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Deweys Demokratietheorie und die Kinderstube der Demokratie

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Academic year: 2022

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Universität Hamburg

Fakultät für Erziehungswissenschaft 01c Abschlussmodul

Sommersemester 2020

Erstgutachter: Prof. Dr. Helmut Richter Zweitgutachter: Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker

Bachelorarbeit

Deweys Demokratietheorie und die „Kinderstub e der Demokratie“

14.07.2020

Eingereicht von Jonah Trubbas Matrikelnummer: 7043930 Erziehungs- und Bildungswissenschaft

Studienschwerpunkt: Sozialpädagogik/Kinder- und Jugendbildung Nebenfach: Kulturanthropologie

6. Fachsemester Hammerbrookstraße 42b

20097 Hamburg 0152 02836265

bav2650@studium.uni-hamburg.de

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ... 1

2 John Deweys Demokratietheorie ... 2

2.1 Abgrenzung zur Reformpädagogik... 2

2.2 Erfahrung und Erziehung ... 3

2.3 Erfahrung und Demokratie ... 6

2.4 Historische Analyse ... 8

2.5 Demokratie und Öffentlichkeit ... 11

3 Die Kinderstube der Demokratie ... 13

3.1 Vorstellung des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“ ... 13

3.2 Das Forschungsprojekt „Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen“: ein weiterer empirischer Zugang ... 15

3.3 Einordnung der Items und ihre Praxis ... 18

3.3.1 Lebensform: Deliberative Demokratie ... 18

3.3.2 Zwischen Lebensform und Regierungsformen: Keimformen deliberativer Demokratie in Expertendemokratie ... 20

4 Die in der „Kinderstube der Demokratie“ implementierten demokratischen Strukturen und Deweys Demokratietheorie ... 22

4.1 Theoretisch: Lebensform (K2) und Regierungsform (K1) ... 22

4.2 Partizipation als bildungsförderndes demokratisches Recht (K3) ... 25

4.3 Dialogische Kommunikation (K6) ... 26

4.4 Partizipationsprojekte (K4) ... 27

4.5 Kita-Verfassung (K5) ... 28

5 Fazit ... 30

6 Literaturverzeichnis ... 32

Eidesstattliche Erklärung ... 35

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1 Einleitung

John Dewey schrieb bereits 1916 von einer Demokratie als Form des Zusam- menlebens, die mehr als eine Regierungsform ist (vgl. Dewey 2000, S. 121).

Sozialpädagogische Autor*innen benutzen diese Grundfigur Deweys in aktu- ellen Überlegungen zur Demokratie in sozialpädagogischen Institutionen, um damit – über die Wahl und Abwahl Delegierter hinaus – einen Bezug zum All- tag und sozialen Miteinander herzustellen. Einer solchen Überlegung unter- liegt auch das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ von Rüdiger Hansen, Raingard Knauer und Bianca Friedrich (vgl. 2004). Demokratie wird hier, unter Bezugnahme Deweys, kategorial in Demokratie als Regierungsform und De- mokratie als Lebensform differenziert (vgl. Hansen und Knauer 2017, S. 17).

Ansonsten wird Dewey nicht weiter als theoretischer Bezugsautor verwendet.

Dewey verweist mit der Idee der Demokratie als Form des Zusammenlebens jedoch auf ein theoretisches Gebäude, das im Folgenden anhand der Primär- quellen „Demokratie und Erziehung“ (vgl. Dewey 2000) und „Die Öffentlichkeit und ihre Probleme“ (vgl. Dewey 1996) erläutert wird. Dafür wird zunächst an- hand Deweys Entwicklungsbegriff dargestellt, inwiefern er sich in seiner The- orie von (als reformpädagogisch diskutierten) Zeitgenossen unterschied. Dann wird der Erfahrungsbegriff mit Blick auf Deweys Erziehungstheorie erläutert und inwiefern eine daraus abgeleitete Demokratietheorie über das Individuum hinaus eine Analyse der Eigenarten einer Gesellschaft bedarf. Dabei stellen sich bestimmte Normen heraus, die den Erfahrungsaustausch innerhalb einer Gesellschaft bewerten und anhand derer Dewey eine historische Analyse ver- gangener Gesellschaften seit der Antike gemacht hat – auch diese wird vor- gestellt. Letztlich wird Deweys Öffentlichkeitsbegriff, mit dem sich auch eine positive Vorstellung einer demokratischen Regierungsform verbindet, vorge- stellt.

Danach wird das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ in seinen theore- tischen Grundzügen und Kernelementen, die als Items festgehalten werden, vorgestellt. Um einen empirischen und spezifisch sozialpädagogischen Ein- blick in die Praxis dieser Items zu erhalten, wird Elisabeth Richters, Benedikt

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Sturzenheckers und Teresa Lehmanns Forschungsprojekt „Demokratie in Kin- dertageseinrichtungen“ (DeiKi) hinzugezogen.

Letztlich wird untersucht, ob diese Items als Kernelemente der „Kinderstube der Demokratie“ Deweys Demokratietheorie gerecht werden. Damit verbun- den ist die Forschungsfrage, ob die in dem Konzept „Kinderstube der Demo- kratie“ implementierten demokratischen Strukturen sowohl theoretisch als auch praktisch Deweys Demokratietheorie gerecht werden.

2 John Deweys Demokratietheorie

Im Folgenden wird zunächst John Deweys Erziehungstheorie anhand seines Entwicklungsbegriffs theoriegeschichtlich eingeordnet. Dann wird die Erzie- hungsdefinition Deweys anhand seines Erfahrungsbegriffs erläutert und die Beziehung zwischen Erziehung und Demokratie als Form des Zusammenle- bens hergestellt. In einem weiteren Schritt wird Deweys Analyse verschiede- ner sozialhistorischer Bedingungen der Vergesellschaftung vorgestellt und letztlich die Dimension der Öffentlichkeit in Deweys Demokratietheorie (vgl.

Jörke 2018, S. 150) erläutert.

2.1 Abgrenzung zur Reformpädagogik

Der Diskurs um die Pädagogik am Ende des 19. Jahrhunderts und in der ers- ten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von der Reformpädagogik geprägt. Der charakteristische Bruch zwischen „alter“ und „neuer“ Pädagogik, in denen sich beispielsweise theoretisch einflussreiche Autoren wie Pestalozzi, Fröbel und Herbart einordnen lassen, beschreibt jedoch nicht den abgrenzenden Charak- ter der Deweyschen Erziehungstheorie. Das wird dadurch deutlich, dass die Reformpädagogik nicht das Ziel der Demokratiebildung verfolgte und theorie- geschichtlich auf den Protestantismus zurückweist. Jürgen Oelkers sieht die Grundlagen Pestalozzis, Fröbels und Herbarts Theorien in der Dialektik zwi- schen Seele und Schöpfergott, welcher sich für die Erziehung in der reforma- torischen Unterscheidung zwischen kirchlichem Dogma und individuellem Glauben öffnete. Die drei genannten Autoren nehmen damit gemeinsam Be- zug auf Rousseaus „Emil“, bei dem die genannte Dialektik als Förderung der

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Natur im Kinde und Bewahrung vor sozialer Entfremdung und Perversion in der Gesellschaft formuliert wird. Damit wurde die vorher theoretisch ungreif- bare Dialektik zwischen Seele und Gott zu einer herstellbaren Größe: das Gute wurde als Endzustand idealisiert und als Erziehungsziel formuliert (vgl.

Oelkers 2000, 286 f.). An dieser Stelle setzt John Dewey mit einem theoriege- schichtlichen Bruch ein, indem er die Einheitsanthropologie seiner Zeitgenos- sen in Frage stellt. Der Mensch sei nicht aus einer Natur her zu beschreiben, welche Erziehung begründen könnte (vgl. ebd., S. 289). Dewey spricht von einer falschen Vorstellung von Entwicklung, die von einer Bewegung hin zu einem bestimmten Ziel ausginge. Wachstum hat für Dewey kein Ziel, sondern ist das Ziel (vgl. Dewey 2000, S. 76). Es kann somit nicht das bestimmte Gute im Kinde geben, dass Erziehung fördern muss. In „Demokratie und Erzie- hung“ kritisiert Dewey Fröbels Entwicklungsbegriff:

„Aber seine [Fröbels, Anm. d. Verf.] Formulierung des Ent- wicklungsbegriffs und seine Organisation der Kunstgriffe zur Förderung der Entwicklung sind dadurch stark behindert wor- den, dass er Entwicklung als die Entfaltung eines fertig vor- handenen, latenten Prinzips auffaßte. Er sah nicht, daß Wachstum der Vorgang des Wachsens, Entwicklung der Vor- gang des Sichentwickelns ist, sondern legte den Nachdruck auf das vollkommene Ergebnis.“ (ebd., S. 85)

Wenn Erziehung für Dewey nicht auf ein festes Ziel hinarbeitet oder von trans- zendenten Apriori der Menschlichen Entwicklung ausgeht, dann muss der Ent- wicklungsbegriff Deweys für Veränderungen und Anpassungen offen sein. Jür- gen Oelkers bezeichnet daher das Lernen und die Erfahrung als die Grundla- gen für Deweys Erziehungstheorie (vgl. Oelkers 2000, S. 300).

2.2 Erfahrung und Erziehung

Nach Jürgen Oelkers sind für eine pragmatische Theorie ausschließlich empi- rische Kriterien von Bedeutung, die Erfahrung aus sich selbst heraus begreifen (vgl. ebd., S. 295). Eine pragmatische Erziehungstheorie verzichtet damit auf transzendente Begründungszusammenhänge und konzentriert sich auf Erfah- rung. Erfahrung ist somit ein kritischer Begriff. Dewey wendet sich einerseits

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speziell gegen eine pädagogische Tradition, andererseits kritisiert der Prag- matismus im Allgemeinen die Autorität „vom bloßem Nachdenken“, Tradition und sozialen Hierarchien (vgl. Volbers 2018, S. 74). Jörg Volbers beschreibt damit Deweys Erfahrungsbegriff als einen methodischen Ausgangspunkt der Welterkundung und Existenzerhaltung. Erfahrung ist konstitutiver Teil des or- ganischen Lebens, denn alles Lebendige ist gezwungen, sich zu koordinieren.

Umwelt und Organismus bilden gemeinsam Situationen, die immer von Be- deutungen, Interessen und Absichten geprägt sind. Wenn jedoch jede Interak- tion zwischen Organismus und Umwelt Erfahrung ist, dann ist gleichsam alles Denkbare Erfahrung. Der für den Pragmatismus im Allgemeinen und für Erzie- hung im speziellen greifbare Wert der Erfahrung entspringt jedoch nicht aus harmonischen Situationen zwischen Organismus und Umwelt, sondern aus solchen, die mit Spannungen und Problemen geladen sind (vgl. ebd., 77 f.).

Jürgen Habermas beschreibt in Bezugnahme auf Dewey, dass Erfahrung nur im aktiven Umgang mit einer Realität gemacht werden kann, an welcher hand- lungsleitende Erwartungen auch scheitern könnten (vgl. Habermas 1998). Der Deweysche Erfahrungsbegriff unterliegt nach Volbers wie nach Habermas also einer Konstruktion innerhalb von Handlungen.

Dewey veranschaulicht in „Demokratie und Erziehung“ die Spannung einer solchen Handlung anhand des Beispiels eines Kindes und einer Kerzen- flamme (vgl. Dewey 2000, S. 187). Greift ein Kind in eine Flamme, geht diesem aller Wahrscheinlichkeit die Erfahrung des „sich Verbrennens“ nach. Die Er- fahrung besteht aus dem aktiven Handeln der Handbewegung und aus dem passiven Erleiden des Schmerzes. Durch Erfahrung wird gelernt, wenn beide Teile miteinander in Verbindung gesetzt werden. Es ist ein Urteilen, aber auch ein Experimentieren. Handlung und Erleiden müssen verflochten werden. Die Rückwirkung der Handlung auf das Selbst muss gesucht und erkannt werden (vgl. ebd., S. 185 f.).

In „Demokratie und Erziehung“ beschreibt Dewey, dass der Prozess des Den- kens der Erfahrung vorrausgeht. Dewey beschreibt Denken als die Auseinan- dersetzung mit der Beziehung zwischen Handlung und Konsequenz. Für De- wey ist Erfahrung ohne Denken ausgeschlossen (vgl. ebd., S. 193). Denken heißt abwägen, welche Einflüsse Vorgänge auf die Zukunft haben oder mittels

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welcher Vorgänge bestimmte zukünftige Situationen erreicht werden können.

Dabei sind die beobachtbaren Zustände immer unvollkommen, es müssen Hy- pothesen, Annahmen und Vermutungen gebildet werden. Das Gegenteil wäre die Planlosigkeit oder Routine, bei der Abläufe ohne Denken passieren. Die Problematik des Denkvorganges ist, dass der Antrieb des Denkens eine per- sönliche Anteilnahme an den Vorgängen mit sich bringt (jemand denkt), aber der Ausgang einer Situation nicht immer im Sinne persönlicher Wünsche liegt.

Eine Ausdifferenzierung des Denkvorganges ist also auch die Fähigkeit, Vor- gänge außerhalb des unmittelbaren Interessenkreises und persönlicher Wün- sche einzuschließen. Oder per sozialer Verknüpfung im Interesse der Gemein- schaft zu denken und auch das Erleben anderer als eigene Beteiligung zu er- fahren (vgl. Dewey 2000, S. 197). Somit ist schon im Denkvorgang und damit auch in der Erfahrung eine soziale Dimension vorhanden.

Die Rekonstruktion der Erfahrung scheint im „Kind-Kerzenflamme“-Beispiel persönlicher Art zu sein. Dieses Beispiel hat Dewey jedoch nur zur Vereinfa- chung gewählt. Es wird der handlungsorientierten Aspekt der Erfahrung betont, nicht aber der soziale (vgl. ebd., S. 111). Erfahrung ist jedoch gleichsam ein persönlicher und sozialer Prozess, weil bereits im Denkvorgang eine soziale Dimension vorhanden ist.

Dewey formuliert seinen Erziehungsbegriff nah an der Erfahrung.

„So gelangen wir zu einer fachwissenschaftlichen Definition der Erziehung: sie ist diejenige Rekonstruktion und Reorgani- sation von Erfahrung, die die Bedeutung der Erfahrung erhöht und die Fähigkeit, den Lauf der folgenden Erfahrung zu leiten, vermehrt.“ (ebd., S. 108)

Geht es um Erziehung, geht es um die Reorganisation und Rekonstruktion von Erfahrung. Durch den innewohnenden sozialen Aspekt der Erfahrung passiert Erziehung immer unter Einflüssen der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft.

Diese beeinflussen Bedeutung und Lauf der Erfahrung.

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2.3 Erfahrung und Demokratie

Erfahrung ist von den Interaktionsformen einer Gesellschaft abhängig. Die Analyse der Eigenarten einer Gesellschaft muss also die Analyse des Wech- selspiels der Erfahrung in einer Gesellschaft beinhalten. Dewey formuliert die Beziehung von Erfahrung, Erziehung und Demokratie in dem viel zitierten Ka- pitel „Der DemokratischeGedanke in der Erziehung“ aus. Dazu konstatiert er zunächst analog zur Erziehungsdefinition, dass Erziehung eine soziale Funk- tion ist, bei der die kindliche Entwicklung durch die Teilnahme am Leben einer Gruppe begleitet wird. Erziehung als Erfahrungsrekonstruktion ist abhängig von den Interaktionsformen einer Gruppe, welche die kindliche Entwicklung als Erziehungsmaßnahmen begleiten. Weil Erziehungsmaßnahmen sich je nach Art des Gruppenlebens unterscheiden, ist die genauere Analyse der Ei- genarten eines Gesellschaftslebens notwendig.

Dewey geht davon aus, dass eine Gesellschaft, die sich dem Wandel zum Besseren verschrieben hat, andere Normen und Methoden der Erziehung ha- ben muss als eine Gesellschaft, die nach unverändertem Fortbestand strebt.

Gesellschaft wird dabei von Dewey nicht idealisiert betrachtet, sondern jede Gruppe, auch beispielsweise Diebesbanden, können für eine Gesellschaft wertvolle Züge innehaben.

Dewey stellt zwei Normen auf, anhand derer er eine Gesellschaft bewertet:

Erste Norm: „Wie zahlreich und mannigfaltig sind die bewusst geteilten Inte- ressen?“ (Dewey 2000, S. 115)

In einem autokratisch regierten Staat gibt es auch geteilte Interessen. Die For- mulierung und die Festsetzung dieser folgt jedoch immer einer Hierarchie. Bei antiker Sklavenhaltung ist dies offensichtlich: Da nicht alle Mitglieder der Gruppe die gleichen Möglichkeiten haben, den anderen zu geben und von ihnen zu nehmen, gibt es kein freies Wechselspiel der Erfahrung (vgl. ebd., S.

117). Offensichtlich ist davon die Klasse der Sklaven stärker betroffen, aber auch der oberen Klasse attestiert Dewey Grenzen der Erfahrungsentfaltung durch Selbstrückzug und Inhumanität. Auch der fordistischen Produktions- weise seiner Zeit schreibt Dewey diese Grenzen zu. Sklaven und Werktätige haben gemeinsam, dass sie die soziale Bedeutung ihres Dienstes nicht

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verstehen und kein persönliches Interesse an der Arbeit haben (vgl. Dewey 2000, S. 118). Auf der anderen Seiten fehlt auch denjenigen, die von dem Kapitalumlauf profitieren, das ausgewogene Interesse und die Beachtung der menschlichen Faktoren. Im Fordismus, sowie in der Antike, gab es keine ge- teilten Interessen zwischen den Gruppen.

Für Dewey ist es wichtig, dass die Beziehung zwischen Menschen und Arbeit klargestellt wird. Er ist sich des anthropologischen Moments der Arbeitsteilung bewusst und sieht darin die Gefahr der Vulgarisierung der Erfahrung, denn eine hochgradige Arbeitsteilung geht in fordistischer Produktionsweise mit im- mer mehr und immer mechanischeren Routinen einher. Dirk Jörke beschreibt Deweys Demokratietheorie daher als spezifische Antwort auf die Herausfor- derung der Industrialisierung (vgl. Jörke 2018, S. 149). Es ist eine Demokra- tietheorie, die sich auf die gesellschaftliche Realität (z. B. der Arbeit) bezieht, indem sie den Grad der geteilten Interessen als Maßstab nimmt und nicht die Wahl oder Abwahl politischer Eliten.

Zweite Norm: „Wie voll und frei ist das Wechselspiel mit anderen sozialen Gruppen?“ (Dewey 2000, S. 115)

Gruppen können intern geteilte Interessen haben, aber gegenüber anderen Gruppen einen antisozialen Geist. Das kann eine Nation, Familie, lokale Ver- bände, Reiche, Gebildete usw. betreffen. Die erste Norm der geteilten Interes- sen kann erfüllt werden, ohne dass die zweite Norm erfüllt wird. Die Isolierung einer Gruppe kann das Erworbene schützen, verhindert aber Neugestaltung und Fortschritt. Das führt für Dewey zur Entwicklung statischer und selbstsüch- tiger Ideale und der Erstarrung des Lebens in der eigenen Gruppe.

Diese beiden Normen zeichnen für Dewey eine demokratisch aufgebaute Ge- sellschaft aus. Die erste Norm bedeutet auch, dass zahlreiche und bewusst geteilte Interessen zum Faktor der Regelung sozialer Beziehungen werden.

Die zweite Norm bedeutet auch, dass das Sozialverhalten dauerhaft umge- staltet wird (vgl. ebd., S. 120). Die beiden Normen berühren also deutlich eine soziale Dimension.

Die Beziehung zwischen Demokratie und Erziehung liegt also nicht darin, dass eine demokratische Regierung innerhalb des Erziehungssystems die

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freiwillige Bereitschaft zur Unterordnung und (Ab-)Wahl schaffen muss. Die Beziehung liegt darin, dass Demokratie für Dewey mehr als eine Regierungs- form darstellt. Demokratie ist „eine Form des Zusammenlebens, der gemein- samen und miteinander geteilten Erfahrung“ (Dewey 2000, S. 121). Erziehung berührt in Deweys Erziehungsdefinition Rekonstruktion und Reorganisation der Erfahrung. Für Jürgen Oelkers ist Deweys Erziehungsbegriff damit weder begrenzt noch spezifizierbar. Erziehung ist vielmehr der unbegrenzte Prozess der Anpassung an neue Situationen (vgl. Oelkers 2018, S. 180). Nach Oelkers ist damit der Dualismus zwischen Gesellschaft und Individuum aufgehoben.

Gesellschaft beschreibt eher die komplexe Wechselwirkung zwischen Indivi- duen und Gruppen auf Ebene der Lebensform. Diese Wechselwirkung demo- kratisch zu organisieren, heißt die Erfahrungsentfaltung in den Vordergrund zu stellen. Es geht nicht mehr um die Wahl oder Abwahl bestimmter Eliten, wel- che die Form des Zusammenlebens beeinflussen, sondern um die Form des Zusammenlebens an sich. Für Dewey geht es darum, die Mitglieder einer Gruppe zu persönlicher Initiative und Anpassungsfähigkeit zu erziehen (vgl.

Dewey 2000, S. 122) und die Regelung der sozialen Beziehung innerhalb ei- ner Gruppe auf wechselseitigem Interesse und beständiger Neuanpassung beruhen zu lassen (vgl. ebd., S. 120).

Auch der oben erläuterte Entwicklungsbegriff passt in diese Demokratietheorie.

Dewey geht nicht von einer finalistischen Entwicklung des Menschen aus.

Auch sieht er von philosophischen Apriori der menschlichen Entwicklung ab.

Die ständige Neuanpassung, die sich mit jeder Situation und Erfahrung neu ergeben kann, macht eine Demokratietheorie nötig, welche die Form des Zu- sammenlebens und damit die gemeinsame Erfahrung berücksichtigt.

Dewey stellt in zweierlei Hinsicht ein Novum auf. Er radikalisiert die Demokra- tie auf die Lebensform und erklärt sie zum Erziehungsideal.

2.4 Historische Analyse

Deweys Demokratietheorie ist in einer historischen Analyse eingebettet. Dabei stellt Dewey zum einen fest, dass Erziehung immer eine soziale Funktion in- nehatte und dass Grundzüge der demokratischen Erziehung schon bei den folgenden Analysepunkten vorhanden waren. Zum anderen möchte Dewey die

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Unzulänglichkeit der demokratischen Spielformen darstellen. Dewey analy- siert die sozialen Ideale dreier historischer Stationen: die der Antike zu Zeiten Platons, das individualistische Ideal des 18. Jahrhunderts und den Staatside- alismus des 19. Jahrhunderts. Bei den drei historischen Stationen analysiert Dewey jeweils die soziale Bedeutung der Erziehung und deren Einfluss auf die Erfahrungsentfaltung anhand oben genannter Normen.

Dewey erkennt an, dass Platons Erziehungsphilosophie einem sozialen Ideal folgte, nach dem der Einzelne zu einem Leben in der Gesellschaft erzogen wird, indem die Nützlichkeit des eigenen Daseins innerhalb der Gesellschaft erkannt wird. Dewey problematisiert, dass Platon für die Organisation einer Gesellschaft die Einsicht des Einzelnen in diesen Zweck des Daseins vorrau- setzt (vgl. Dewey 2000, S. 122). Diese Einsicht kann nur passieren, wenn der Staat bereits gerecht organisiert ist. Ist der Staat nicht gerecht organisiert und dieser Vorkonsens nicht vorhanden, müssen Philosophen ihn erkennen und mit Machtherrschaft ausbauen. Innerhalb dieser Machtherrschaft wäre es die Aufgabe der Erziehung, den einzelnen auf seine Rolle vorzubereiten und den Zweck des eigenen Daseins für die Gesellschaft zu festigen. Das ist die sozi- ale Bedeutung der Erziehung bei Platon. Für Dewey ist damit das Wechsel- spiel zwischen den sozialen Gruppen und ein gemeinsam geteiltes Interesse grundsätzlich möglich. Platon ordnet nach Dewey dem Individuum jedoch nicht eine individuelle Rolle innerhalb der Gesellschaft zu, sondern eine in Klassen zusammengefasste Rolle (vgl. ebd., S. 136). Damit wird Platons Erziehungs- philosophie Deweys Normen in zweierlei Hinsicht nicht gerecht: Die geteilten Interessen beruhen auf einer Entscheidungsfindung durch Machtherrschaft, die sich selbst nicht demokratisch legitimiert, und die Starrheit der in Klassen zusammengefassten Gesellschaft ermöglicht kein freies Wechselspiel der so- zialen Gruppen. Der Gedanke eines möglichen idealen Staates wird zudem nicht Deweys Entwicklungsbegriff gerecht, der von ständiger Veränderung und Neuanpassung ausgeht (vgl. ebd., S. 126).

Die erziehungsphilosophische Problemstellung des „individualistischen Ideals des 18. Jahrhunderts“ bezieht sich auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Dewey führt Rousseaus Naturbegriff an, der zum Erziehungsideal stili- siert wurde (vgl. ebd.). Gesellschaftliche Institutionen beengen die Kräfte des

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Individuums dabei zu Gunsten der Herrschenden. Rousseau schafft ein sozi- ales Ideal, welches das Individuum vom Staat befreit (vgl. Dewey 2000, S.

127). Jürgen Oelkers beschreibt, dass die Erziehung des Menschen bei Rousseau in das Dual Natur und verdorbene Natur eingebettet ist (vgl. Oelkers 2000, S. 287). Der von Dewey ausgeführte Naturbegriff Rousseaus wird in seiner Negativität nicht dem Individuum zugeschrieben, sondern die verdor- bene Natur ist soziologisch zu begreifen und wird als Entfremdung des Men- schen innerhalb der Gesellschaft verstanden. Der Mensch verkommt in der Gesellschaft durch die Gesellschaft. Dewey meint daher mit „individualisti- schem Ideal“ ein Ideal, welches an Stelle des Staates die Humanität setzt, die Zugehörigkeit des einzelnen zur Menschheit und nicht zum Staat (vgl. Dewey 2000, S. 127). Innerhalb dieser Zugehörigkeit stände einem freien Wechsel- spiel der sozialen Gruppen und gemeinsam geteiltes Interesse nichts entge- gen. Dewey problematisiert jedoch, dass eine so starke Hinwendung zur Natur Erziehung an sich verneint und sie den Zufälligkeiten überlassen würde (vgl.

ebd., S. 128). Es verlangt nach Organisation und Verwaltung für die Durchfüh- rung von Erziehungsmaßnahmen, die der Staat als Vermittler übernimmt. Das hat sich vor allem im 19. Jahrhundert gezeigt.

Der Staatsidealismus des 19. Jahrhunderts rückte den Nationalstaat in diese Vermittlerrolle. Dewey stellt hier die Institution der Schule besonders heraus.

Das staatliche Erziehungssystem entwickelte sich im Europa des 19. Jahrhun- derts parallel mit den Nationalstaaten. Als geschichtliches Ereignis nennt De- wey die napoleonischen Eroberungen. Die deutschen Staaten schafften mit der Erziehung ein Mittel zur Wiedergewinnung und Aufrechterhaltung ihrer Macht (vgl. ebd., S. 129). Vor allem Preußen entwickelte mit der Schule und Universität ein öffentliches Erziehungssystem, dass die Bildung zum Staats- bürger zum Ziel hatte und nicht die Bildung zum Weltbürger. Dewey führt die Idealisten Fichte und Hegel an, die nach Dewey Erziehung auch als eine Auf- gabe des Staates sehen und die „Wiedergeburt Deutschlands“ fördern wollen (vgl. ebd., S. 132). Das soziale Ideal der Erziehung wurde so zu einem natio- nalen Ideal.

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Trotz Deweys Fordismus-Kritik bzgl. des beginnenden 20. Jahrhunderts wird die Beziehung zwischen der Industrialisierung und dem staatlichen Erzie- hungssystem im Preußen des 19. Jahrhunderts nicht von Dewey hergestellt.

Diese historische Analyse ist für das Verständnis von Deweys Demokratiethe- orie wichtig, weil sie veranschaulicht, dass Erziehung ein sozialer Vorgang ist.

Eine Analyse der Erziehung erfordert somit eine Analyse der Gesellschaft.

Wenn sich eine demokratische Gesellschaft in einem Nationalstaat organisiert, ergibt sich eine Spannung aus dem nationalen und dem sozialen Ziel der Er- ziehung, denn das soziale Ziel verengt sich auf diejenigen, die dem gleichen nationalen Gebilde angehören. Damit ist ein freies Wechselspiel zwischen den sozialen Gruppen nicht mehr gegeben.

2.5 Demokratie und Öffentlichkeit

Deweys demokratisches Ideal berührt mit der Lebensform mehr als eine Re- gierungsform, jedoch wird auch die Regierungsform berührt. Dies geschieht in Konsequenz einer pragmatischen Theorie, weil Erfahrungsentfaltung über das Private in die Öffentlichkeit hinausgehen kann. Dewey beschreibt die Öffent- lichkeit, und das wird im Folgenden erklärt, dabei als politischen Staat (vgl.

Dewey 1996, S. 44). Deweys Demokratietheorie liegt also ein Öffentlichkeits- begriff und ein Staatsideal zu Grunde. Dirk Jörke sieht darin neben dem de- mokratischen Ideal der Lebensform eine zweite Dimension der Demokratie bei Dewey: die der Öffentlichkeit (vgl. Jörke 2018, S. 150).

Was bedeutet Öffentlichkeit für Dewey? Der Ausgangspunkt der Öffentlichkeit ist die Tatsache, dass die Handlungen eines Menschen von anderen Men- schen als folgenreich wahrgenommen werden können. Diese Art der Wahr- nehmung führt zu dem Bestreben, dass die Handlung und deren Folgen zu koordinieren sind. Wenn die Folgen einer Handlung den unmittelbaren Kreis zweier Personen verlassen, sind sie nur noch indirekt. Wenn die Folgen sich auf eine oder zwei Personen beschränken, sind sie direkt. Die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat vollzieht Dewey an dieser Differenzierung der Tragweite einer Handlung (vgl. Dewey 1996, S. 27). Mit der indirekten Betrof- fenheit geht aber auch das Empfinden einer Regelungsbedürftigkeit einher.

Der Ausgang einer bestimmten Handlungsfolge kann trotz der indirekten

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Herkunft für die betroffene Person von Interesse sein. Die Folgen eines ein- zelnen Streits könnten bspw. die körperliche Unversehrtheit vieler Personen gefährden (vgl. Dewey 1996, S. 30). Hier tritt der Staat auf. Er organisiert nicht bloß Öffentlichkeit, er ist die Organisation der Öffentlichkeit.

„Der Staat ist die Organisation der Öffentlichkeit, die durch Amtspersonen zum Schutz der von ihren Mitgliedern geteilten Interessen bewerkstelligt wird.“ (ebd., S. 42)

Staat und Öffentlichkeit sowie Amtspersonen und ausgeübte Macht sind in dieser Auffassung flexibel gestaltet. Für Dewey ist zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort die Öffentlichkeit eine andere. Es gibt für ihn kein bestimmtes insti- tutionelles Geflecht, das eine optimale demokratische Organisation der Öffent- lichkeit darstellen würde. Der Staat muss experimentell errichtet und immer wieder neu entdeckt werden (vgl. ebd.). Damit folgt Dewey seinem oben aus- geführten Entwicklungsbegriff im Speziellen und seiner pragmatischen Erzie- hungstheorie im Allgemeinen. Der Staat stützt sich nicht auf anthropologische Apriori oder Glaubenssätze, sondern erfindet sich in jeder Situation, die mit Erfahrung verbunden ist und eine Öffentlichkeit erzeugen kann, neu.

Auch wenn Dewey keine Institutionstheorie bietet, so sieht Wikbe Rieckmann, unter Bezugnahme Axel Honneths, den Vorteil seiner Demokratietheorie eben in dieser Offenheit. Die demokratische Sittlichkeit verwirklicht sich nicht in In- stitutionen, sondern als Resultat der Erfahrung. Riekmann spezifiziert in kri- tisch-materialistischer Lesart Deweys diese Erfahrung als Erfahrung einer ar- beitsteiligen Kooperation (vgl. Riekmann 2011, 83 f.; vgl. Honneth 1999, 65 f.).

Diese Offenheit betrifft auch die Bildungsinstitutionen. Das Werk „Demokratie und Erziehung“ konzentriert sich zwar auf die Schule, Dewey macht jedoch keine konkreten Aussagen zur institutionellen Beschaffenheit der Schule.

Deweys Demokratietheorie berührt mit der Öffentlichkeit und dem Koordinie- rungsbedarf auch eine Vorstellung von Staat und Amtspersonen, letztlich einer Regierungsform.

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3 Die Kinderstube der Demokratie

Im Folgenden wird das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ in seinen theoretischen Grundzügen und Kernelementen vorgestellt. Als weiterer empi- rischer Zugang zu diesem Konzept wird das Forschungsprojekt „Demokratie in Kindertageseinrichtungen“ (DeiKi) hinzugezogen. Damit erweitert sich der analytische Zugang zum Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ um eine weitere, spezifisch sozialpädagogische Perspektive. Für eine analytische Ver- wertung werden Items festgehalten.

3.1 Vorstellung des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“

„Die Kinderstube der Demokratie“ ist ein Modellprojekt, das von 2001 – 2003 in sieben schleswig-holsteinischen Kindertageseinrichtungen durchgeführt wurde. Rüdiger Hansen, Raingard Knauer und Bianca Friedrich (vgl. 2004) gingen dabei der Frage nach, wie demokratische Partizipation auch schon mit sehr jungen Kindern pädagogisch gestaltet werden kann. Das Konzept wurde seitdem weiter erprobt und entwickelt.

Für die Autor*innen des Modells ist eine Vermittlung von Demokratie Aufgabe der Erziehung, wenn Erziehung als Weitergabe von Normen und Werten an einer Gesellschaft an die nachfolgende Generation gedeutet wird. Diese Wei- tergabe ist auch schon im Kindergartenalter relevant, denn Kinder nehmen die Qualität der Selbst- und Mitbestimmung in Kindertageseinrichtungen wahr und erleben dort, inwiefern sie eigene Wünsche und Interesse einbringen können (vgl. Hansen und Knauer 2017, S. 16 f.). Demokratie wird unter Bezugnahme John Deweys in Demokratie als Regierungsform und Demokratie als Lebens- form differenziert. Hansen und Knauer gehen dabei von der Annahme aus, dass Kinder auf beiden genannten Ebenen Demokratie in Kindertageseinrich- tungen erfahren können. Auf Ebene der Regierungsform geht es darum, wie Entscheidungen in Kindertageseinrichtungen zustande kommen, wem welche Rechte und die Macht der Entscheidungsfindung zufällt und welche Möglich- keiten der Selbst- und Mitbestimmung die Kinder haben. Auf Ebene der Le- bensform geht es darum, wie alltägliche Interaktionen, Möglichkeiten des Aus- tausches, das gegenseitige Verstehen und die Meinungsbildung gestaltet

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werden (vgl. Hansen und Knauer 2017, S. 17). Die Ebene der Regierungsform (K1) und die Ebene der Lebensform (K2) werden als Items festgehalten.

Partizipation wird dabei als das demokratische Recht der Selbst- und Mitbe- stimmung verstanden, welches sich einmal als strukturelles Partizipations- recht (bspw. in einer Kita-Verfassung) und im Alltag (bspw. im Dialog) äußert (vgl. ebd.). Partizipation ist somit zweifacherweise bildungsfördernd: Pädago- gische Fachkräfte erhalten über Partizipation Zugang zu den (Selbst-)Bil- dungsprozessen der Kinder, indem Themen und Aneignungsweisen der Kin- der aufgegriffen werden und Kindern werden Erfahrungsräume geöffnet, in de- nen sie demokratische Bildungsprozesse durchlaufen (vgl. ebd., S. 18). Parti- zipation als bildungsförderndes demokratisches Recht (K3) wird als Item fest- gehalten.

Kernelemente des Konzepts sind Partizipationsprojekte und Kita-Verfassun- gen als Verfahren, die Kindern Partizipation ermöglichen, eine Sensibilisierung der Fachkräfte für dialogische Kommunikationsformen mit den Kindern und ein partizipativ angelegtes Fortbildungskonzept für pädagogische Fachkräfte (vgl.

ebd., S. 19).

Das Partizipationsprojekt ist ein zeitlich begrenztes und themenspezifisches Verfahren, bei dem Kindern die Möglichkeit gegeben wird, mitzuplanen und mitzuhandeln. Als regelmäßig wiederkehrende Verfahren können die Kinder so an anstehenden Entscheidungen (z. B. Frühstücksituation, Personalfragen) oder Planungen (z. B. Ausflüge oder Feiern) partizipieren. Das Konzept bietet eine Planung solcher Partizipationsprojekte, das von der Themenfindung aus- geht und mit einem Entscheidungsprozess endet (vgl. ebd., S. 19 f.). Hansen et al. haben beispielweise die Projekte „Philosophieren mit Kindern“ oder „Ein Ortsplan von und für Kindern“ als exemplarisch herausgearbeitet (vgl. Hansen et al. 2004, S. 5). Das Partizipationsprojekt (K4) wird als Item festgehalten.

Die Kita-Verfassung wird vom gesamten Fachkräfte-Team bearbeitet und hat eine dauerhafte Verankerung von Partizipationsrechten und -verfahren zum Ziel. Rechte werden differenziert in Selbstbestimmungsrechte der Kinder, also worüber Kinder oder Kindergruppen allein entscheiden dürfen, Mitbestim- mungsrechte, also worüber Kinder und Fachkräfte gemeinsam entscheiden

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dürfen und Entscheidungsrechte, die allein den Fachkräften vorbehalten sind.

Hinzu kommt die Klärung von Verfahren und Gremien, die den Kindern die Möglichkeit geben mitzuentscheiden. Es wird ein Gremium benötigt, dass die Legitimation innehat, über die ganze Gemeinschaft der Kindertageseinrich- tung zu entscheiden. Wird ein repräsentatives Gremium anstatt einer Vollver- sammlung gewählt, muss es auf Ebene der Stammgruppen Delegiertenwah- len geben (vgl. Hansen und Knauer 2017, S. 21 f.). Die Erarbeitung einer Kita- Verfassung wird in einem Konsens der Fachkräfte verabschiedet und inhaltlich nicht von dem Konzept vorgegeben. Änderungen oder Erweiterungen sind auch nach der ersten Verabschiedung möglich (vgl. ebd., S. 22). Die Kita-Ver- fassung (K5) wird als Item festgehalten.

Neben diesen strukturellen Verankerungen berührt das Konzept auch die dia- logischen Formen der Kommunikation zwischen Fachkräften und Kindern. Kin- der sollten die Möglichkeit haben, auch bei komplexen Themen ihre Sicht- weise und ihr Interesse auszudrücken. Dazu müssen Fachkräfte Themen so konkretisieren, dass auch Kinder sie erfassen können. Prozesse, die in der Kindertageseinrichtung stattfinden und Entscheidungen, die gefällt werden, müssen für die Kinder transparent und verständlich sein (vgl. ebd.). Die dialo- gische Kommunikation (K6) wird als Item festgehalten.

Demokratische Partizipation von Kindern geht innerhalb des Konzepts von den Erwachsenen aus. Daher beinhaltet es ein Fortbildungskonzept für Fachkräfte.

Die Diskussionen, die im Team der Fachkräfte entstehen, werden von Fort- bildner*innen begleitet. In zwei Phasen werden über sechs Tage In-House- Fortbildungen durchgeführt. Zunächst wird anhand eines Partizipationsprojek- tes die Machtabgabe an die Kinder zeitlich und inhaltlich befristet geprobt, dann wird eine Kita-Verfassung erarbeitet. Im Allgemeinen müssen die Fach- kräfte lernen, ihre Beziehung zu den Kindern respektvoll, feinfühlig und dialo- gisch zu gestalten (vgl. ebd., S. 23 f.).

3.2 Das Forschungsprojekt „Demokratiebildung in

Kindertageseinrichtungen“: ein weiterer empirischer Zugang

Elisabeth Richter, Teresa Lehman und Benedikt Sturzenhecker bieten in dem Band „So machen Kitas Demokratiebildung. Empirische Erkenntnisse zur

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Umsetzung des Konzepts ‚Die Kinderstube der Demokratie‘“ einen Zugang zum Forschungsprojekt „Demokratiebildung in Kindertageseinrichtun- gen“ (DeiKi). Ziel des Forschungsprojektes ist es, die im Konzept „Die Kinder- stube der Demokratie“ implementierten demokratischen Strukturen anhand der Praxis teilnehmender Kindertageseinrichtungen zu analysieren (vgl. Rich- ter et al. 2017a, S. 52). Theoretisch knüpft das Forschungsprojekt an den de- mokratietheoretischen Ansatz der Differenzierung zwischen Regierungs- und Lebensform (Dewey) an. Der Blickwinkel wird aber um eine gesellschaftsthe- oretische und sozialpädagogische Perspektive erweitert: Demokratie wird nicht als beliebige Wertentscheidung betrachtet, sondern als universelle, anth- ropologische Struktur. Diese Struktur begründet sich in der „Universalpragma- tik“ von Jürgen Habermas anthropologisch in der auf Verständigung abzielen- den menschlichen Rede. Nach Habermas zeichnet sich jede kommunikative (also auf Verständigung abzielende) Sprechhandlung durch die gegenseitige Erhebung und Unterstellung der Geltungsansprüche auf Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit aus. Das heißt: der Sprecher muss sich verständlich ausdrücken, sodass Sprecher und Hörer einander verstehen können; der Sprecher muss einen Wahrheitswert der objektiven Welt mitteilen, sodass der Hörer dieses mit dem Sprecher teilen kann; der Sprecher muss eine aus sich heraus wahrhaftige Äußerung tätigen, die der Hörer glauben kann; und der Sprecher muss eine mit Blick auf bestehende Normen und Werte richtige Äußerung wählen, die der Hörer akzeptieren kann (vgl. Haber- mas 1976, S. 176). Sprechhandlungen müssen nicht grundsätzlich kommuni- kativ sein, sie können auch strategisch sein. Strategische Handlungen sind nicht verständigungsorientiert, sondern erfolgsorientiert und basieren auf den Medien Macht und Geld. Basierend auf dieser Unterscheidung stellt Habermas in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ eine Gesellschaftstheorie auf, die Gesellschaft zwischen sich strategisch vergesellschaftenden System und sich kommunikativ vergesellschaftender Lebenswelt differenziert (vgl. Ha- bermas 1981).

Richter et al. verorten die von Dewey beschriebene Idee der Demokratie als Lebensform gesellschaftstheoretisch dem deliberativen Demokratiemodell von Jürgen Habermas zu. Deliberativ meint dabei, auf eine Öffentlichkeit

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bezogene und verständigungsorientierte Beteiligung und Entscheidungsfin- dung (vgl. Richter et al. 2017b, S. 47). Demokratie, genauer deliberative De- mokratie, ist somit unter dieser anthropologisch-universalpragmatischen The- orie keine Wertentscheidung mehr, sondern eine Konsequenz aus der Struktur der menschlichen Verständigung. Menschen sind somit von Geburt an Demo- kraten. Damit ergibt sich eine dialektische Demokratiedidaktik, die das Demo- krat-Sein und Demokrat-Werden auch (Klein-)Kindern zugesteht und ermög- licht. Dem stimmen auch die Autor*innen der „Kinderstube der Demokratie“ zu (vgl. Richter et al. 2017a, S. 10 f.).

Richter et al. haben im Hintergrund der oben genannten gesellschaftstheore- tischen und sozialpädagogischen Verortung eine Operationalisierung der De- mokratie für sozialpädagogische Institutionen entwickelt (vgl. ebd., S. 87). Die in 3.1 dargestellten Items werden daher um diesen empirischen Zugang er- weitert, um die Praxis der „Kinderstube der Demokratie“ besser in dieser Arbeit abbilden zu können.

Es wird davon ausgegangen, dass „ein notwendiger Zusammenhang zwi- schen deliberativer Demokratie und Expertendemokratie besteht“ (ebd., S. 88).

Expertendemokratie ist in pädagogischen Institutionen empirisch häufiger auf- zufinden und geht von einer Entscheidungsmacht und Diskursführung aus- schließlich auf Ebene der Experten, bestehend aus Fachkräften bzw. Haupt- amtlichen, aus. Diese Form der sozialen Integration wurde mit in das For- schungsprojekt „DeiKi“ aufgenommen und als Potenzial für die Ausweitung deliberativer Demokratie angenommen (vgl. ebd., S. 95). Dies geschieht in Konsequenz aus der oben erläuterten dialektischen Demokratiedidaktik: Ex- pertendemokratische Strukturen werden als Keimformen der deliberativen De- mokratie gesehen.

Richter et al. haben die Items nach deliberativer Demokratie (Lebensform) und Expertendemokratie (Regierungsform) geordnet (vgl. ebd., S. 98–121). Dort lassen sich auch K1-K6 finden. Die Einordnung wird im Folgenden erläutert.

Sie ist für eine weitere Analyse sinnvoll, weil mit ihr ein empirischer Einblick in die Praxis der Items und damit in die Praxis der „Kinderstube der Demokra- tie“ möglich ist. Die Einordnung ist inhaltlich für diese Arbeit geeignet, weil sie sich kategorial an Dewey (Lebensform/ Regierungsform) orientiert.

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3.3 Einordnung der Items und ihre Praxis

Regierungsform (K1) und Lebensform (K2) werden, entsprechend Richter et al., den Kategorien Expertendemokratie und deliberative Demokratie zugeord- net und als Überbegriffe zur Einordnung der anderen Items genutzt.

3.3.1 Lebensform: Deliberative Demokratie

Die dialogische Kommunikation (K6) ist der deliberativen Demokratie zuzuord- nen. Sie berührt die Ausgestaltung der Interaktionsformen. Richter et al. diffe- renzieren Interaktionsformen entlang des jeweils zugrunde liegende Konsen- ses in Alltagsdialog und (pädagogischen) Diskurs. Alltagsdialoge sind vom Konsens her unproblematisch, widerspruchlos. Der Diskurs dagegen wird zur Herstellung einer Verständigung geführt. Er ist handlungsentlastend und in ihm gilt der Zwang des besseren Arguments. Im pädagogischen Diskurs wird das Kind durch seine eigene Betroffenheit kompetent und kommuniziert so auf einer Ebene mit den Fachkräften. Der pädagogische Diskurs ist im Ausgang offen und für alle beteiligten ein Bildungsprozess (vgl. Richter et al. 2017a, 93 f.).

Dialogformen wie der pädagogische Diskurs kommen im Kita-Alltag bspw. auf, wenn es um Fragen der angemessenen Kleidung geht, Zeitpunkt und Art des Essens oder Mitgliedschaften zu Stammgruppen. Kinder und Erwachsene sind dann oft nicht einer Meinung und der Konsens wird informell hergestellt. Die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen erörtern mit den Kindern z. B. die Frage nach der richtigen Kleidung ergebnisoffen. Sie nehmen grundsätzlich eine diskursive und auf Verständigung zielende Haltung an. Die Kinder werden durch ihre eigene Betroffenheit kompetent, aber auch subjektive Sorgen und Ängste der Fachkräfte gehen mit in den Diskurs ein (vgl. ebd., S. 114 f.).

Es zeigt sich hier das partizipative Potenzial des Alltags. Der Alltag birgt Kon- flikte, denen nicht immer eine diskursiv ausgehandelte Entscheidung vorraus- geht (vgl. ebd., S. 117). Anders als in der Bearbeitung der Kita-Verfassungen haben die Kinder durch ihre Betroffenheit selbst Expertenstatus oder stellen den Expertenstatus der Fachkräfte in Frage. Die Situationen sind ergebnisof- fen. Wenn das Kind z. B. nicht die Kartoffeln essen möchte oder nicht die Win- terstiefel anziehen möchte, dann sind diese Ausgänge auch möglich. Diese

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Ausgänge sind nicht Laissez-faire oder vernachlässigend, sondern deliberativ- demokratische Ergebnisse eines Diskurses (vgl. Richter et al. 2017a, S. 114).

Auch Partizipation als bildungsförderndes demokratisches Recht (K3) ist der deliberativen Demokratie zuzuordnen. Für die Kinder öffnen sich Erfahrungs- räume für demokratische Bildungsprozesse und die Fachkräfte erhalten Zu- gang zu den Interessen der Kinder durch zwei verschiedene, empirisch vorge- fundene Wege: formelle Mehrheitsdemokratie und non-formelle Mehrheitsde- mokratie. Formelle Mehrheitsdemokratie zeigt sich entlang von in der Kita-Ver- fassung kodifizierten Verfahren. Empirisch festgestellt wurden Gruppenkonfe- renzen, Kitaparlamente und Vollversammlungen. Die Gruppenkonferenzen der Stammgruppen wählen Delegierte, die das Kita-Parlament bilden, dort In- teressen vertreten und über Anträge entscheiden. In der Vollversammlung wird eine Kita-Öffentlichkeit bestehend aus allen Kindern und Fachkräften her- gestellt. Die genauen Dynamiken unterscheiden sich zwischen den beforsch- ten Kindertageseinrichtungen. So fungiert teilweise eine tägliche Vollver- sammlung auch als Gruppenkonferenz oder als allgemeiner Ort des Zusam- menkommens, unabhängig von Beschlussentscheidungen (z. B. Geburtstags- feier).

Die Gremien in Form des Kitaparlaments oder der Gruppenkonferenzen tagen mindestens wöchentlich mit einer Tagungsdauer von bis zu 45 Minuten. Fach- kräfte sind teilweise als Delegierte der Fachkräftegruppe oder prinzipiell im Kitaparlament vertreten. Es werden Konsensentscheidungen angestrebt, falls diese nicht erreicht werden, reicht in allen beforschten Kindertagesstätten eine einfache Mehrheit aus. Während im Kita-Parlament eine umfassende Selbst- verwaltung bestimmter Bereiche angestrebt wird, werden auf den Gruppen- konferenzen Interessen auf Ebene der Stammgruppen diskutiert. Oder es wer- den Anträge für das Kita-Parlament bzw. Beschlussentscheidungen von dem Kita-Parlament diskutiert. In allen beforschten Kindertageseinrichtungen wer- den Protokolle geführt, damit alle Beteiligten die Verfahren nachvollziehen können (vgl. ebd., S. 102–110).

Jedes Kind wird durch diese Verfahren in den Entscheidungsprozess von Be- schlüssen, welche die eigene Betroffenheit berühren, mit einbezogen. So kann es einerseits den eigenen Bildungsprozess, die eigenen Themen mit in die

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verschiedenen Ebenen einbringen. Es kann aber auch einen Zugang zu Bil- dungsprozessen andere Kinder bekommen.

Demokratie verwirklicht sich in den beforschten Kindertageseinrichtungen aber auch durch non-formelle Mehrheiten. Diese beziehen sich vor allem auf die Gruppe der (Vor-)Schulkinder sowie in situativ entstehenden Kleingruppen mit gemeinsamen Interesse. Schulkindergruppen sind zwar ein fester Be- standteil einer jeden Kita, jedoch in den beforschten Kindertageseinrichtungen nicht als Verfassungsorgan organisiert. Sie organisieren sich in der Gruppe formal durch Mehrheitsentscheide, aber entsenden keine Delegierten und füh- ren kein Protokoll und sind somit keine formaldemokratische Interessens- gruppe im Verfassungssystem der Kitas. Die Schulkindergruppen organisieren ihren Bildungsprozess mit Blick auf den Übergang zu Schule. Sie entscheiden über mögliche Aktionen wie bspw. Ausflüge oder Elternabende (vgl. Richter et al. 2017a, S. 111).

In beforschten Kindertageseinrichtungen kam es neben der Schulkindergrup- pen teilweise zu weiteren Formierungen von Interessensgruppen und Voten, die eigentlich nicht in der Verfassung abgebildet sind. Diese ergeben sich si- tuativ aus konkreten Interessenslagen, bspw. welche Mandala-Themen aus- gewählt werden (vgl. ebd., S. 112). Obwohl die Gruppenkonferenz einen Be- schluss geliefert hat („schöne“ Mandalas) hat sich eine Interessengruppe ge- bildet, die Superhelden-Mandalas malen wollte. Die Gruppe ging in den Dis- kurs mit den Fachkräften, die dem Anliegen zustimmten. Auch wenn hier ein Verständigungsprozess vorlag, wurde die Herstellung der Öffentlichkeit, Pro- tokollführung und Übermittlung des Interesses an die Gruppenkonferenz igno- riert. Richter et al. bewerten diese konkrete Situation als Aushebelung des Vo- tums der Gruppenkonferenz und sehen es allgemein als Stärkung der Demo- kratie als Lebensformen, non-formelle in formelle Mehrheitsverfahren zu über- mitteln (vgl. ebd., S. 113).

3.3.2 Zwischen Lebensform und Regierungsformen: Keimformen deliberativer Demokratie in Expertendemokratie

In den beforschten Kindertageseinrichtungen lassen sich grundsätzliche de- liberativ-demokratische Interaktionsformen finden, wie etwa die dialogische Kommunikation. Richter et al. stellen jedoch strukturell angelegte

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Expertendemokratien fest, die sich in den Kita-Verfassungen (K5) äußern. Die Verfassungen sind vom Team der Fachkräfte in einem Diskurs erarbeitet, die- ser bezieht die Kinder, die ja die eigentlichen Adressaten der Verfassung sind, nicht mit ein (vgl. Richter et al. 2017a, S. 118). Obwohl der Auftrag der „Kin- derstube der Demokratie“ eine Machtübergabe an die Kinder vorsieht, wird hier nur im Team der Fachkräfte, der Experten, ein Diskurs geführt. Richter et al. haben jedoch eine allgemeine Reflexion der basisdemokratischen Ausrich- tung der Teams und auch einen Begründungszwang gegenüber den Kinder festgestellt (vgl. ebd., S. 119 f.). In vielen Teams der beforschten Kindertages- einrichtungen wird die pädagogische Praxis und der weitere Ausbau demokra- tische Strukturen reflektiert. Die Fachkräfte begründen ihre Beschlüsse den Kindern gegenüber und schaffen Raum zum Widerspruch. Auch wenn die Kita-Verfassung grundsätzlich eine Experten-Verordnung ist, schafft sie de- liberativ-demokratische Strukturen des Widerspruchs und eine allgemeine Ko- difizierung der Rechte der Kindern.

Partizipationsprojekte (K4) sind themenspezifisch und zeitlich begrenzt. The- menfindung, Zielformulierung und Organisation der Entscheidung werden da- bei im Team der Fachkräfte erörtert (vgl. Hansen und Knauer 2017, S. 19 f.).

Partizipationsprojekte sind damit in zweifacherweise strukturell expertende- mokratisch: Partizipation wird als etwas von Fachkräften zu Begrenzendes be- griffen und die inhaltlichen und strukturellen Eckpunkte dieser Projekte werden von Fachkräften bestimmt. Jedoch lassen sich auch hier Keimformen der de- liberativen Demokratie entdecken. Im Sinne einer dialektischen Demokratiedi- daktik muss auch den Fachkräften ein Lernprozess des Demokrat-Sein und Demokrat-Werden ermöglicht werden. Die Autor*innen der „Kinderstube der Demokratie“ sehen in den Partizipationsprojekten konkret einen Lernprozess für die Fachkräfte. Aufgrund der zeitlichen und thematischen Begrenzung kön- nen die allmähliche Beteiligung und Machtübergabe erprobt werden. Zudem ermöglichen die Partizipationsprojekte auch strukturell deliberative Demokra- tie, so ist nicht ausgeschlossen, ein Partizipationsprojekt zum Thema „Rechte der Kinder“ oder eine Partizipationsprojekt über die Struktur der Partizipations- projekte zu machen.

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Die von den Autor*innen der „Kinderstube der Demokratie“ genannten Eck- punkte wurden um einen empirischen Zugang erweitert.

4 Die in der „Kinderstube der Demokratie“ implementierten demokratischen Strukturen und Deweys

Demokratietheorie

Sowohl die Autor*innen von „DeiKi“als auch die der „Kinderstube der Demo- kratie“ verwenden John Deweys Grundfigur der Demokratie als Lebensform als theoretische Grundlage und als einordnende Kategorie in Abgrenzung zur Demokratie als Regierungsform. Die Verwendung Deweys erfolgt dabei axio- matisch, d. h. es wird nicht konkret erklärt, was Demokratie als Lebensform in der Institution der Kindertageseinrichtungen eigentlich bedeutet, die Einord- nung wird ohne weitere theoretische Erklärung hingenommen. Obgleich De- wey, wie in Kapitel 2 aufgeführt, mit seiner Grundfigur der Lebensform auf ein theoretisches Gebäude zurückgreift, dass aufgrund des Entwicklungsbegriffs, des Erziehungsbegriffs, des Öffentlichkeitsbegriff und des Erfahrungsbegriffs auch für eine sozialpädagogische Analyse wichtig wäre, nehmen die genann- ten Autor*innen keinen Bezug auf dieses theoretische Gebäude. Zu klären ist, ob die Verwendung Deweys auch seiner Pädagogik gerecht wird. Dazu muss zunächst geklärt werden, ob die einzelnen Items tatsächlich als Teil der De- mokratie als Lebens- oder als Teil der Demokratie als Regierungsform zu ver- stehen sind.

4.1 Theoretisch: Lebensform (K2) und Regierungsform (K1)

Die Autor*innen der „Kinderstube der Demokratie“ beziehen sich auf die De- weys Differenzierung zwischen Demokratie als Lebensform und Demokratie als Regierungsform und ordnen das eigene Konzept anhand dieser Differen- zierung (vgl. Hansen und Knauer 2017). Dabei ist zusammenfassend zu sagen, dass es bei der Demokratie als Regierungsform für die Autor*innen um Kodi- fizierungen von Entscheidungsdynamiken und bei der Demokratie als Lebens- form um das alltägliche soziale Miteinander geht. Dewey selbst differenziert jedoch ausschließlich entlang der beiden oben genannten Normen, letztlich entlang der Erfahrungsentfaltung. Unter Regierungsform versteht Dewey in

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negativer Formulierung jenes Konzept, das zwar eine (Ab-)Wahl von Eliten zulässt, jedoch nicht die gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrungen berücksichtigt (vgl. Dewey 2000, S. 121). Wenn die Autor*innen der „Kinder- stube der Demokratie“ sich auf eine Ebene der Regierungsform beziehen, kön- nen sie sich nicht auf dieses Konzept der Regierungsform beziehen, denn diese Ebene richtet sich konkret gegen Deweys Erziehungsideal der Erfah- rungsrekonstruktion und wurde in seiner nationalstaatlichen Ausprägung von Dewey kritisiert (s. Kapitel 2.4). Die Beziehung zwischen Erziehung und De- mokratie als Regierungsform ist für Dewey nur oberflächlich, die Erziehung hätte letztlich das Ziel einer Erziehung zu Wahl und Abwahl und freiwilliger Bereitschaft und Unterordnung (vgl. ebd., S. 120). Erziehung zur Demokratie als Regierungsform würde sich letztlich auf den von Dewey kritisierten Demo- kratiebegriff beziehen und einer Vulgarisierung von Erfahrung nicht im Wege stehen. Die Autor*innen der „Kinderstube des Demokratie“ sehen jedoch in der Vermittlung von Demokratie als Regierungsform eine Ebene der Demokratie- bildung (vgl. Hansen und Knauer 2017, S.16). Die kodifizierten Verfahren, die Entscheidungsdynamiken und die Rechte der Kinder diskutieren die Autor*in- nen als Regierungsform. Dewey begreift Demokratie als Regierungsform je- doch nicht als Bildungsgegenstand, sondern als Status Quo des US-amerika- nischen Systems seiner Zeit und Reduzierung der Demokratie auf Erfahrungs- fremdes. Demokratie öffnet sich für die Erziehung überhaupt erst auf Ebene der Lebensform, welche die Erfahrung mitberücksichtigt. Die Autor*innen wer- den Dewey also nicht gerecht, wenn sie mittels seiner Differenzierung die De- mokratie als Regierungsform zum Bildungsgegenstand erklären. Der eigentli- che Inhalt von „Demokratie und Erziehung“ liegt nämlich nicht in der Differen- zierung von Regierungsform und Lebensform, sondern in der Feststellung, dass Demokratiebildung auf die Lebensform abzielt und inwiefern sich eine Demokratie der Lebensform entlang von Erfahrungsrekonstruktion pädago- gisch rechtfertigen lässt. Wenn sozialpädagogische Autor*innen die Grundfi- gur Deweys kategorial verwenden, dann wird es Dewey nicht gerecht, die Er- fahrungsrekonstruktion im weiteren Verlauf einer Konkretisierung für Kinderta- geseinrichtungen zu ignorieren.

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Die Autor*innen des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“ erklären nicht, was recht eigentlich auf der als Regierungsform verstandenen Ebene Bil- dungsgegenstand ist. Sie vermitteln bloß ein expertendemokratisches System, welches zur Teilnahme an der bundesrepublikanischen Demokratie qualifizie- ren mag und in Anbetracht abnehmender Wahlbeteiligung (vgl. Richter et al.

2017a, S. 9) auch politisch motiviert ist, aber die Vulgarisierung der Erfahrung innerhalb eines solchen Systems nicht berücksichtigt.

John Dewey hat jedoch mit seinem Öffentlichkeitsbegriff auch einen positiven Regierungsbegriff formuliert (s. Kapitel 2.5), der an Erfahrung und Entwicklung gekoppelt ist. Regierungsform wird demnach erst mit der Öffentlichkeit not- wendig, weil sie sich aus Wahrnehmungen des Koordinierungsbedarfes ergibt.

Solch ein Koordinierungsbedarf gibt es in Kindertageseinrichtungen in allen alltäglichen und auch formalen Entscheidungen über z. B. das Mittagessen, Raumgestaltung usw. Über genaue Institutionen, Zeitspannen und Orte der Regierungsform trifft Dewey keine Aussagen. Dewey formuliert offen, dass die indirekt Beeinflussten eine Gruppe bilden, die dann eine Öffentlichkeit bildet (vgl. Dewey 1996, S. 44). Diese Öffentlichkeit wird von „Hütern der Sitten“ (De- wey nennt Gesetzgeber, Angestellte, Richter) durchaus reguliert, aber nicht ergründet.

Im Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ gehen Regulationen jedoch der Erfahrung der Kinder voraus. Indem die Kita-Verfassung (K5) als zentrale Re- gulation die Öffentlichkeit feststellt, stellt sie die Öffentlichkeit auch fest. Nicht die Gruppe der Kinder und Fachkräfte errichtet gemeinsam einen Koordinie- rungsbedarf, sondern die Fachkräfte stellen zunächst fest, was überhaupt ko- ordiniert werden soll. Deweys „Hüter der Sitten“ führen keinen solchen prakti- schen Diskurs wie den der Fachkräfte untereinander, weil sich ihr Status und ihr Diskurs überhaupt erst durch die Betroffenheit der adressierten Öffentlich- keit bildet. Regierungsform bedeutet bei Dewey trotz der ständigen situativen Neuanpassung und flexiblen Institutionen also nicht Koordinierungsvakuum was Entscheidungen betrifft, aber durchaus ein Koordinierungsvakuum was die Episteme der Erfahrung betrifft. Die Autor*innen der „Kinderstube der De- mokratie“ denken Regierungsform jedoch von der Koordinierung, Regulation und Kodifizierung und nicht von der Erfahrung der Kinder aus.

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Der Zugriff auf Deweys Begrifflichkeiten der Regierungsform und Lebensform erfolgt im Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ theoretisch nicht entlang der Trennschärfe, die Dewey selbst vorschlägt und die in weiterer Dewey-Re- zeption z. B. von Dirk Jörke als erste und zweite Dimension der Demokra- tietheorie Deweys beschrieben wurde (s. Kapitel 2.5). Jedoch haben Richter et al. (s. Kapitel 3.3.2) diese Trennschärfe grundsätzlich in Frage gestellt, in- dem sie innerhalb des Prozesses der Demokratiebildung einen notwendigen Zusammenhang zwischen Demokratie als Regierungsform und Demokratie als Lebensform sehen. Eine sozialpädagogische Interaktion muss, wie be- schrieben, der Dialektik des Demokrat-Seins und Demokrat-Werdens gerecht werden.

Unter Berücksichtigung der Dialektik der Implementierung demokratischer Strukturen kann in den beforschten Kindertageseinrichtungen vorgefundene Demokratie als Regierungsform als Keimform einer Demokratie der auf Öffent- lichkeit beruhenden Regierungsform gesehen werden. Bspw. werden in den Vollversammlungen oder Stammgruppengremien solche Öffentlichkeiten von den Erfahrungen der Kinder aus hergestellt, aber auch Partizipationsprojekte (s. Kapitel 4.4) können eine Sensibilität für den Koordinierungsbedarf der Kin- der zeigen.

Im Folgenden wird die Praxis der gesammelten Items auf eine Vereinbarkeit mit Deweys oben genannten Normen bzw. der Erfahrungsrekonstruktion un- tersucht.

4.2 Partizipation als bildungsförderndes demokratisches Recht (K3) Für die Autor*innen der „Kinderstube der Demokratie“ ist Bildung Selbstbil- dung. Die Kinder bilden sich selbst und die Fachkräfte müssen diesen Selbst- bildungsprozess aufgreifen und unterstützen. Die Autor*innen finden solche Bildungsprozesse bspw. in Auseinandersetzung mit Aufgaben, die Kinder in den Projekten finden (vgl. Hansen et al. 2004, S. 56 ff.). Bildungstheoretisch ist problematisch, inwiefern externe Projekte interne Bildungsprozesse aktivie- ren können. Aber ein Blick auf John Dewey und seine Rezeption durch Jürgen Oelkers problematisiert das Konzept der Selbstbildung an sich: Jürgen Oel- kers beschreibt Deweys Erziehung als eine Abgrenzung zur

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(reformpädagogischen) Kindorientierung. Die „Natur des Kindes“ an sich gibt kein einfaches Wachstum vor (vgl. Oelkers 2000, S. 281). Bildung ist bei De- wey als sozial zu verstehen und kann mit Erfahrung als Grundlage nur in so- zialen Kontexten passieren. Bei den oben genannten Normen geht es um ge- teilte Interessen und ein Wechselspiel der Erfahrung, nicht um isolierte indivi- duelle Erfahrung. Für Dewey öffnet sich das Soziale durch den Unterschied zwischen individueller Bedeutungen und Tatsachen (vgl. Dewey 1996, S. 20).

Das Kind kann ohnehin nicht allein die Tatsache eines Gegenstands erfassen, ob entweder ein gemalter Affe „gut“ aussieht, die Uhrzeit richtig abgelesen wurde oder warum manche Handlungen andere Kinder traurig stimmen. Es ist angewiesen auf andere individuelle Bedeutungen, um sich einer Tatsache wei- ter anzunähern. Dass Fachkräfte in diese Prozesse auch aktiv eingreifen und weitere Bedeutungen und Erfahrungsrekonstruktionen liefern, fördert auch die Erfahrungsrekonstruktion im Kind. Problematisch bleibt jedoch der Begriff der Selbstbildung, wenn die Prozesse unweigerlich über das Selbst des Kindes hinausgehen. Ein demokratischer Bildungsprozess, der auf Erfahrungsrekon- struktion beruht, ist von sich aus sozial. Er verweist auf geteiltes Interesse und ein freies Wechselspiel der Erfahrung zwischen allen Gruppen der Kinderta- geseinrichtung. Die Grundlage davon ist, dass die Kinder auch Erfahrungsre- konstruktion anderer „erfahren“ und ihren Denkvorgang sozial ausdifferenzie- ren (s. Kapitel 2.2.). Bildung zur Demokratie der Lebensform ist daher eine sozialer Prozess. Somit ist das Item mit Dewey zu vereinbaren, vor allem zwi- schen der Gruppe der Fachkräfte und der Gruppe der Kinder fällt eine Schranke weg. Theoretisch gesehen fällt die Schranke jedoch nicht, weil sich die Fachkräfte bereiterklären Themen der Kinder anzunehmen, sondern weil sie gemeinsam mit ihren Erfahrungen und den Erfahrungen des Kindes sich einer Tatsache annähern.

4.3 Dialogische Kommunikation (K6)

Die Kinder sind auf Kommunikation mit den Fachkräften und anderen Kindern angewiesen, wenn sie ihre Erfahrung sozial differenzieren wollen. Das Kon- zept „Die Kinderstube der Demokratie“ nimmt sich des kommunikativen As- pekts an und verlangt eine dialogische Kommunikation zwischen Fachkräften

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und Kindern. Somit ist in der Kommunikation grundsätzlich die Möglichkeit des Wechselspiels zwischen diesen beiden Gruppen gegeben. Die Kinder können auch ihre Interessen teilen oder Interesse der Fachkräfte wahrnehmen. Sie können auch einen komplett externen Erfahrungsaustausch zwischen ande- ren Kindern mit Fachkräften wahrnehmen. Diese Praxis ergibt sich aus dem Selbstverständnis der Demokratie als Lebensform und wird auch Deweys Be- griff der Lebensform gerecht. Die Erfahrung des Kindes kann unmittelbar so- zial verarbeitet werden. Das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ ver- langt von den Fachkräften, dass sie fragend, nicht wissend den Kindern ge- genübertreten und ihre Beiträge ernst nehmen. Es wird die Aussage „Das weiß ich auch nicht, aber wir können gemeinsam versuchen, es heraus zu bekom- men“ als exemplarische Aussage einer Fachkraft angeführt (vgl. Hansen et al.

2004, S. 85). Hat das Kind initial eine Nachfrage zur Bedeutung einer Tatsache, die es mit einer Spannung verbindet, nimmt die Fachkraft, die eine solche Aus- sage trifft, den Bedarf nach der sozialen Rekonstruktion des Kindes und der Spannung der Situation wahr. Weitere Bedeutungen sind ab dann intersubjek- tiv. Kind und Fachkraft versuchen gemeinsam, sich einer Tatsache anzunä- hern.

4.4 Partizipationsprojekte (K4)

Hansen et al. sind sich trotz der zeitlich und thematisch begrenzten Struktur der Partizipationsprojekte bewusst, dass eine vom Ergebnis her bewertete Partizipation problematisch ist, weil sie eher das methodische, zielorientierte Kalkül der Fachkräfte beinhaltet als den Prozess der demokratischen Partizi- pation der Kinder (vgl. Hansen et al. 2004, S. 49). Der Schritt der Themenfin- dung, der strukturell am Anfang der Partizipationsprojekte steht (vgl. Hansen und Knauer 2017, S. 19), erweist in der Praxis eine Sensibilität für die Erfah- rungsentfaltung der Kinder. Das Projekt „Philosophieren mit Kindern“ zeigt bspw. wie die Fachkräfte das Thema „Gefangenschaft“ mit den Kindern be- handelt haben. Einige Kinder haben die Erfahrungsrekonstruktion von gestell- ten Gefangenschaften in Ritter-Spielen längere Zeit für sich thematisiert. Das wurde von den Fachkräften aufgenommen und das Thema „Gefangen- schaft“ zum Philosophieren mit den Kindern verwendet. Die Fachkräfte haben

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u.a. auch beobachtet, wie die Kinder sich gegenseitig in ihrer Körpergröße vergleichen und dann „Wachstum“ und Entwicklung zum Thema des Philoso- phieren gemacht (vgl. Hansen, S 45 f.). So wurden von den Erfahrungen (das Wachsen, das Gefangennehmen oder Gefangensein) ausgehend die Partizi- pationsprojekte gestaltet. Auch wenn es die Fachkräfte waren, die Themen festgestellt und ausgewählt haben. Die Fachkräfte haben, zumindest im Rah- men des Projekts, die spezifischen Interessen mit den Kindern geteilt und ihre Erfahrungsrekonstruktion, die sowieso nur sozial stattfindet (jemand nimmt je- manden gefangen, jemand vergleicht seine Körpergröße mit jemanden ande- ren), zum Gegenstand gemacht.

Partizipationsprojekte könne aber auch einen Blick auf die umliegende kom- munale Öffentlichkeit werfen. „Wir zeigen euch unsere Stadt“ oder „Ein Orts- plan von und für Kinder“ (vgl. Hansen et al. 2004, S. 36–43) sind bspw. Pro- jekte, indem die Kinder auch den Raum außerhalb ihrer Kindertagesstätte als Raum ihrer Erfahrung wahrnehmen, mit dem ein Koordinierungsbedarf ihrer- seits einhergeht. Kinder einer Einrichtung in Tarp haben im Rahmen eines Projekts diesen Koordinierungsbedarf sogar in dem Sozialausschuss der ent- sprechenden Gemeinde vertreten und dabei auch erfahren, wie die Erwach- senen ihren Koordinierungsbedarf in der kommunalen Öffentlichkeit organisie- ren. Innerhalb dieses Projekts konnten die Kinder also ihre Erfahrung in eine Öffentlichkeit einbringen, in der sie ihre Betroffenheit kundtaten, aber auch die Betroffenheit der anderen Gruppen wahrnahmen.

4.5 Kita-Verfassung (K5)

Die verfassungsgebende Versammlung besteht aus dem Team der Fachkräfte, was grundsätzlich expertendemokratisch ist. Wie wirkt sich eine Kita-Verfas- sung auf die Erfahrung aus? Die Verfassung schafft auch Gremien und Ver- fahren der Kita-Öffentlichkeit. Eine Vollversammlung oder eine Delegierten- versammlung gibt jedem Kind die Chance, ein Anliegen bzw. den Koordinie- rungsbedarf in Anliegen, die ein Kind indirekt betreffen, einzubringen. Die Kita- Verfassung kann ein Rahmengeber dieser Öffentlichkeit sein, wenn sie von der Wahrnehmung des Koordinierungsbedarfs der Kinder aus gedacht wird.

Die Fachkräfte könnten die oben erwähnten „Hüter der Sitten“ sein, dessen

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Status sich durch die Öffentlichkeit ergibt. Die Kita-Verfassung wird im Kon- zept „Die Kinderstube der Demokratie“ jedoch von der Erfahrung der Fach- kräfte aus gedacht. Es geht darum, welche Rechte die Fachkräfte den Kindern zugestehen können und wollen (vgl. Hansen und Knauer 2017, S.20). Bei De- weys an der Öffentlichkeit formulierten Regierungsbegriff wird Koordinierungs- bedarf jedoch nicht erst zugestanden, sondern er ergibt sich allein aus seiner Wahrnehmung. Wie auch immer die Gremien der Öffentlichkeit von den Fach- kräften festgelegt werden, es orientiert sich nicht grundlegend an dem Bedarf der Kinder, weil sie in der Festlegung nicht mit einbezogen werden.

In einem zweiten Schritt richtet die Verfassung aber Rechte ein, welche die Kinder einfordern können und somit ihre Wahrnehmung eines Koordinierungs- bedarfs zum Gegenstand der demokratischen Auseinandersetzung machen können. Von einer solchen Institutionalisierung von Gremien und Kodifizierung von Verfahren ist bei Dewey nicht die Rede, trotzdem verorten Richter et al.

(vgl. 2017b, S. 48) wie oben beschrieben die Idee der Demokratie als Lebens- form gesellschaftheoretisch der deliberativen Demokratie zu und verbinden damit auch demokratische Institutionen, die eine Herrschaft auf der Basis de- liberativer Interaktionsformen herstellen soll. Gesellschaftstheoretisch gesche- hen diese Interaktionsformen auf Ebene der Lebenswelt per Verständigung.

Die allgemeine Frage ist also die Frage nach Erfahrungsentfaltung in delibe- rativen Interaktionen, denn die speziellen Interaktionen, die durch die Kita-Ver- fassung hergestellt werden, sind der deliberativen Demokratie zumindest in der Keimform zuzuordnen. Dewey differenziert jedoch nicht wie Habermas entlang von Vergesellschaftung Gesellschaft in System und Lebenswelt. Ein Blick auf eine in der (reform-)pädagogischen Dewey-Rezeption unterschätzen Seite Deweys zeigt jedoch eine Gemeinsamkeit: Dewey war sich, wie in Kapi- tel 2.4 gezeigt, der historischen Verschiedenheit und der Kopplung der Verge- sellschaftung an die Arbeitsteilung bewusst. In „Demokratie und Erzie- hung“ lässt sich eine deutliche Kritik an der Art der Arbeitsteilung seiner Zeit, dem Fordismus, erkennen. Diese vulgarisiert in gleicher Qualität wie die Skla- verei die Erfahrung. Im Fordismus und im Kapitalismus allgemein wird die Er- fahrungsentfaltung im Arbeitsprozess durch die immer mechanischere Arbeit vulgär, aber auch die Erfahrung selbst wird zur Ware. Denn die Werktätigen

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vergesellschaften sich bloß durch den wertschaffenden Moment ihrer Arbeits- zeit und das zu Ware werden ihres Produkts. Hätte ihr Produkt jedoch nicht den strategischen Charakter einer Ware inne, sondern würde bspw. nur im direkten Konsum für die Familie münden, stände der Arbeitsprozess an sich der Erfahrungsentfaltung nicht entgegen. Dann hätten die Werktätigen ein per- sönliches Interesse durch direkten Gebrauch an ihrer Arbeit. Es ist im Fordis- mus das strategische System, dass die Erfahrung vulgarisiert, so wie es in der Antike die Sklaverei war. Habermas beschreibt diese Vulgarisierung der Er- fahrung innerhalb seiner gesellschaftheoretischen Analyse als Kolonialisie- rung der Lebenswelt durch das System (vgl. Habermas 1981). Auch wenn Ha- bermas, anders als Dewey, nicht die Erfahrung, sondern kommunikative und verständigungsorientierte Beziehungen in Gefahr sieht, ist die Diagnose Ha- bermas’ für dieses Kapitel interessant: das Recht kann der Lebenswelt helfen, sich gegen das System zu behaupten, wenn die Adressaten einer Rechtsnorm sich zugleich als ihre Urheber verstehen (vgl. Habermas 1994). Die Rolle des Rechts in der deliberativen Demokratie ist entscheidend für den Schutz der Lebenswelt. So können rechtlich kodifizierte Verfahren und Gremien, wie sie etwa eine Kita-Verfassung vorgibt, die Kinder vor Willkür der Fachkräfte schüt- zen oder Verbetrieblichung der Kindertageseinrichtungen verhindern, bei der die Erfahrung der Kinder letztlich durch eine zu Warewerden der Betreuungs- leistung vulgarisiert werden würde.

5 Fazit

Deweys Begriff der Form des Zusammenlebens berücksichtigt die unmittel- bare Erfahrungsentfaltung der Individuen einer Gesellschaft und inwiefern sich gesellschaftliche Verhältnisse auf diese Erfahrungsentfaltung auswirken, z. B.

beschränkt geteilte Interessen und die Konstruktion einer undurchlässigen so- zialen Gruppe der Werktätigen im Fordismus. Dewey hat mit seinem Öffent- lichkeitsbegriff auch eine positive Alternative der Regierungsform formuliert, welche Erfahrungsentfaltung berücksichtigt.

Die Autor*innen der „Kinderstube der Demokratie“ machen sich diesen positi- ven Regierungsbegriff nicht zu eigen und nehmen auch nicht den Deweyschen Öffentlichkeitsbegriff in ihr Konzept auf.

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