum Schulbeginn wichtig (so- lideres Erlernen von Basisfer- tigkeiten!)

Ä Schulische Einflüsse wirken sich auf verschiedene Altersstufen unterschiedlich aus (in der Grundschule stärker als auf dem Gymnasium)

Å Viele Auswirkungen schuli- scher Einflüsse sind indirekt (Mediatoren sind kognitive Entwicklung, Lern- und Lei- stungsmotivation, Selbstwertge- fühl, Verantwortungsgefühl) (in Anlehnung an K. Sylva [15])

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1 der dramatische Anstieg des materiellen Wohlstandes und die Ver- besserung der Lebensbedingungen,

1 die markante Verbesserung der physischen Gesundheit sowie der Wohn- und Lebensbedingungen,

1 die Verlängerung der Schul- und Ausbildungszeiten,

1 die Zunahme der Freizeit, 1 die Veränderungen im Hin- blick auf Arbeit und Beschäftigung,

1 die zunehmende Instabilität von Familien und familienähnlichen Gemeinschaften,

1 der Einfluß der Massenmedi- en (Gewalt, Kriminalität, suizidales Verhalten) und

1 die komplexen Veränderun- gen in den Moral- und Wertvorstel- lungen der Bevölkerung.

Der Einfluß einiger dieser Ver- änderungen auf psychosoziale Stö- rungen konnte gezeigt werden. So ist ein klarer Zusammenhang festzustel- len zwischen zunehmender Urbani- sierung und Delinquenz, zwischen Einfluß der Massenmedien und ge- walttätigem Verhalten, zwischen ungünstigen Familieneinflüssen und Störungen des Sozialverhaltens sowie depressiven Störungen.

Fortschritte der Medizin Vielleicht am ausgeprägtesten sind die Veränderungen beziehungs- weise Fortschritte der Medizin und im Gefolge der diagnostischen und therapeutischen Methoden, die uns Ärzten zur Verfügung stehen. Sie lie- gen auf dem Gebiet der Biochemie, deren Methoden uns erlauben, eine Vielzahl von Stoffwechselstörungen sicher festzustellen und einige von ihnen zu behandeln (zum Beispiel die Phenylketonurie oder die Glutarazid- urie). Damit kann vielen Kindern das Leben gerettet oder eine schwere geistige Behinderung verhindert werden. Weiterhin ermöglicht uns die Molekularbiologie und Moleku- largenetik, Vorgänge innerhalb der Zelle zu untersuchen und zu verste- hen und unter Umständen auch the- rapeutisch in diese Prozesse einzu- greifen.

Die Elektrophysiologie und die bildgebenden Verfahren erlauben uns nicht nur, unblutig und schonend für die Patienten Strukturen des Ge-

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hirns bis in kleinste Dimensionen hin- ein sichtbar zu machen, sondern sie ermöglichen auch funktionelle Unter- suchungen, die uns zeigen, was im Ge- hirn vorgeht, wenn wir ein Bild be- trachten, wenn wir Musik hören oder wenn wir eine mathematische Auf- gabe lösen.

Fortschritte wurden aber nicht nur in diesen eher apparativen Berei- chen erzielt, sondern auch in der Art und Weise, wie wir mit Kindern und Familien umgehen, wie wir ihre Inter- aktionen begreifen, wie wir das sozia- le Umfeld, Schule und Familie in un- sere diagnostischen und therapeuti- schen Prozesse einbeziehen und wie wir Risikofaktoren für die Entstehung von Erkrankungen, aber auch protek- tive Faktoren für ihre Überwindung in unsere Behandlungsmethoden in- tegrieren. In diesem Sinne hat auch

die Kinder- und Jugendpsychiatrie ei- ne Entwicklung durchgemacht, die Leo Kanner, der Erstbeschreiber des frühkindlichen Autismus, 1957 wie folgt beschrieben hat (6):

„In der ersten Phase unseres Fachgebietes dachte man ,über das Kind nach’, in der zweiten Phase ar- beitete man ,an Kindern’, in der drit- ten arbeitete man ,für Kinder’, in der vierten arbeitete man ,mit dem Kind’, und für die heutige Epoche können wir hinzufügen, arbeitet man ,mit dem Kind und seiner Familie’.“

In dieser historischen Kennzeich- nung zeigt sich zugleich ein fortschrei- tender Emanzipationsprozeß des Kin- des, aber auch ein Anspruch auf jene Hilfemöglichkeiten, die unsere Zeit zu bieten hat, und ich möchte behaup- ten, daß diese keineswegs ausge- schöpft sind.

Psychische Störungen und Schule heute

Zur Häufigkeit psychischer Störungen bei Schulkindern Internationale epidemiologische Untersuchungen über die Häufig- keit psychischer Auffälligkeiten im Schulalter zeigen, daß die Auffällig- keitsraten zwischen acht und 21 Pro- zent schwanken, wobei sich in groß- städtischen Regionen höhere Raten ergeben als in ländlichen Gebieten.

Unsere eigenen Erhebungen in drei nordhessischen Landkreisen ha- ben in der Altersgruppe von sechs bis 17 Jahren eine Rate von 12,7 Prozent ergeben, was in einer jüngsten franzö- sischen Untersuchung (4) bestätigt wurde. In dieser Untersuchung ergab sich mit Hilfe derselben Methode (der

„Child Behavior Checklist“, die auf einer Befragung der Eltern beruht) ei- ne Rate von 12,4 Prozent bei acht- bis elfjährigen Kindern.

Obwohl die Auffälligkeitsrate 12,7 Prozent betrug, befanden sich je- doch nur 3,3 Prozent (n=64) in Be- handlung. Von diesen 64 Kindern hat- ten 33, also die Hälfte, eine psychia- trisch-psychotherapeutische Einrich- tung aufgesucht, die andere Hälfte ei- ne nicht-psychiatrische ärztliche Insti- tution. Dies bedeutet, daß rund zehn Prozent der Kinder, die eine Beratung

oder Behandlung benötigen, eine sol- che nicht erfahren.

Die Häufigkeit der psychischen Symptome korrelierte deutlich mit dem Alter, der sozialen Schicht und dem Schultypus. Die bekannte Ge- schlechterverschiebung in der Puber- tät zeigte sich ebenfalls: in der Alters- gruppe der 14- bis 18jährigen waren die Mädchen auffälliger als die Jun- gen, in den jüngeren Jahrgängen hin- gegen dominierten die Jungen. In Ab- hängigkeit vom Schultyp wurden die niedrigsten Prävalenzraten bei den Realschülern und Gymnasiasten er- mittelt (8,5 beziehungsweise 7,1 Pro- zent), die höchsten bei den Schülern der Sonderschulen (23,4 Prozent), der Grundschulen (16,6 Prozent), der Hauptschulen (16,3 Prozent) und der Förderstufe (15,4 Prozent). An den beruflichen Schulen betrug die Rate rund elf Prozent.

Schulische Bedingungen und Entwicklung von Kindern

Ohne Zweifel beeinflussen die schulischen Bedingungen, neben je- nen in der Familie, die Entwicklung von Kindern nachhaltig. Wenn wir uns die gesellschaftlichen Funktionen der Schule vor Augen führen, so wird uns deutlich, daß in der Schule wichtige Weichen für den weiteren Lebensweg eines Kindes gestellt werden. Die

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Schule vermittelt nicht nur Qualifika- tion, sie ist ebenso mit Selektionspro- zessen verbunden, trägt zur Sozialisie- rung bei und vermittelt Kontakte zu Gleichaltrigen. Aber sie übt auch eine ganze Reihe von anderen Einflüssen aus, die im Textkastendargestellt sind.

Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich, daß Schulen als Institution großen Einfluß auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen haben.

Untersuchungen in England an zwölf höheren Schulen (12, 13) ha- ben folgendes ergeben: Zwischen den einzelnen Schularten bestanden im Hinblick auf Leistungen und Verhal- tensvariablen der Schüler erhebliche Unterschiede. Diese ließen sich nicht in systematischer Weise auf äußere Faktoren wie Größe der Schule, Alter des Gebäudes, Organisationsstruktur oder administrative Gepflogenheiten zurückführen. Vielmehr hingen sie mit der Charakteristik der Schule als sozialer Institution zusammen. Fak- toren wie Bedeutung des Stoffes, Förderung des Leistungswillens der Schüler, regelmäßige Hausaufgaben, klar formulierte Lernziele, Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Schüler, Einbeziehung der Schüler in Verant- wortlichkeiten für die Schule, kon- stante Schulklassen, sorgfältige Vor-

bereitung des Unterrichts und Über- einstimmung der Lehrerschaft hin- sichtlich Bildungsauftrag und Enga- gement hatten einen sehr positiven Einfluß. Auch waren Zerstörungen in jenen Schulen wesentlich seltener, die sehr sorgfältig das Gebäude und das Mobiliar instandhielten, möglichst persönlich auf die Schüler eingingen und sie intensiv an der Verantwortung für die Schule beteiligten.

Insgesamt zeigte sich in dieser bemerkenswerten Studie, daß Ethos, Wertesystem und Erziehungsziel ei- ner Schule sehr stark Verhalten und Erfolg der Schüler über ihre individu- ellen Voraussetzungen hinaus bestim- men.

Derartige Beobachtungen müs- sen Veranlassung sein, der Schule als Bildungsinstitution mehr Aufmerk- samkeit zuzuwenden. Nicht in Form von wissenschaftlich ungenügend ab- gesicherten Schulversuchen, sondern in Form von Untersuchungen über die Bedingungen, unter denen Kinder lernen und Lehrer unterrichten.

Wenn dies so ist, so müßten in der Schule auch präventive Maßnahmen erfolgreich durchgeführt werden kön- nen, und dies ist auch der Fall (7).

Es liegen bereits ermutigende Ansät- ze und Erfahrungen vor (zum Beispiel

zur Reduktion depressiver Störungen oder zur Verminderung aggressiven und gewalttätigen Verhaltens), die je- doch noch kaum in umfassender Wei- se in die Praxis umgesetzt sind. Auch hier ist die Gesetzmäßigkeit zu kon- statieren, wonach wissenschaftliche Erkenntnisse zehn bis 15 Jahre benötigen, um in der Praxis Anwen- dung zu finden. Es ist eine wichtige Aufgabe der Ärzteschaft, sich mit all jenen Bedingungen zu beschäftigen, die Einfluß auf Kinder und ihre Fami- lien haben und die Entwicklung, Ge- sundheit, Befinden und Verhalten un- serer Kinder mitbestimmen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-2127–2131 [Heft 33]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über den Verfasser.

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Dr. phil.

Helmut Remschmidt

Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Hans-Sachs-Straße 6 35039 Marburg

Die Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung mit rezidi- vierendem Auftreten von demyelini- sierenden Läsionen im zentralen Nervensystem. In Tierexperimenten sowie in unkontrollierten Studien am Menschen konnte durch die Gabe von intravenösen Immunglobulinen (iv-Ig) eine Besserung beobachtet werden, die sich auf immunmodulie- rende Mechanismen mit Remyelini- sierung zurückführen ließ.

In einer randomisierten, plaze- bokontrollierten Multizenterstudie aus Österreich wurde die Gabe von intravenösen Immunglobulinen bei Patienten mit Multipler Sklerose ge- prüft. 148 Patienten wurden monat- lich mit 0,15 bis 0,2 g/kg Körperge- wicht iv-Ig (n = 75) oder mit Plazebo (n = 73) über einen Zeitraum von zwei Jahren behandelt. Die End-

punkte der Studie waren der Effekt der Medikation auf den Behinde- rungsgrad, der mittels Punktetabelle erfaßt wurde, sowie der Anteil der Patienten mit klinischer Besserung, stabilem Verlauf oder Verschlechte- rung ihrer Erkrankung.

Während die mit Plazebo behan- delten Patienten im Verlauf der zwei Jahre einen Anstieg ihres Be- hinderungs-Punktestandes aufwie- sen, kam es in der mit intravenösen Immunglobulinen behandelten Grup- pe zu einem signifikanten Rückgang der Tabellenwerte. Mit 31 Prozent gebesserten Verläufen, 53 Prozent stabiler Symptomatik und 16 Prozent Verschlechterungen schnitt die intra- venöse-Immunglobuline-Gruppe ge- genüber der Plazebogruppe (14 Pro- zent, 63 Prozent und 23 Prozent) deutlich besser ab.

Nebenwirkungen der Therapie traten bei vier Prozent der Verum- Gruppe und bei fünf Prozent der Pla- zebo-Gruppe auf.

Die monatliche intravenöse Ga- be von Immunglobulinen ist somit als effektive und nebenwirkungs- arme Therapie bei Multipler Sklero- se anzusehen. Im Gegensatz zu der- zeit ebenfalls untersuchten Therapi- en mit b-Interferonen scheint bei gleicher Wirksamkeit die geringe Rate an Nebenwirkungen sowie die einfache Handhabung von Vorteil zu

sein. acc

Fazekas F, et al.: Randomised placebo- controlled trial of monthly intravenous immunoglobulin therapy in relapsing-re- mitting multiple sclerosis. Lancet 1997;

349: 589–593.

Dr. Franz Fazekas, Abteilung für Neuro- logie, Karl-Franzens-Universität, Anen- bruggerplatz 22, 8036 Graz, Österreich.

Multiple Sklerose: Therapieerfolg durch Immunglobuline

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