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Kants kritisches Staatsrecht

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Kants kritisches Staatsrecht

Karlfriedrich Herb und B e r n d L u d w i g

Kants Schriften zur Politischen Philosophie fallen ausnahmslos i n die letzte Phase seiner schriftstellerischen Tätigkeit. B i s z u m A l t e r von 69 Jahren hat K a n t die Resultate seiner ü b e r dreißig Jahre w ä h r e n d e n B e s c h ä f t i g u n g mit Problemen der Rechts- und Staatsphilosophie z u r ü c k g e h a l t e n und seine vier auf diesem Gebiet e i n s c h l ä g i g e n V e r ö f f e n t l i c h u n g e n dann i n den knappen Zeitraum v o n fünf Jahren g e d r ä n g t : D i e Schriften Über den Gemeinspruch: Das mag für die Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis (1793) und Zum Ewigen Frieden (1795) liefern vor der Metaphysik der Sitten erste Bausteine einer Rechts- lehre. A u f das rechts- und staatsphilosophische Hauptwerk v o n 1797 folgt e i n Jahr später die geschichtsphilosophische W ü r d i g u n g der Rechtsidee i m Streit der Fakultäten.

D i e rasche Abfolge dieser Veröffentlichungen scheint die separate A u s m e s s u n g einzelner Entwicklungsschritte der Kantischen Rechtspublizistik entbehrlich z u machen — w i r haben es hier zweifelsohne a u s s c h l i e ß l i c h mit dem , s p ä t e n ' K a n t zu tun — und legt es somit nahe, eine reife, i n sich geschlossene theoretische Konzeption anzunehmen. In der Kant-Literatur sind die staatstheoretischen Schriften der neunziger Jahre daher als ein einheitlicher E n t w u r f interpretiert worden, wenngleich vereinzelt auch I n k o h ä r e n z e n moniert wurden. S o hat man Kant die Konfusion v o n apriorischer Idee und empirischem Staat z u m V o r w u r f gemacht, „ s c h w a n k e n d e B e g r i f f l i c h k e i f ' i n den publizierten Schriften moniert,

„fahrige Darstellung" des Kantischen Staatsrechts beklagt und „ i n k o n s i s t e n t e Verwendung4 4 v o n Begriffen konstatiert.1

Solchen Behauptungen liegt freilich unter anderem die Voraussetzung zugrun- de, in Kants politischem Denken habe sich seit den frühen 90er Jahren keine g r u n d s ä t z l i c h e Wandlung mehr vollzogen. In einer Reihe v o n Untersuchungen ist gezeigt worden, d a ß die Kantische Staatslehre materialiter i n der Tat nicht erst i n den neunziger, sondern bereits i n den siebziger Jahren weitgehend festge- legt i s t ,2 so d a ß zu Vermutungen üb er d i e s b e z ü g l i c h e fundamentale B r ü c h e i n

1 Kurt Borries, Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus, Leipzig 1928, 166 f.; Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin 1984, 290; Claudia Langer, Reform nach Prinzi- pien. Untersuchungen zur politischen Theorie I. Kants, Stuttgart 1986, 106.

2 Hier ist vor allem die Arbeit von Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt 1971 zu nennen.

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der späten Phase z u n ä c h s t kein A n l a ß besteht. Ferner ist man sich darin einig, d a ß der Beitrag des Kantischen Staatsrechts ohnehin weniger i n neuen inhaltlichen Positionen als vielmehr in der Integration traditioneller Ideen i n eine neue syste- matische K o n z e p t i o n beruht. N u n scheinen die beiden kleineren Schriften der neunziger Jahre aber gerade unter systematischen Gesichtspunkten wenig ergie- big, sind sie doch — ihrem Charakter als polemischem E i n w u r f (Gemeinspruch) und als konkretem Friedensprojekt (Ewiger Friede) entsprechend — p r i m ä r an materialen Aspekten der Rechtstheorie interessiert. D a sie folglich nicht auf eine systematische E x p o s i t i o n der Rechtslehre ausgerichtet sind, dürften in dieser Hinsicht n a t u r g e m ä ß keine Differenzen g e g e n ü b e r der s p ä t e r e n Schrift sichtbar werden.

Daher m u ß t e es sich angesichts der äußerst knappen Darstellung des Staats- rechts i n der Metaphysik der Sitten immer wieder anbieten, einzelne Theoreme unter Rückgriff auf ,Statements' früherer Schriften zu interpretieren. So ist denn

— um hier nur ein Beispiel z u nennen — das polemische Verdikt i m Ewigen Frieden, wonach die „ D e m o k r a t i e (. . .) notwendig ein Despotismus"3 sei, mit R e g e l m ä ß i g k e i t zitiert worden, um die Position des Kantischen Staatsrechts schlechthin zu benennen.

D i e folgenden Ü b e r l e g u n g e n stellen die S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t solcher interpre- tatorischer Rückgriffe g r u n d s ä t z l i c h i n Frage. E s soll vielmehr gezeigt werden, d a ß der Zugriff aus der Perspektive der früheren Schriften den systematischen Zugang zum Staatsrecht v o n 1797 geradezu verstellt — und dies nicht zuletzt deshalb, w e i l die eigentliche kritische Unterscheidung des Staatsrechts dem A u t o r des Gemeinspruch und des Ewigen Frieden noch nicht zur V e r f ü g u n g steht.

Anstatt das Staatsrecht w i e bisher gleichsam genetisch, v o n den früheren Schriften her zu interpretieren, unternehmen w i r i m folgenden den Versuch, die Metaphysik der Sitten als eine i n sich geschlossene Darstellung z u lesen, die keine A n l e i h e n bei früheren Schriften z u nehmen braucht. D a ß w i r dabei aller- dings eine Terminologie zur Hilfe nehmen werden, die K a n t erst i m Streit der Fakultäten v o n 1798 einführt, erklärt sich allein aus dem Umstand, d a ß Kant erst damit jene Grundunterscheidung auf den Begriff bringt, die dem Staatsrecht von 1797 die systematisch-architektonische Grundstruktur verleiht. Diese Unter- scheidung bildet nicht nur den Schlüssel zur Rekonstruktion des argumentativen Aufbaus, sie erlaubt auch eine genauere Verortung der Elemente, die Kant der Tradition entnommen und seiner kritischen Rechtslehre an verwandelt hat. A u f diese Weise wird i n gleicher Weise sichtbar werden, d a ß Kants Positionen sich zwischen 1793 u n d 1795 auch materialiter v e r ä n d e r t haben. E s w i r d sich somit

— wie w i r es bereits an anderem Ort für die Befreiung Kants v o m Erbe der 3 Ewiger Friede VIII 352. — Kantische Schriften werden zitiert nach ,Kants Gesam- melte Schriften, hg. v. d. (königlich-preußischen / deutschen / göttingischen) Akademie der Wissenschaften', Berlin 1900 ff., (Bandnummer und Seite, ggf. Zeile). A u f philo- sophische Klassiker wird generell ausgabeninvariant verwiesen.

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Hobbesschen Naturzustandstheorie gezeigt haben4 — auch in der Staatstheorie ein E m a n z i p a t i o n s p r o z e ß zeigen: D e r Gemeinspruch und die Friedensschrift werden g e w i s s e r m a ß e n in die Vorgeschichte des kritischen Staatsrechts verwie- sen.

Im Folgenden werden w i r z u n ä c h s t die kritische Grund-Unterscheidung der Kantischen Staatslehre vorstellen (I.), dann den engen Zusammenhang von Privat- recht und Staatsrecht in der Metaphysik der Sitten darlegen (II.) und den theoreti- schen Fortschritt herausarbeiten, den diese Schrift g e g e n ü b e r dem Gemeinspruch darstellt, (III.). Ferner werden w i r die Staatsformenlehre der Metaphysik der Sitten rekonstruieren und mit der i m Ewigen Frieden konfrontieren (IV.). N a c h einem H i n w e i s auf m ö g l i c h e M o t i v e , die Kant zur R e v i s i o n seiner Staatstheorie v e r a n l a ß t haben k ö n n t e n ( V . ) , gehen w i r a b s c h l i e ß e n d (VI.) der Frage der histori- schen Realisierung eines republikanischen Staatswesens nach.

I. Die kritische Unterscheidung

D e r Leser der Metaphysik der Sitten m u ß sich lange gedulden, bis Kant i h m die für die Architektonik des Staatsrechts fundamentale Unterscheidung p r ä s e n - tiert. Sie findet sich — eher beiläufig und kaum ihrem analytischen Stellenwert entsprechend — erst in der zweiten Hälfte des Staatsrechts, z u B e g i n n der Staatsformenlehre i n § 5 1 .5 K a n t unterscheidet hier die „ I d e e von einem Staats- oberhaupt'4, welche schon i m Begriff der „res publica latius dicta" angelegt ist und „objektive praktische Realität hat", v o m Begriff jener „ p h y s i s c h e n Person ( . . . ) welche die h ö c h s t e Staatsgewalt vorstellt und dieser Idee Wirksamkeit auf den V o l k s w i l l e n verschafft".6 D e r „Staat in der Idee", der Staat, w i e „er nach reinen Rechtsprinzipien sein s o l l " und der allen Gemeinwesen zur „ R i c h t s c h n u r (norma)" dient,7 war bereits i m ersten T e i l des Staatsrechts, den § § 4 5 - 4 9 , vorgestellt worden, die verschiedenen Formen, i n denen die Staatsgewalt als

„ p h y s i s c h e s " Oberhaupt erscheint, sind im A n s c h l u ß Gegenstand der Darstellung in den verbleibenden Paragraphen 51 und 5 2 .8

4 Karlfriedrich Herb, Bernd Ludwig, „Naturzustand, Eigentum und Staat — Immanuel Kants Relativierung des ,Ideal des Hobbes'", Kant-Studien 83 (1993), 283-316.

5 Die Metaphysik der Sitten (im Folgenden: MdS) V I 338.

6 Im folgenden § 52 wird dies Oberhaupt mit der Formel: „Formen, welche bloß die Untertänigkeit des Volkes zu bewirken dienen" und die verschwinden, wenn die Regie- rungsart einer „reinen Republik" gemäß wirkt, bezeichnet (MdS V I 340).

7 M d S V I 313.

s Verdeckt wird die durchsichtige Architektonik des Staatsrechts durch die mißglückte Realisierung des Drucktextes in der MdS von 1797. Die Paragraphen 45, 48, 46 und 49 bilden — in dieser Reihenfolge — die Darstellung des „Staates in der Idee", § 47 leitet dann mittels eines Konstituierungstheorems über zu den §§ 51 und 52, welche die Person des Oberhaupts behandeln; § 50 fällt aus diesem Schema heraus. — Zur Wiederherstellung der von Kant offensichtlich intendierten Gestalt des Textes siehe:

28 Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 2 (1994)

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Diese architektonische Unterscheidung bringt Kant ein Jahr später erstmals in einer Publikation auf den k r i t i s c h e n9 Begriff: Es handelt sich um die bekannte G e g e n ü b e r s t e l l u n g von „respublica noumenon" und „respublicaphaenomenon"

aus dem Streit der Fakultäten. Nachdem Kant dort z u n ä c h s t die Monarchie Englands als ein t r ü g e r i s c h e s „ B e i s p i e l "1 0 für eine vorgeblich vorbildlichen Staatsverfassung kritisiert hat, erörtert er i m A n s c h l u ß allgemein das V e r h ä l t n i s v o n der Idee einer Verfassung und deren Realisierung:

„Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen, welches, ihr gemäß durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (respublica noumenon), ist nicht ein leeres Hirngespinnst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt und entfernt allen Krieg.

Eine dieser gemäß organisirte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel1 1 in der Erfahrung (respublica phaenome- non ) und kann nur nach mannigfaltigen Befehdungen und Kriegen mühsam erworben werden; ihre Verfassung aber, wenn sie im Großen einmal errungen worden, qualifi- cirt sich zur besten unter allen, um den Krieg, den Zerstörer alles Guten, entfernt zu halten; mithin ist es Pflicht in eine solche einzutreten, vorläufig aber (weil jenes nicht so bald zu Stande kommt) Pflicht der Monarchen, ob sie gleich autokratisch herrschen, dennoch republicanisch (nicht demokratisch) zu regieren, d. i . das Volk nach Principien zu behandeln, die dem Geist der Freiheitsgesetze (wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde) gemäß sind, wenn gleich dem Buchstaben nach es um seine Einwilligung nicht befragt w ü r d e . "1 2

Bereits in einer Vorarbeit z u m Streit der Fakultäten hatte K a n t i m e i n s c h l ä g i g e n Sinne mit dem kritischen Begriffspaar operiert, indem er es unmittelbar auf die Staatsformenlehre bezog: „Respublica noumenon oder phaenomenon. D i e letztere Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre, Hamburg 1988, 75 ff. Wenngleich auch allererst der rekonstruierte Text die klare Architektonik des Staatsrechts vor Augen stellt, so liegt freilich die von uns angesprochene Zweiteilung gleichermaßen in der 1797 gedruckten Fassung vor.

9 Die nächstliegende — und hinreichende — Rechtfertigung für unsere Rede von einer „kritischen " Terminologie liefert § 7 der Rechtslehre (MdS V I 254 f.): Die „Dialek- tik" bzw. die „Antinomie" des Besitzbegriffs nötigt zur „Kritik der rechtlich-praktischen Vernunft", und diese wird — kritisch — aufgelöst durch die Unterscheidung von posses- sio noumenon und possessio phaenomenon. V g l . zur Charakterisierung gerade eines solchen Procedere als „kritisch" die methodischen Äußerungen in der Dialektik der zweiten und dritten Kritik: V 107, 114 und besonders 341. — In dieser Sache ist ferner einschlägig: Hariolf Oberer, „Ist Kants Rechtslehre kritische Philosophie?", in: Kant Studien 74 (1983), 217-224.

10 Streit der Fakultäten VII 90, 16.

1 1 Hier der — polemische — Rückbezug auf das britannische' Negativ-„Beispiel":

Man meint in Großbritannien, der Suche nach einer beständigen Verfassung und der Anstrengung der Etablierung derselben überhoben zu sein (vgl. Streit der Fakultäten VII 90, 14); auch in der Rechtslehre arbeitet Kant mit der Gegenüberstellung „Ideal"

— „Beispiel" (MdS V I 355).

12 Streit der Fakultäten VII 90.

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hat drey Formen, aber respublica noumenon ist nur eine und d i e s e l b e " .1 3 W ä h r e n d der erste Begriff von einem (rein juridischen) Staatsoberhaupt — w i e w i r sehen werden — i m Staatsrecht von 1797 i m Rahmen der E r ö r t e r u n g v o n S o u v e r ä n i t ä t und Gewaltenteilung expliziert wird, ist die Bestimmung des zweiten Begriffs v o n einem (physischen) Oberhaupt Gegenstand der gleichsam idealtypischen P r ä s e n t a t i o n v o n drei Staatsformen in der Staatsformenlehre.

E i n e n weiteren, impliziten V e r w e i s auf diese systematische Z w e i t e i l u n g des Staatsrechts finden w i r an versteckter Stelle i n der Metaphysik der Sitten selbst:

In der Vorrede betont K a n t den stenographischen Charakter der Darstellung am Ende der Rechtslehre und weist auf zwei unterschiedliche G r ü n d e der minderen A u s f ü h r l i c h k e i t i m öffentlichen Recht h i n :

„Gegen das Ende des Buchs habe ich einige Abschnitte mit minderer Ausführlichkeit bearbeitet, als in Vergleichung mit den vorhergehenden erwartet werden konnte:

theils weil sie mir aus diesen leicht gefolgert werden zu können schienen, theils auch weil die letzte (das öffentliche Recht betreffende) eben jetzt so vielen Discussio- nen unterworfen und dennoch so wichtig sind, daß sie den Aufschub des entscheiden- den Unheils auf einige Zeit wohl rechtfertigen k ö n n e n . "1 4

Im Öffentlichen Recht ist demnach die mindere A u s f ü h r l i c h k e i t einmal A u s - druck einer engen A n k n ü p f u n g an das Privatrecht: W i r werden sehen, d a ß die E x p o s i t i o n zumindest des „Staates i n der Idee", der respublica noumenon i n der T a t , l e i c h t ' aus dem erstmals 1797 veröffentlichten Privatrecht1 5 hergeleitet wer- den kann. Kants anderen H i n w e i s , i n der Theorie des öffentlichen Rechts sei — durch die Z e i t u m s t ä n d e bedingt — eine gewisse Vorläufigkeit i n Rechnung z u stellen, beziehen w i r n a c h d r ü c k l i c h auf die Staatsformenlehre, die Lehre v o n der respublica phaenomenon, denn auch Kants eigene Vorstellungen sind — w i e w i r bereits angedeutet haben — v o n 1795 bis 1797 dem Wandel unterworfen.

IL Privatrecht — Staatsrecht

Kant eröffnet das Staatsrecht mit einer Definition, deren weitreichende metho- dische Implikationen erst i m Laufe der weiteren Darstellung sichtbar werden:

E i n Staat ist die „ V e r e i n i g u n g v o n Menschen unter Rechtsgesetzen", und sofern diese Rechtsgesetze als aus Begriffen des ä u ß e r e n Rechts hervorgehend gedacht werden, ist die F o r m des gedachten Staates die „ F o r m eines Staates ü b e r h a u p t , d. i . der Staat i n der Idee, w i e er nach reinen Rechtsprinzipien" sein u n d zur N o r m einer jeden Verfassung dienen soll. N a c h dieser funktionalen B e s t i m m u n g gibt K a n t apodiktisch die Binnenstruktur des Staates an:

13 X I X 609; zur Datierung dieses Fragments, welches in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Rechtslehre verfasst wurde, siehe unten A n m . 155.

14 M d S V I 209.

15 Es spricht manches dafür, daß es überdies erst kurz vor dieser Zeit konzipiert wurde, siehe Ludwig (Anm. 8) 125.

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„Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica)."1 6

Wenngleich i n der Literatur seit langem Ü b e r e i n s t i m m u n g d a r ü b e r besteht,1 7

d a ß die Gewaltenteilung bei Kant nicht als politisches Instrument der Begrenzung staatlicher Gewalt konzipiert ist, sondern vielmehr als notwendige Konsequenz des Rechtsbegriffs entwickelt wird, so ist gleichwohl lange Zeit unentdeckt geblieben,1 8 d a ß dieses L e h r s t ü c k bereits i m Privatrecht entscheidend vorstruktu- riert ist: E s ist die Struktur des praktischen Syllogismus, die sowohl die Architek- tur des Privatrechts als auch die F o r m der Gewaltenteilung b e g r ü n d e t , und die es Kant e r m ö g l i c h t , die Gewaltenteilung — w i e es z u n ä c h s t scheinen mag — mehr oder weniger unvermittelt einzuführen.

A u f diese Bedeutung des praktischen Syllogismus für die Gewaltenteilungsleh- re weist Kant sogleich mit einer kurzen Darstellung h i n , indem er „ G e s e t z " ,

„ G e b o t " und „ S e n t e n z " zueinander i n Beziehung setzt:

„. . . gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i . das Princip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist."1 9

D i e F o r m des Vernunftschlusses ist es offensichtlich, die Begriff und Theorie des ä u ß e r e n Rechts — und somit auch den Staat i n der Idee — strukturiert.

Eine dreifache B e s t i m m u n g s b e d ü r f t i g k e i t eines ä u ß e r e n Rechts, ist aber bereits i m Privatrecht aufgedeckt worden: D i e Besitzlehre (1. H a u p t s t ü c k ) stellt den vereinigten W i l l e n aller als Quelle der Gesetze des ä u ß e r e n M e i n und Dein vor ( „ V o n der A r t etwas ä u ß e r e s als das Seine z u haben"); die Erwerbungslehre (2.

H a u p t s t ü c k ) legt die Verfahren der Subsumtion der ä u ß e r e n G e g e n s t ä n d e unter jene Gesetze dar ( „ V o n der A r t etwas Ä u ß e r e s z u erwerben"); die Theorie der subjektiv-bedingten Erwerbung (3. H a u p t s t ü c k ) beschreibt, in welcher Weise eine Sentenz nach Verfahrensregeln g e m ä ß dem Gesetz gewonnen wird („Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen G e - richtsbarkeit").2 0

16 MdS V I 316.

1 7 V g l . dazu: Jan C. Joerden, „Das Prinzip der Gewaltenteilung als Bedingung der Möglichkeit eines freiheitlichen Staatswesens", Jahrbuch für Recht und Ethik 1 (1993), 207-220.

»8 Siehe Ludwig (Anm. 8) 148 ff.

19 MdS V I 313.

2 0 In der Durchführung dieses klar gegliederten Entwurfes wird bei genauerem Hin- sehen indes eine gewisse Unausgewogenheit der Konstruktion erkennbar. Das 3. Haupt- stück thematisiert nicht etwa unmittelbar die „Sentenz" selbst, sondern widmet sich mit dem Aufweis der unterschiedlichen Gewinnung der Sentenz in Natur- und bürgerlichem Zustand eher randständigen Problemen: „Schenkung", „Leihvertrag", „Vindikation" und

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Bereits i m § 4 1 , der die Idee des rechtlichen Zustands als solchen — noch vor der Differenzierung hinsichtlich Staats-, V ö l k e r - und W e l t b ü r g e r r e c h t s — exponiert, stellt Kant die drei separaten Bestandteile der „Öffentlichen Gerechtig- keit" vor:

„Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältniß der Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts theilhaftig werden kann, und das formale Princip der Möglichkeit desselben, nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens betrachtet, heißt die öffentliche Gerechtig- keit, welche in Beziehung entweder auf die Möglichkeit, oder Wirklichkeit, oder Notwendigkeit des Besitzes der Gegenstände (als der Materie der Willkür) nach Gesetzen in die beschützende (iustitia Matrix), die wechselseitig erwerbende (iusti- tia commutativa) und die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva)lx einge- t e i l t werden kann. — Das Gesetz sagt hiebei erstens bloß, welches Verhalten innerlich der Form nach recht ist (lex iusti); zweitens, was als Materie noch auch äußerlich gesetzfähig, d. i . dessen Besitzstand rechtlich ist (lex iuridica); drittens, was und wovon der Ausspruch vor einem Gerichtshofe in einem besonderen Falle unter dem gegebenen Gesetze diesem gemäß, d. i . Rechtens ist (lex iustitiae), wo man denn auch jenen Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit eines Landes nennt, und, ob eine solche sei oder nicht sei, als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegen- heiten gefragt werden kann."2 2

„Eid", solchen Materien also, die — dem Traditionsbestand zugehörige — Randprobleme darstellen und deren systematische Hervorhebung in einem der grundlegenden Besitzleh- re gleichgestellten „Hauptstück" man nicht erwarten würde: E i n Umstand, der vermuten läßt, daß die Bedeutung dieses Hauptstücks weniger darin liegt, eigens Prinzipien der Gerichtsbarkeit vorzustellen, als darin, die durch den Syllogismus vorgegebene Struktur auszufüllen. — Es ist das Verdienst G. Deggaus (Die Aporien der Rechtlehre Kants, Stuttgart 1983, 229 ff.), zum ersten M a l dieses Hauptstück in den Blick genommen zu haben. — Kant hat ähnlich abseitige Themen wie Ersitzung, Beerbung oder Nachruhm entsprechend in einen „Episodischen Anhang" (zur Vertragslehre, MdS V I 284) verwie- sen, der für die Rechtslehre ohne systematischen Belang ist. U m so mehr verdient es unsere Aufmerksamkeit, daß die vier oben genannten Themenkomplexe an eine architek- tonisch herausragende Stelle rücken. Sie behandeln zentrale Probleme der individuellen Rechtszuweisung, wie sie noch in der heutigen Jurisprudenz die schulmäßige Prüfung des Einzelfalles leiten: Verträge, Geschäftsführung ohne Auftrag, Eigentumstitel und Verfahren der Tatsachenfeststellung. — Anders als in den vorangegangenen Hauptstük- ken liefert Kant hier nicht etwa eine Prinzipientheorie, sondern zeigt sich vielmehr an den Unterschieden bestimmter Verfahrensweisen in Natur- und bürgerlichem Zustand interessiert: Schenkungsverträge führen im bürgerlichen Zustand zu einem Zwangsrecht des Begünstigten (pacta sunt servanda), so nicht im Naturzustand; Schuldigkeiten über- tragen sich im Naturzustand auf den Entleiher, nicht aber im bürgerlichen Zustand (casum sentit dominus); dort wiederum verjähren Eigentumsansprüche (der Besitzer wird zum Eigentümer), im Naturzustand nicht; während Eide im Naturzustand („au sich") unrecht sind, stellen sie im bürgerlichen Zustand (in casu necessitatis) ein — wenn auch problematisches — legales Mittel der Wahrheitsfindung dar. Gegenstand ist in allen vier Fällen der Rechtsspruch („sententia" MdS V I 297), betrachtet in Hinblick auf die Frage, was „an sich recht" und was „vor einem Gerichtshof recht" ist (ebd.).

21 V g l . bezüglich der Zuordnung von iustitia distributiva und dritter Gewalt auch X X I I I 166.

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D i e entsprechenden privatrechtlichen Vorgaben hierfür lassen sich leicht aus- machen: In der Theorie v o n der subjektiv-bedingten A r t der E r w e r b u n g2 3 hat K a n t einleitend herausgestellt, d a ß nach der iustitia commutativa (d. i . der voran- gegangenen Erwerbungslehre des zweiten H a u p t s t ü c k s ) auch die iustitia distribu- tiva vorgestellt werden m ü s s e . Diesem Verweis zufolge ist das Dreierschema von iustitia tutatrix, iustitia commutativa und iustitia distributiva nicht nur auf die Gewaltenteilung, sondern offensichtlich auch auf das dreiteilige Privatrecht anzuwenden.

Dieses Dreierschema macht sich schließlich auch i n der „Einleitung in die Rechtslehre" geltend: Kant bestimmte die gesetzgebende Gewalt als iustitia tutatrix und das z u g e h ö r i g e Gesetz als die lex iusti ( § 4 1 ) . Letztere formuliert zugleich das erste Gesetz der U l p i a n - R e g e l n , das honeste vive24 als inneres Rechtsgebot, sich nicht z u m M i t t e l machen z u lassen. Dieses Gebot wiederum ist unmittelbar mit dem P r i n z i p des volenti nonfit iniuria (§ 47) v e r k n ü p f t2 5 und bedeutet damit s i n n g e m ä ß : „ M a c h e dich nicht z u m M i t t e l , also gib D i r die Gesetze selbst, sei aktiver S t a a t s b ü r g e r ! " . D e r V e r w e i s der zweiten und dritten U l p i a n - R e g e l auf das Dreierschema des § 41 zeigt sich unmittelbar in den Titeln lex iuridica und lex iustitiae.26 — Das Beziehungsgeflecht v o n Syllogismus, Gewaltenteilung und Privatrechtsarchitektonik ist somit i m Text der Rechtslehre durchgehend präsent.

Ü b e r den z u n ä c h s t b l o ß formalen B e z u g v o n Syllogismus und Privatrecht hinaus läßt sich auch der direkte R ü c k b e z u g der Gewaltenteilungslehre auf die Architektonik des Privatrechts unmittelbar vor A u g e n stellen: A u s dem „kollek- tiv-allgemeinen (gemeinsamen) machthabenden W i l l e n " der Besitzlehre (§ 8) macht der Paragraph 46 den staatsrechtlichen Begriff des „ a l l g e m e i n vereinigten V o l k s w i l l e n s " . M i t der Rede v o n den „ R e g e l n , etwas dem Gesetz g e m ä ß zu erwerben" bezieht sich K a n t mit seinen A u s f ü h r u n g e n zur Regierungsgewalt ( § 4 9 A b s . 1, 2) expressis verbis auf das zweite H a u p t s t ü c k des Privatrechts ( „ v o n der Erwerbung") z u r ü c k . Der Begriff der Sentenz aus dem dritten Haupt-

23 MdS V I 296 f.

24 MdS V I 236.

25 Die Kritik der praktischen Vernunft setzt „Zweck an sich selbst sein" und Selbstge- setzgebung unter dem Begriff der Autonomie gleich: Vernünftige Wesen sind „keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjects selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals blos als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen" (V 87).

26 Kant spielt in den Vorarbeiten (XXIII) die verschiedensten — untereinander unver- träglichen — Applikationsmöglichkeiten der lex iusti I iuris I iuridica I iustitiae sowie des Ulpian-Schemas durch. Hier nur einige Beispiele: 249: Axiom des Rechts / Postulat der Vernunft / allgemeiner Wille; 256: Rechtsgesetz / rechtliches Gesetz / Gesetz der Rechtmäßigkeit; 281: Möglichkeit / Wirklichkeit / Notwendigkeit (vg. R L § 4 1 ) ; 324 Occupatio / provisorischer / peremtorischer Besitz; 386 Tugendlehre / Privatrecht / Öf- fentliches Recht.

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stück (§ 36) bereitet die G e r i c h t s h o f - A u s f ü h r u n g e n des Staatsrechts (§ 49 A b s . 3) terminologisch vor.

Zentrales Problem des Kantischen Privatrechts ist — ausweislich des Unterti- tels des ersten H a u p t s t ü c k s2 7 — das ä u ß e r e M e i n und D e i n und die M o d a l i t ä t e n seiner Appropriation und Distribution. K a n t liefert hierzu eine strikt antinaturali- stische Theorie des ä u ß e r e n M e i n und D e i n ,2 8 mit der er sich von L o c k e s und Rousseaus Theorien des Arbeits-Eigentums sowie von älteren F o r m - M a t e r i e - K o n z e p t i o n e n2 9 des Sach-Eigentums distanziert.3 0

„Es ist (. . .) ungereimt, sich Verbindlichkeit einer Person gegen Sachen und umge- kehrt zu denken, wenn es gleich allenfalls erlaubt werden mag, das rechtliche Verhältniß durch ein solches Bild zu versinnlichen und sich so auszudrücken."3 1 Rechte an ä u ß e r e n G e g e n s t ä n d e n sind demzufolge stets erworben und, der spezifischen F o r m dieser Erwerbung entsprechend, notwendig ü b e r die Stiftung eines W i l l e n s v e r h ä l t n i s s e s v o n Personen vermittelt. A l l e n a t ü r l i c h e n — e m p i r i - schen — Bande zwischen Personen und Sachen sind für dieses R e c h t s v e r h ä l t n i s irrelevant. In bezug auf die Rechte an ä u ß e r e n Sachen — die damit nichts anderes als A u s s c h l i e ß u n g s b e f u g n i s s e g e g e n ü b e r anderen3 2 sind — heißt das:

„Durch einseitige Willkür kann ich keinen Andern verbinden, sich des Gebrauchs einer Sache zu enthalten, wozu er sonst keine Verbindlichkeit haben würde: also nur durch vereinigte Willkür Aller in einem Gesammtbesitz. Sonst müßte ich mir ein Recht in einer Sache so denken: als ob die Sache gegen mich eine Verbindlichkeit hätte, und davon allererst das Recht gegen jeden Besitzer derselben ableiten; welches eine ungereimte Vorstellungsart ist."3 3

Ä u ß e r e s M e i n und D e i n — so lautet die Quintessenz der Lehre v o m b l o ß - rechtlichen Besitz — ist nichts anderes als ein W i l l e n s Verhältnis: E i n universelles V e r h ä l t n i s derjenigen, die sich gemeinsam auf eine vorgegebene M e n g e v o n

27 M d S V I 245.

28 Zur Kantischen Theorie des Mein und Dein, die hier nicht näher erläutert wird, siehe Herb I Ludwig (Anm. 4).

29 V g l . MdS V I 268: „Daß die erste Bearbeitung, Begrenzung oder überhaupt Formge- bung des Bodens keinen Titel der Erwerbung desselben (. . .) abgeben könne . . . " Sollten hier Theorien Lockescher Provienienz gemeint sein, so träfe die Bemerkung vollständig daneben: „to mix his labour with" bzw. to „annex to it" (Locke, Second Treatise § 25) mischt verschiedene Materien und arbeitet dezidiert nicht mit der — kontinentalen — Form-Materie-Figur, wie wir sie z. B . von Grotius erörtert finden (De jure belli ac pacis II, 8, 19).

30 W i r beschränken uns in der folgenden Darstellung auf das Sachenrecht, weil das persönliche und das dinglich-persönliche sich in unserem Kontext vornehmlich darin vom erstgenannten unterscheiden, daß einige Sonderprobleme entfallen (Personen kön- nen z. B . — anders als Sachen — nicht zur res nullius werden, vgl. MdS V I 246).

31 MdS V I 260.

32 Für Kant gibt es nur Personen und — rechtlose — Sachen, jede Rechtsverletzung stellt damit letzten Endes eine Verletzung des Rechts einer Person dar.

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ä u ß e r e n G e g e n s t ä n d e n beziehen. Dieser kollektive, i m Begriff der „vereinigten W i l l k ü r " g e f a ß t e B e z u g ist v o n entscheidender legitimationstheoretischer Bedeu- tung: N u r indem die — an sich z u f ä l l i g e3 4 — Distribution v o n Rechten an ä u ß e r e m M e i n und D e i n als aus dem W i l l e n aller hervorgehend vorgestellt wird, ist sie mit der Freiheit der diesem W i l l e n Unterworfenen vereinbar:

„Nun kann der einseitige Wille in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besit- zes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch thun würde. Also ist nur ein jeden anderen verbinden- der, mithin collectiv allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille derjenige, welcher jedermann jene Sicherheit leisten kann."3 5

Genau dieser, aus der B e s t i m m u n g s b e d ü r f t i g k e i t des ä u ß e r e n3 6 M e i n und Dein resultierenden Notwendigkeit einer vereinigten W i l l k ü r , trägt der bürgerliche Zustand Rechnung, indem er den allgemeinen W i l l e n zum Prinzip der gesetzge- benden G e w a l t des „ S t a a t e s i n der Idee" macht:

„Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen.

Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechter- dings niemand unrecht thun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fem ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein."3 7

A u c h die B e s t i m m u n g der a u s ü b e n d e n Gewalt folgt den Vorgaben des Privat- rechts: Ihre Aufgabe ist es, dem V o l k die R e g e l n vorzuschreiben, „nach denen ein jeder i n demselben dem Gesetze g e m ä ß (durch Subsumtion eines Falles unter demselben) etwas erwerben oder das Seine erhalten k a n n " (§ 4 93 8) . Z u verstehen ist darunter die Schaffung der „ f o r m a l e n Bedingungen der A b l e i t u n g der Sache von dem Seinen des A n d e r e n " ,3 9 z. B . des „ P o l i z e i g e s e t z e s " , welches den M a r k t regelt (ebd.). E s handelt sich dabei um die Anpassung jener naturrechtlichen E r w e r b u n g s r e g e l n4 0 an die k o m p l e x e Struktur eines Zustandes der öffentlichen

34 MdS V I 256, vgl. Streit der Fakultäten V I I , 22.

35 MdS V I 256.

36 Siehe den ausdrücklichen Bezug des Sachenrechts auf den allgemeinen Willen, MdS V I 274, 5 f. Das innere Mein und Dein (die Verfügung über den eigenen Körper) spielt für die Kantische Begründung des öffentlichen Rechts keine Rolle (vgl. dazu ausführlich H e r b / L u d w i g (Anm. 4)). Kant setzt sich damit grundsätzlich von der von Hobbes bis Hart geteilten Vorstellung ab, daß die Verletzbarkeit des menschlichen Körpers („human vulnerability") eine konstitutive Bedeutung für das Rechtsproblem habe: „If men were to lose their vulnerability to each other there would vanish one obvious reason for the most characteristic provision of law and morals: Thou shalt not k i l l . " (Herbert Hart, The Concept of Law, Oxford 1961 p. 190).

37 M d S V I 313 f.

38 M d S V I 316.

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Gerechtigkeit unter einem gesetzgebenden W i l l e n . Ü b e r den B e z u g auf die verei- nigte W i l l k ü r hinaus, wie er i m B e g r i f f eines Rechtes an ä u ß e r e n G e g e n s t ä n d e n notwendig gedacht ist, verlangt der Zustand des ä u ß e r e n M e i n und D e i n verbindli- che Verfahrensregeln des Erwerbs, da die Stiftung individueller Eigentumstitel durch die naturgegebenen U m s t ä n d e nicht bestimmt ist.

Schließlich läßt sich auch für die dritte Staatsgewalt die Vorstrukturierung i m Privatrecht aufzeigen. Dort n ä m l i c h wurde das Defizit angegeben, welches ver- bleibt, wenn die Bestimmung des M e i n u n d D e i n auf Gesetzgebung und M o d i der iustitia commutativa b e s c h r ä n k t ist: D e r K ä u f e r , der nach den Gesetzen der iustitia commutativa auf dem M a r k t etwas erwirbt, kann sich nicht sicher sein, ob derjenige, der veräußert, i m r e c h t m ä ß i g e n B e s i t z der Sache ist: D e m K ä u f e r fehlt die letzte Sicherheit seines Besitzes. Erst durch die F i x i e r u n g der B e d i n g u n - gen, unter denen Rechtstitel nicht mehr auf ihre Vorgeschichte h i n befragt werden dürfen (hier: Prinzipien der V e r j ä h r u n g ) , ist rechtlicher E r w e r b und B e s i t z ä u ß e r e r G e g e n s t ä n d e somit m ö g l i c h :

„Da nun in der Reihe der von einander ihr Recht ableitenden sich dünkenden Eigenthümer den schlechthin ersten (Stammeigenthümer) auszufinden mehrentheils unmöglich ist: so kann kein Verkehr mit äußeren Sachen, so gut er auch mit den formalen Bedingungen dieser Art von Gerechtigkeit (iustitia commutativa) überein- stimmen möchte, einen sicheren Erwerb g e w ä h r e n . "4 1

D i e Einheit v o n Gesetz, Verfahren und Subsumtionsmodi g e h ö r t somit z u den begrifflichen Voraussetzungen des ä u ß e r e n Rechts. Jede Parallelisierung der Kantischen Gewaltenteilungslehre4 2 mit einem System v o n ,checks and balances' geht damit an den M o t i v e n beider Theorien vorbei: Sofern die drei Gewalten allein i m Begriff des „ S t a a t e s in der Idee" angelegt sind, ist nichts d a r ü b e r ausgemacht, d a ß sie die Gestalt v o n drei politisch voneinander u n a b h ä n g i g e n Institutionen annehmen. D a m i t ist die Kantische Gewaltenlehre aber jeglicher politischer Funktion beraubt.4 3 Im „Staat i n der Idee", der seine Notwendigkeit 40 Sachenerwerb durch occupatio, Leistungserwerb durch Vertrag und Stiftung der Hausgemeinschaft durch das Gesetz, siehe M d S VI 276.

41 MdS V I 302.

42 Strenggenommen ist die Rede von der Gewaltenteilung im Falle von Kants Staats- theorie ohnehin unangemessen: Es geht weniger darum, die staatliche Macht zu teilen, als darum, sie — begrifflich — zusammenzusetzen. Daher wird für Kant auch die von Rousseau und Hegel gehegte Befürchtung gegenstandslos, wonach die Teilung der Ge- walten die innere Einheit des Staats gefährdet; siehe Rousseau, Contrat Social II 2;

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 272.

43 Georg Cavallar (Pax Kantiana, Wien 1992, 148 ff.) klassifiziert in seiner umfassen- den Darstellung die verschiedenen Deutungen der „Herkunft" der Kantischen Gewalten- teilungslehre in historische und philosophische, d. h. in jene, die Kant in die Reihe von Locke und Montesquieu stellen und jene, die sich auf die grundlegende Rolle der Vernunftschluß-Analogie beziehen und resümiert: „Ob Kant seinen Vorgängern, der eigenen Philosophie, oder beiden folgt, muß offen bleiben", zumindest aber habe er die Konzeptionen seiner Vorgänger „kritisch umgeformt". Eine solche Darstellung übersieht den Hiatus zwischen einer rechtsphilosophischen Gewaltenlehre und einer politischen

(12)

dem ä u ß e r e n M e i n und D e i n verdankt,4 4 erscheint die Einheit der Gewalten als die „ F o r m eines Staates ü b e r h a u p t " :

„Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i . den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria) gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß."4 5

Bedeutsamer noch als bei Gewaltenteilung und V o l k s s o u v e r ä n i t ä t erweist sich die Verankerung des Staatsrechts i m Privatrecht hinsichtlich des Gesellschaftsver- trags. E r läßt sich in der spezifischen Neufassung, die er bei Kant erfährt, nur begreifen, wenn er in seinen privatrechtlichen B e g r ü n d u n g s k o n t e x t eingeordnet wird. E s ist angesichts des notorischen Bekenntnisses Kants zum Kontraktualis- mus bemerkenswert, d a ß der Vertragsgedanke i m Staatsrecht geradezu marginal abgehandelt w i r d — sein Inhalt läßt sich für Kant i n einem einzigen Satz an der Schnittstelle (§ 47) zwischen respublica noumenon und respublica phaenomenon b ü n d i g a u s d r ü c k e n :

„Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Contract, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i . des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen."4 6

Bereits i n dieser Formulierung w i r d deutlich, d a ß dem Vertrag i n der Rechts- lehre keine herrschaftskonstitutive Bedeutung zukommt: E s ist nicht etwa die Rede v o n einer Verpflichtung der B ü r g e r durch den Vertrag, sondern von der

„ R e c h t m ä ß i g k e i t " des Konstitutionsaktes der Staatsverfassung, welcher nur ver- mittels der Vertragsfigur „ g e d a c h t werden kann". Damit deutet sich an, d a ß der Vertrag herangezogen w i r d , um ein K o m p a t i b i l i t ä t s p r o b l e m zu lösen. W o r i n jenes Problem genau besteht, darauf gibt es i m Staatsrecht keinen expliziten H i n w e i s . E s bietet sich jedoch an, eine privatrechtliche Systemstelle, die ihrerseits ein K o m p a t i b i l i t ä t s p r o b l e m behandelt, zur Rekonstruktion des Vertragsarguments heranzuziehen. D i e angsprochene Stelle befindet sich in § 8, wo Kant die W i l - l e n s ü b e r t r a g u n g als Konstitutionsbedingung des ä u ß e r e n M e i n und Dein ableitet und somit bereits implizit auf die Vertragsfigur hinweist.

Lehre der Gewaltenteilung. Die Vermutung, daß die letztere bei Kant den Anlaß für die erstere liefert, ist zwar naheliegend (vgl. Ritter (Anm. 2) 251), bleibt jedoch der Theorie selbst gänzlich äußerlich.

4 4 Siehe MdS V I 313: „Es würde also, wenn es im Naturzustande auch nicht proviso- risch ein äußeres Mein und Dein gäbe, (. . .) auch kein Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen." V g l . H e r b / L u d w i g (Anm. 4).

45 MdS V I 313.

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Vorbereitend dazu hatte Kant bereits i m „ R e c h t l i c h e n Postulat der praktischen Vernunft", die Notwendigkeit der Einrichtung v o n V e r h ä l t n i s s e n des ä u ß e r e n M e i n und Dein als Folge aus dem Kategorischen Imperativ aufgewiesen: Eine B e s c h r ä n k u n g des m ö g l i c h e n M e i n und Dein auf das innere M e i n und D e i n , das physisch Innegehabte, ist mit dem F o r m a l i t ä t s p o s t u l a t der praktischen Vernunft nicht vereinbar. D a die dem ä u ß e r e n M e i n und D e i n zugrundeliegende Besitzbe- ziehung folglich keine physische — und damit a fortiori keine angeborene — sein kann, ist das individuelle ä u ß e r e M e i n und D e i n stets ein erworbenes,4 7 das sich seinerseits nur artikulieren kann als der A n s p r u c h , andere v o m Gebrauch des betreffenden Gegenstandes der W i l l k ü r a u s z u s c h l i e ß e n :

„Wenn ich (wörtlich oder durch die That) erkläre: ich will, daß etwas Äußeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden Anderen für verbindlich, sich des Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten: eine Verbindlichkeit, die niemand ohne diesen meinen rechtlichen Act haben würde. In dieser Anmaßung aber liegt zugleich das Bekennt- niß: jedem Anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleich- mäßigen Enthaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor."4 8

B e z ü g l i c h alles zufälligen, mithin erwerblichen Rechts konkurriert somit der berechtigte A n s p r u c h jedes Einzelnen, alle anderen v o m Gebrauch beliebiger ä u ß e r e r G e g e n s t ä n d e a u s z u s c h l i e ß e n , mit dem angeborenen Recht eines jeden

„ U n a b h ä n g i g k e i t von eines anderen n ö t i g e n d e r W i l l k ü r " ,4 9 n ä m l i c h nur solche Verbindlichkeiten zu akzeptieren, die selbst auferlegt sind.

M a n erkennt nicht unmittelbar, d a ß K a n t an dieser Stelle bereits die Vertragsfi- gur — i n der Gestalt des Begriffs eines vereinten W i l l e n s — b e m ü h t , u m diese gleichsam antinomische Struktur aufzubrechen:

„Nun kann der einseitige Wille in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besit- zes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch thun würde. Also ist nur ein jeden anderen verbinden- der, mithin collectiv allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille derjenige, welcher jedermann jene Sicherheit leisten kann."5 0

Im „ P e r s ö n l i c h e n Recht" wird der Begriff eines vereinigten W i l l e n s der K o n - traktanden i n das Zentrum der Vertragslehre gestellt:

„Also weder durch den besonderen Willen des Promittenten noch den des Promissars (...) geht [beim Vertrag] das Seine des ersteren zu dem letzteren über, sondern nur durch den vereinigten Willen beider, (. . .) beide Acte, des Versprechens und der Annehmung [müssen], nicht als aufeinander folgend, sondern aus einem einzigen gemeinsamen Willen hervorgehend" gedacht werden.5 1

47 MdS V I 258.

48 MdS V I 255.

49 MdS V I 237.

so MdS V I 256.

5i MdS V I 272 f.

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D i e Verwendung der Vertragsfigur als eines — idealen — Konstitutionsakts des ä u ß e r e n M e i n und D e i n i m Allgemeinen und des Sachenrechts i m Besonderen kommt wenig später dann explizit z u m Ausdruck:

„. . . mein Recht [auf eine Leistung] aber ist nur ein persönliches, nämlich gegen eine bestimmte physische Person, und zwar auf ihre Causalität (ihre Willkür) zu wirken, mir etwas zu leisten, nicht ein Sachenrecht gegen diejenige moralische Person, welche nichts anders als die Idee der a priori vereinigten Willkür aller ist, und wodurch ich allein ein Recht gegen jeden Besitzer derselben erwerben kann;

als worin alles Recht in einer Sache besteht."52

E i n p e r s ö n l i c h e s Recht — v o r z ü g l i c h , wenn es eine b l o ß e Leistung betrifft

— wird begriffen als ein doppelseitiges W i l l e n s v e r h ä l t n i s , das durch einen bilate- ralen Vertrag gestiftet wird. E i n Sachenrecht hingegen ist ein allseitiges5 3 W i l - l e n s v e r h ä l t n i s , hervorgehend aus einem omnilateralen V e r t r a g .5 4

D i e Vertragsfigur stellt damit gleichsam eine Argumentation zweiter Stufe dar: Sie löst die vorgebliche Paradoxie auf, d a ß der M e n s c h frei und dennoch zugleich den E i g e n t u m s a n s p r ü c h e n anderer unterworfen ist. N u r durch den ur- s p r ü n g l i c h e n Vertrag kann eine rechtliche V e r e i n i g u n g von Personen unter einer Gesetzgebung des ä u ß e r e n , mithin zufälligen M e i n und D e i n als eine solche

„ g e d a c h t werden", die den Person-Charakter des sich Unterwerfenden bewahrt, indem sie i h n S t a a t s b ü r g e r werden läßt: D i e normative Kraft des Vertrages ist somit i n erster L i n i e eine restriktive für das Oberhaupt, denn die Staatsverfassung geht idealiter aus einem multilateralen Vertrag der Untertanen hervor und letztere m ü s s e n somit „in der Idee" der Verfassung zugestimmt haben k ö n n e n . D i e Verpflichtung hingegen, sich einer solchen Ordnung des M e i n und D e i n zu unterwerfen, geht diesem gedachten Vertrag voran. Sie macht ihn damit allerdings auch u n u m g ä n g l i c h . Diese Verteilung der B e g r ü n d u n g s l a s t e n ist für die legitima- tionstheoretische Funktion des Vertrages v o n entscheidender Bedeutung: D i e Verpflichtung des Einzelnen, der staatlichen Gesetzgebung zu gehorchen, ist nicht Resultat des gedachten Vertragsschlusses selbst, sondern allein des Postulats der praktischen Vernunft; der Gesellschaftsvertrag stellt d e m g e g e n ü b e r nur die rechtliche F o r m bereit, mittels derer jene Verpflichtung mit dem angeborenen Recht zusammenbestehen kann.

52 MdS V I 274.

53 Kant verwendet das Wort „allseitig" in diesem Sinne bezüglich des Sach-Eigentums (§ 14, MdS V I 263). Die Anwendung dieses Wortes auf das dinglich-persönliche Recht (MdS V I 260) bezieht sich — in rätselhafter Weise — nicht auf die Besitzbeziehung, sondern auf den Erwerbungsakt: in jenem Sinne wäre dann andererseits der Sacherwerb

„einseitig".

54 Im Rückblick stellt sich selbstverständlich heraus, daß die Figur des allgemeinen Willens und die kontraktualistische Figur sich wechselseitig bedingen. Indem Kant die Stiftung des Status civilis idealiter als Vertrag konstruiert, faßt er den Souverän als vereinigte Willkür aller.

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Es m a g für das V e r s t ä n d n i s der Kantischen Vertragsidee hilfreich sein, auf ein analoges B e g r ü n d u n g s m u s t e r hinzuweisen, welches sich a u ß e r h a l b des Staats- rechts findet, n ä m l i c h i n der Kritik der praktischen Vernunft von 1790: Kant hat in der „ A n a l y t i k " jener Schrift z u n ä c h s t die Verbindlichkeit des Kategorischen Imperativs, des moralischen Gesetzes, aufgezeigt und ü b e r r a s c h t a n s c h l i e ß e n d den Leser i n der „ D i a l e k t i k " mit einer A n t i n o m i e , die das Ergebnis des Beweis- ganges vollständig i n Frage z u stellen scheint:

„Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein."5 5

Entdeckt sich der Kategorische Imperativ — nachdem sein A n s p r u c h unab- weislich dargelegt wurde — i m Nachhinein als C h i m ä r e ?5 6 H i e r zeigt sich offen- sichtlich ein ähnliches P r o b l e m w i e i n der Vertragslehre: Ist ä u ß e r e s M e i n und D e i n nach praktischen R e g e l n — d. h. hier: ohne V e r s t o ß gegen die Freiheit anderer — u n m ö g l i c h , so m u ß auch das Rechtliche Postulat (und damit der Kategorische Imperativ5 7), welches das M e i n und D e i n fordert, „ a n sich falsch sein". D a s „ h ö c h s t e politische G u t " ,5 8 der ewige Friede, gesichert durch die b ü r g e r l i c h e Verfassung unter Rechtsgesetzen, w ä r e i n Frage gestellt, wenn meine

„ U n a b h ä n g i g k e i t von eines anderen n ö t i g e n d e r W i l l k ü r " nicht mit dem entgegen- stehenden Recht anderer, m i r „eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, die [ich] sonst [d. i . ohne einen A k t fremder W i l l k ü r ] nicht h ä t t e " ,5 9 zusammenbestehen k ö n n t e . Kant hat eine solche A n t i n o m i e und somit die Parallele zur zweiten K r i t i k g e w i ß nicht b e w u ß t konzipiert — dann m ü ß t e man i m Zusammenhang mit dem V e r - tragsargument oder i m B e s c h l u ß der Rechtslehre60 eine Terminologie erwarten, die der Parallelführung A u s d r u c k verleiht. W o r a u f es vielmehr ankommt, ist, d a ß K a n t die Gottesidee i n der Kritik der praktischen Vernunft als denknotwendi- ge Bedingung des h ö c h s t e n Gutes, welches z u befördern Pflicht ist, mit derselben Argumentationsfigur einführt:

„Nun war es Pflicht für uns das höchste Gut zu befördern, mithin nicht allein Befugniß, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfniß verbundene Nothwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzertrennlich verbindet, d. i. es ist moralisch nothwendig, das Dasein Gottes anzunehmen."6 1

55 V 114.

56 Der Hinweis auf diese Wendung — und den damit verbundenen, höchst erstaunli- chen Sachverhalt, daß über die Gültigkeit der Resultate der Analytik in der Dialektik entschieden werden soll — findet sich bei Reinhard Brandt, „Gerechtigkeit bei Kant", Jahrbuch für Recht und Ethik 1 (1993), 25-44, hier 32.

57 M d S V I 252.

58 M d S V I 355.

59 M d S V I 251.

60 M d S V I 354 f.

61 Kritik der praktischen Vernunft V 125.

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D i e Konstruktion der Vertragsfigur in der Rechtslehre ist — wie w i r sahen

— formal ganz analog gehalten: D i e Befolgung der Gesetze des ä u ß e r e n M e i n und D e i n ist Pflicht, und die (in diesem F a l l : rechtliche) Möglichkeit, einer solchen Pflicht zu gehorchen, ist sichergestellt durch die Fiktion eines Vertrages, der die Gesamtheit der Vertragspartner als Subjekte der Gesetzgebung und damit Herrschaft als Selbstbindung der Individuen begreift. — W i e die „Realität der Idee von Gott (. . .) nur in praktischer Absicht, d. i . so zu handeln, als ob ein Gott sei, also nur für diese A b s i c h t bewiesen werden" k a n n ,6 2 so besteht die

„Realität" der Idee des Vertrages nur darin, so zu handeln, als sei der Vertrag geschlossen. D i e Suche nach Gott am Anfang der Naturgeschichte ist damit ebenso vergeblich wie die Suche nach dem Vertrag am Anfang der b ü r g e r l i c h e n Geschichte:

„Der Geschichtsurkunde dieses Mechanismus nachzuspüren, ist vergeblich, d. i . man kann zum Zeitpunkt des Anfangs der bürgerlichen Gesellschaft nicht herauslan- gen (denn die Wilden errichten kein Instrument ihrer Unterwerfung unter das Gesetz, und es ist auch schon aus der Natur roher Menschen abzunehmen, daß sie es mit der Gewalt angefangen haben werden)."6 3

So wenig Gott und Vertrag jeweils den Anfang der Geschichte markieren, so wenig bilden sie das Fundament der Verpflichtung: So wäre es z u m einen eine Verkennung der moralischen Verbindlichkeit, Gott als deren G r u n d zu sehen:

„Auch wird hierunter nicht verstanden, daß die Annehmung des Daseins Gottes, als eines Grundes aller Verbindlichkeit überhaupt, nothwendig sei (denn dieser beruht, wie hinreichend bewiesen worden, lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst)."6 4

Z u m anderen resultiert auch die Verbindlichkeit der Gesetze des ä u ß e r e n M e i n und D e i n unmittelbar aus dem kategorischen Imperativ, welcher — in F o r m des Rechtspostulats — vor jedem Vertragsargument gebietet, sich der bestehenden Eigentumsordnung zu unterwerfen. M i t der Idee des Vertrages soll (wie auch mit der Idee Gottes) keine neue Verbindlichkeit erzeugt, sondern nur die F o r m angeben werden, in der die v o r g ä n g i g e moralische V e r b i n d l i c h k e i t nun mit der Freiheit des anderen (im Falle der Idee Gottes: mit der eigenen G l ü c k s e l i g k e i t ) zusammen „ g e d a c h t werden kann".

III. Der Staat in der Idee

D i e bisherigen A u s f ü h r u n g e n haben dem Z w e c k gedient, das Staatsrecht der Metaphysik der Sitten von seiner Fundierung i m Privatrecht her zu interpretieren.

Dabei hat sich gezeigt, d a ß die zentralen Momente des Begriffs eines „ S t a a t e s 62 Logik I X 93.

63 MdS V I 339.

64 Kritik der praktischen Vernunft V 125 f.

(17)

in der Idee" — nach Kants Versicherung „leicht" — aus dem Privatrecht „gefol- gert werden" k ö n n e n .

W e n n Kant mit der B e g r ü n d u n g s d y n a m i k von Privatrecht und öffentlichem Recht gleichsam die traditionelle Dichotomie von Naturzustand und b ü r g e r l i c h e m Zustand ersetzt und damit das kontraktualistischen B e g r ü n d u n g s p r o g r a m m radi- k a l entlastet, so macht er sich doch bei der Konstruktion des Staatsrechts eine V i e l z a h l der Elemente aus dem Bestand der Tradition zu eigen. D a ß er sich dabei vor allem des Rousseauschen Erbes bedient, hat K a n t in einer vielzitierten Reflexion selbst hervorgehoben, indem er Rousseaus Theorie als wichtigste Inspi- rationsquelle seines Staatsrechts nennt. Rousseaus „contract social ( B ü r g e r b u n d ) "

w i r d dabei gleichsam als „ideal des Staatsrechts" vorgestellt.6 5

In der Metaphysik der Sitten fällt der N a m e Rousseaus nur ein einziges M a l

— und dies i n einem eher unspezifischen Z u s a m m e n h a n g6 6 — , die Rousseau- schen Elemente lassen sich indes leicht ausmachen. Sie finden sich i m Kontext des „Staates i n der Idee". Diese strikte Zuordnung z u m noumenalen Begriff des Staates ist nun allerdings v o n weitreichender Konsequenz. Sie macht deutlich

— was i m folgenden noch n ä h e r dargestellt wird — , d a ß Kant mit der neuen topologischen Unterscheidung v o n noumenalen und p h ä n o m e n a l e n Momenten des Staatsbegriffs eine K o h ä r e n z zwischen jenen beiden Prinzipien herzustellen vermag, die Rousseau zuvor als Grundantinomien der politischen Moderne begrif- fen hatte: die kollektiv-allgemeine Gesetzgebungsautonomie des V o l k e s und die

— von ihm i n den B e r e i c h rechtlicher Heteronomie verbannte — politische R e p r ä s e n t a t i o n . V e r g e g e n w ä r t i g t man sich z u n ä c h s t den Textbefund des § 46, so zeigt sich, d a ß Kant sich das erstgenannte Prinzip u n e i n g e s c h r ä n k t zu eigen macht. Im Kantischen „Staat in der Idee" herrschen die Rechtsbedingungen der Rousseauschen Republik: die unvermittelte, einstimmige Gesetzgebung aller ü b er alle. H i e r

„kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein."6 7

M i t dem D i k t u m , d a ß „ n u r der ü b e r e i n s t i m m e n d e W i l l e A l l e r gesetzgebend sein" kann, verwandelt K a n t die Rousseausche „ v o l o n t e generale" seinem Staats- recht an und verknüpft — wie zuvor Rousseau — die Theorie des allgemeinen W i l l e n s mit dem Prinzip der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t . A u c h die B e g r ü n d u n g , die Kant für die (den „Staat in der Idee" charakterisierende!) unvermittelte Kollektivgesetz-

65 X I X 99.

66 Kant beruft sich auf den Zivilisationskritiker Rousseau, den Autor des II. Discours, wenn er bei der Kritik des eudämonistischen Staats einräumt, daß „das Wohl der Staats- bürger und ihre Glückseligkeit (. . .) (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und erwünschter ausfal- len" (MdS V I 314) könne.

67 MdS V I 313.

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gebung angibt, folgt v o l l s t ä n d i g der Rousseauschen V o r l a g e .6 8 E s ist der Rekurs auf das i n realistischer D i k t i o n vorgestellte Prinzip des „volenti non fit iniuria".

„Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen.

Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechter- dings niemand unrecht thun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria)"69

B e i der Vorstellung der Exekutivgewalt i n § 49 greift Kant ebenfalls in konzep- tioneller und terminologischer Hinsicht auf den Contrat Social zurück. W i e Rousseau versteht er die „ R e g i e r u n g " als b l o ß e s Organ der Exekutive. F o l g l i c h ist der „ R e g e n t des Staats (rex, p r i n c e p s ) "7 0 nicht s o u v e r ä n , sondern b l o ß zu partikularen Handeln befugt: Sein Handeln führt zu „ D e c r e t e n " , nicht zu „Geset- zen", die allein der Legislativgewalt des V o l k e s vorbehalten bleiben.

D a ß K a n t das V e r h ä l t n i s zwischen Legislative und Exekutive nach Rousseau- schem Muster konzipiert, zeigt sich auch darin, d a ß er den Begriff des Despotis- mus hier ü b e r die Thematisierung des V e r h ä l t n i s s e s beider Gewalten einführt.

M i t Rousseau nennt er eine „ R e g i e r u n g , die zugleich gesetzgebend w ä r e "7 1 und einen „ S o u v e r ä n " , der „als Regent agiert", g l e i c h e r m a ß e n „ d e s p o t i s c h " .

A u c h der Vertragsbegriff ist nach M a ß g a b e von Rousseaus „ B ü r g e r b u n d "

konzipiert. D e r Wortlaut der Kantischen A u s f ü h r u n g e n erscheint als eine A r t Kurzfassung des „contrat social", wobei zugleich allerdings einige charakteristi- sche M o d i f i k a t i o n e n sichtbar werden. — V e r g e g e n w ä r t i g e n w i r uns noch einmal die Kantische Formulierung:

Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Contract, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i . des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der Mensch im Staate habe einen Theil seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i . in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt."7 2

6 8 V g l . Contrat Social O C III 368, 383,484. Wir zitieren Rousseau nach der vierbändi- gen Ausgabe in der Bibliotheque de la Plelade: B. Gagnehin und M. Raymond (ed.), J.- J. Rousseau, Oeuvres Completes (OC), Paris 1964 (Band und Seitenzahl).

69 MdS V I 313.

7 0 Bis zu Rousseau galten „rex" und „princeps" noch als Träger der Souveränität.

Siehe etwa Pufendorf De jure naturae et gentium libri octo, Frankfurt / Main 1672 Kap.

VII, 2.

71 MdS V I 316.

72 MdS V I 315 f.

(19)

K a n t präsentiert den Vertrag als omnilateralen Gesellschaftsvertrag, wobei der Inhalt des Vertragsaktes ganz auf das juridische Stiftungsereignis reduziert wird.

Rechtstechnische Detailprobleme, wie sie in der Vertragstradition etwa hinsicht- lich der K a u s a l i t ä t von Vertragskonstitution und Herrschaftsdelegation und der Definition der Vertragskontrahenten diskutiert wurden, haben nun jegliche R e l e - vanz v e r l o r e n .7 3 A l s juridische Kategorie markiert der Vertrag den Moment des Ü b e r g a n g s v o m n a t ü r l i c h e n zum b ü r g e r l i c h e n Zustand, indem er die n a t ü r l i c h e zur b ü r g e r l i c h e n Freiheit transformiert.

Bemerkenswert ist dabei durchaus, d a ß Kant hier Rousseaus Idee der „aliena- tion t o t a l e "7 4 wieder aufnimmt und sich damit gegen die v o n Hobbes und L o c k e vertretene Vorstellung eines b e s c h r ä n k t e n Rechtsverzichts7 5 wendet. A u c h für Kant verlangt die Z u g e h ö r i g k e i t zum Staat einen v o l l s t ä n d i g e n V e r z i c h t auf die

„ n a t ü r l i c h e Freiheit" der Vertragskontrahenten. W ä h r e n d Rousseau den B e g r i f f der „ a l i e n a t i o n " mit ethischen und anthropologischen Problemen auflädt, wonach der E i n z e l n e erst i m Staat zum Subjekt wird, sucht K a n t ihn zu entlasten, indem er a u s s c h l i e ß l i c h juridisch interpretiert: Der V e r z i c h t bezieht sich jetzt allein auf die „ a n g e b o r e äußere Freiheit" der Vertragspartner.

O b g l e i c h Kant mit derselben Schärfe den Schnitt zwischen der Idee eines Naturzustandes und der des Staates setzt, faßt er die D i s k o n t i n u i t ä t beider Z u s t ä n - de doch als rein juridische. D i e K o n v e r s i o n v o m „ h o m m e naturel" zum „ c i t o y e n "

spiegelt die v e r ä n d e r t e n Anwendungsbedingungen des Rechts i m vorstaatlichen und staatlichen Zustand, sie m ü n d e t nicht in die Rousseausche Vorstellung einer durch den Vertrag inszenierten Denaturierung des M e n s c h e n .7 6 Im Kantischen Staat bleibt der Einzelne, was er a u ß e r h a l b seiner staatlichen Existenz ist: ein sinnliches Vernunftwesen, das in Gemeinschaft mit anderen einer ä u ß e r e n B e - grenzung seiner Freiheit bedarf. F ü r Telosspekulationen bietet das Kantische Staatsrecht keinen Platz.

7 3 Dafür, daß mit dem bloß kriteriologischen Gebrauch der Vertragsfigur ein genuiner Problem bestand der Vertragstradition obsolet wird (Hobbes, Pufendorf, Rousseau), spricht auch Kants zuweilen unbedenkliche Terminologie. Nur einmal bezeichnet er den Vertrag als Unterwerfungsvertrag (MdS V I 318).

7 4 „Ces clauses bien etendues se reduisent toutes ä une seule, savoir l'alienation totale de chaque associe avec tous ses droits ä toute la communaute\ (. . .) De plus, 1'.alienation se faisant sans r^serve, l'union est aussi parfaite qu'elle peut l'etre et nul associe" n'a plus rien ä reclamer" (Contrat Social I 6 O C III 360 f.).

75 V g l . Hobbes, De Cive II 18, Leviathan X I V 8; Locke, Second Treatise § 130 f.

7 6 Hier zeigt sich im übrigen deutlich, wie Rousseau sein vertragstheoretisches Begrün- dungsprogramm verläßt und seiner politischen Philosophie eine paradoxe Wendung zur Polistheorie gibt. Während ihm zunächst — im Sinne des modernen Kontraktualismus

— moralische und rechtliche Subjektivität als Voraussetzung des Vertrages gilt (CS I 1 -6), erscheint sie im Licht der „alienation" nun als dessen Folge (CS I 8). V g l . dazu Karlfriedrich Herb, Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Be- gründungen, Würzburg 1989, 155 ff.

29 Jahrbuch für Recht und Ethik, B d . 2 (1994)

(20)

D i e durch die Staatsrechts-Architektonik e r m ö g l i c h t e Reduktion der Staatsidee auf einen rein juridischen Normbegriff, führt nicht nur dazu, d a ß Kant die Aporien des Contrat social umgeht, die sich dort ergeben, w o Rousseau Rechtsidee und Realisierungsbedingungen i n eins zu denken versucht; die Reduktion betrifft auch die B e g r ü n d u n g s a b s i c h t e n des Vertragsbegriffs selbst. A n der Handhabung des Vertrages läßt sich demnach i n der Metaphysik der Sitten ein R ü c k z u g aus einem zentralen Aufgabenfeld des Kontraktualismus ablesen.

W ä h r e n d der Vertrag bei Rousseau noch den exklusiven Verpflichtungsgrund der B ü r g e r liefert, macht K a n t den Vertrag — wie i m vorangehenden gezeigt

— mit seinem privatrechtlichen B e g r ü n d u n g s a n s a t z hier gerade entbehrlich. Ent- lastet v o n verpflichtungstheoretischen Aufgaben, wird der Begriff des „ B ü r g e r - bundes" damit ganz frei für kriteriologische Z w e c k e .

Hinsichtlich des B e g r ü n d u n g s g e f ü g e s erweist sich Rousseaus Theorie in die- sem Zusammenhang g e g e n ü b e r der Kantischen gleichsam spiegelverkehrt. Weit- gehend ohne Privatrecht konzipiert, hat sie i m „contrat social" ihr legitimations- theoretisches Gravitationszentrum: D e r Vertrag allein trägt, nachdem auch die traditionellen naturrechtlichen B e g r ü n d u n g s m u s t e r abgewiesen sind, die gesamte B e g r ü n d u n g s l a s t der „ p r i n c i p e s du droit politique". D e r Staat als Instanz der B e s c h r ä n k u n g der Freiheit aller kann sich nur noch aus den freiheitskonformen Bedingungen seiner Konstitution legitimieren: er hat sein Fundament i n den Momenten der F r e i w i l l i g k e i t des Vertrages, der strikten R e z i p r o z i t ä t der Vertrags- beziehungen und der Permanenz der kollektiven Gesetzgebung, die den öffentli- chen Gesetzen den Charakter v o n Selbstverpflichtungen verleiht:

„Les engagements qui nous lient au corps social ne sont obligatoires que parce qu'ils sont mutuels, et leur nature est teile qu'en les remplissant on ne peut travailler pour autrui sans travailler aussi pour s o i . "7 7

D i e Vertragsfigur liefert damit die L ö s u n g des Grundproblems des Staates, die Vereinigung v o n Freiheit und Z w a n g . Das Handeln des Staates ist danach:

„legitime, parce qu'elle a pour base le contract social, equitable, parce qu'elle est commune ä tous, utile, parce qu'elle ne peut avoir d'autre objet que le bien general, et solide, parce qu'elle a pour garant 1a force publique et le pouvoir supreme. Tant que les sujets ne sont soumis q u ' ä de telles Conventions, ils n'obeissent ä personne, mais seulement ä leur propre volonteV'7 8

W a r damit staatlicher Z w a n g aus dem Prinzip des allgemeinen W i l l e n s b e g r ü n - det, so hing dieses Prinzip selbst doch innerhalb der Rousseauschen Theorie seltsam i n der L u f t7 9 — ein Umstand, der aus Rousseaus weitgehendem V e r z i c h t

77 Contrat Social II 4 O C III 373.

78 Contrat Social II 4 O C III 374 f.

79 Daraufhat nachdrücklich Julius Ebbinghaus in seiner ansonsten durchaus problema- tischen Skizzierung der Entwicklung von Hobbes bis Kant hingewiesen: „Das Kantische System der Rechte des Menschen und des Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen

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