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Einordnung der Items und ihre Praxis

Regierungsform (K1) und Lebensform (K2) werden, entsprechend Richter et al., den Kategorien Expertendemokratie und deliberative Demokratie zugeord-net und als Überbegriffe zur Einordnung der anderen Items genutzt.

3.3.1 Lebensform: Deliberative Demokratie

Die dialogische Kommunikation (K6) ist der deliberativen Demokratie zuzuord-nen. Sie berührt die Ausgestaltung der Interaktionsformen. Richter et al. diffe-renzieren Interaktionsformen entlang des jeweils zugrunde liegende Konsen-ses in Alltagsdialog und (pädagogischen) Diskurs. Alltagsdialoge sind vom Konsens her unproblematisch, widerspruchlos. Der Diskurs dagegen wird zur Herstellung einer Verständigung geführt. Er ist handlungsentlastend und in ihm gilt der Zwang des besseren Arguments. Im pädagogischen Diskurs wird das Kind durch seine eigene Betroffenheit kompetent und kommuniziert so auf einer Ebene mit den Fachkräften. Der pädagogische Diskurs ist im Ausgang offen und für alle beteiligten ein Bildungsprozess (vgl. Richter et al. 2017a, 93 f.).

Dialogformen wie der pädagogische Diskurs kommen im Kita-Alltag bspw. auf, wenn es um Fragen der angemessenen Kleidung geht, Zeitpunkt und Art des Essens oder Mitgliedschaften zu Stammgruppen. Kinder und Erwachsene sind dann oft nicht einer Meinung und der Konsens wird informell hergestellt. Die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen erörtern mit den Kindern z. B. die Frage nach der richtigen Kleidung ergebnisoffen. Sie nehmen grundsätzlich eine diskursive und auf Verständigung zielende Haltung an. Die Kinder werden durch ihre eigene Betroffenheit kompetent, aber auch subjektive Sorgen und Ängste der Fachkräfte gehen mit in den Diskurs ein (vgl. ebd., S. 114 f.).

Es zeigt sich hier das partizipative Potenzial des Alltags. Der Alltag birgt Kon-flikte, denen nicht immer eine diskursiv ausgehandelte Entscheidung vorraus-geht (vgl. ebd., S. 117). Anders als in der Bearbeitung der Kita-Verfassungen haben die Kinder durch ihre Betroffenheit selbst Expertenstatus oder stellen den Expertenstatus der Fachkräfte in Frage. Die Situationen sind ergebnisof-fen. Wenn das Kind z. B. nicht die Kartoffeln essen möchte oder nicht die Win-terstiefel anziehen möchte, dann sind diese Ausgänge auch möglich. Diese

Ausgänge sind nicht Laissez-faire oder vernachlässigend, sondern deliberativ-demokratische Ergebnisse eines Diskurses (vgl. Richter et al. 2017a, S. 114).

Auch Partizipation als bildungsförderndes demokratisches Recht (K3) ist der deliberativen Demokratie zuzuordnen. Für die Kinder öffnen sich Erfahrungs-räume für demokratische Bildungsprozesse und die Fachkräfte erhalten Zu-gang zu den Interessen der Kinder durch zwei verschiedene, empirisch vorge-fundene Wege: formelle Mehrheitsdemokratie und non-formelle Mehrheitsde-mokratie. Formelle Mehrheitsdemokratie zeigt sich entlang von in der Kita-Ver-fassung kodifizierten Verfahren. Empirisch festgestellt wurden Gruppenkonfe-renzen, Kitaparlamente und Vollversammlungen. Die Gruppenkonferenzen der Stammgruppen wählen Delegierte, die das Kita-Parlament bilden, dort In-teressen vertreten und über Anträge entscheiden. In der Vollversammlung wird eine Kita-Öffentlichkeit bestehend aus allen Kindern und Fachkräften her-gestellt. Die genauen Dynamiken unterscheiden sich zwischen den beforsch-ten Kindertageseinrichtungen. So fungiert teilweise eine tägliche Vollver-sammlung auch als Gruppenkonferenz oder als allgemeiner Ort des Zusam-menkommens, unabhängig von Beschlussentscheidungen (z. B. Geburtstags-feier).

Die Gremien in Form des Kitaparlaments oder der Gruppenkonferenzen tagen mindestens wöchentlich mit einer Tagungsdauer von bis zu 45 Minuten. Fach-kräfte sind teilweise als Delegierte der FachFach-kräftegruppe oder prinzipiell im Kitaparlament vertreten. Es werden Konsensentscheidungen angestrebt, falls diese nicht erreicht werden, reicht in allen beforschten Kindertagesstätten eine einfache Mehrheit aus. Während im Kita-Parlament eine umfassende Selbst-verwaltung bestimmter Bereiche angestrebt wird, werden auf den Gruppen-konferenzen Interessen auf Ebene der Stammgruppen diskutiert. Oder es wer-den Anträge für das Kita-Parlament bzw. Beschlussentscheidungen von dem Kita-Parlament diskutiert. In allen beforschten Kindertageseinrichtungen wer-den Protokolle geführt, damit alle Beteiligten die Verfahren nachvollziehen können (vgl. ebd., S. 102–110).

Jedes Kind wird durch diese Verfahren in den Entscheidungsprozess von Be-schlüssen, welche die eigene Betroffenheit berühren, mit einbezogen. So kann es einerseits den eigenen Bildungsprozess, die eigenen Themen mit in die

verschiedenen Ebenen einbringen. Es kann aber auch einen Zugang zu Bil-dungsprozessen andere Kinder bekommen.

Demokratie verwirklicht sich in den beforschten Kindertageseinrichtungen aber auch durch non-formelle Mehrheiten. Diese beziehen sich vor allem auf die Gruppe der (Vor-)Schulkinder sowie in situativ entstehenden Kleingruppen mit gemeinsamen Interesse. Schulkindergruppen sind zwar ein fester Be-standteil einer jeden Kita, jedoch in den beforschten Kindertageseinrichtungen nicht als Verfassungsorgan organisiert. Sie organisieren sich in der Gruppe formal durch Mehrheitsentscheide, aber entsenden keine Delegierten und füh-ren kein Protokoll und sind somit keine formaldemokratische Interessens-gruppe im Verfassungssystem der Kitas. Die SchulkinderInteressens-gruppen organisieren ihren Bildungsprozess mit Blick auf den Übergang zu Schule. Sie entscheiden über mögliche Aktionen wie bspw. Ausflüge oder Elternabende (vgl. Richter et al. 2017a, S. 111).

In beforschten Kindertageseinrichtungen kam es neben der Schulkindergrup-pen teilweise zu weiteren Formierungen von InteressensgrupSchulkindergrup-pen und Voten, die eigentlich nicht in der Verfassung abgebildet sind. Diese ergeben sich si-tuativ aus konkreten Interessenslagen, bspw. welche Mandala-Themen aus-gewählt werden (vgl. ebd., S. 112). Obwohl die Gruppenkonferenz einen Be-schluss geliefert hat („schöne“ Mandalas) hat sich eine Interessengruppe ge-bildet, die Superhelden-Mandalas malen wollte. Die Gruppe ging in den Dis-kurs mit den Fachkräften, die dem Anliegen zustimmten. Auch wenn hier ein Verständigungsprozess vorlag, wurde die Herstellung der Öffentlichkeit, Pro-tokollführung und Übermittlung des Interesses an die Gruppenkonferenz igno-riert. Richter et al. bewerten diese konkrete Situation als Aushebelung des Vo-tums der Gruppenkonferenz und sehen es allgemein als Stärkung der Demo-kratie als Lebensformen, non-formelle in formelle Mehrheitsverfahren zu über-mitteln (vgl. ebd., S. 113).

3.3.2 Zwischen Lebensform und Regierungsformen: Keimformen deliberativer Demokratie in Expertendemokratie

In den beforschten Kindertageseinrichtungen lassen sich grundsätzliche de-liberativ-demokratische Interaktionsformen finden, wie etwa die dialogische Kommunikation. Richter et al. stellen jedoch strukturell angelegte

Expertendemokratien fest, die sich in den Kita-Verfassungen (K5) äußern. Die Verfassungen sind vom Team der Fachkräfte in einem Diskurs erarbeitet, die-ser bezieht die Kinder, die ja die eigentlichen Adressaten der Verfassung sind, nicht mit ein (vgl. Richter et al. 2017a, S. 118). Obwohl der Auftrag der „Kin-derstube der Demokratie“ eine Machtübergabe an die Kinder vorsieht, wird hier nur im Team der Fachkräfte, der Experten, ein Diskurs geführt. Richter et al. haben jedoch eine allgemeine Reflexion der basisdemokratischen Ausrich-tung der Teams und auch einen Begründungszwang gegenüber den Kinder festgestellt (vgl. ebd., S. 119 f.). In vielen Teams der beforschten Kindertages-einrichtungen wird die pädagogische Praxis und der weitere Ausbau demokra-tische Strukturen reflektiert. Die Fachkräfte begründen ihre Beschlüsse den Kindern gegenüber und schaffen Raum zum Widerspruch. Auch wenn die Kita-Verfassung grundsätzlich eine Experten-Verordnung ist, schafft sie de-liberativ-demokratische Strukturen des Widerspruchs und eine allgemeine Ko-difizierung der Rechte der Kindern.

Partizipationsprojekte (K4) sind themenspezifisch und zeitlich begrenzt. The-menfindung, Zielformulierung und Organisation der Entscheidung werden da-bei im Team der Fachkräfte erörtert (vgl. Hansen und Knauer 2017, S. 19 f.).

Partizipationsprojekte sind damit in zweifacherweise strukturell expertende-mokratisch: Partizipation wird als etwas von Fachkräften zu Begrenzendes be-griffen und die inhaltlichen und strukturellen Eckpunkte dieser Projekte werden von Fachkräften bestimmt. Jedoch lassen sich auch hier Keimformen der de-liberativen Demokratie entdecken. Im Sinne einer dialektischen Demokratiedi-daktik muss auch den Fachkräften ein Lernprozess des Demokrat-Sein und Demokrat-Werden ermöglicht werden. Die Autor*innen der „Kinderstube der Demokratie“ sehen in den Partizipationsprojekten konkret einen Lernprozess für die Fachkräfte. Aufgrund der zeitlichen und thematischen Begrenzung kön-nen die allmähliche Beteiligung und Machtübergabe erprobt werden. Zudem ermöglichen die Partizipationsprojekte auch strukturell deliberative Demokra-tie, so ist nicht ausgeschlossen, ein Partizipationsprojekt zum Thema „Rechte der Kinder“ oder eine Partizipationsprojekt über die Struktur der Partizipations-projekte zu machen.

Die von den Autor*innen der „Kinderstube der Demokratie“ genannten Eck-punkte wurden um einen empirischen Zugang erweitert.

4 Die in der „Kinderstube der Demokratie“ implementierten demokratischen Strukturen und Deweys

Demokratietheorie

Sowohl die Autor*innen von „DeiKi“als auch die der „Kinderstube der Demo-kratie“ verwenden John Deweys Grundfigur der Demokratie als Lebensform als theoretische Grundlage und als einordnende Kategorie in Abgrenzung zur Demokratie als Regierungsform. Die Verwendung Deweys erfolgt dabei axio-matisch, d. h. es wird nicht konkret erklärt, was Demokratie als Lebensform in der Institution der Kindertageseinrichtungen eigentlich bedeutet, die Einord-nung wird ohne weitere theoretische Erklärung hingenommen. Obgleich De-wey, wie in Kapitel 2 aufgeführt, mit seiner Grundfigur der Lebensform auf ein theoretisches Gebäude zurückgreift, dass aufgrund des Entwicklungsbegriffs, des Erziehungsbegriffs, des Öffentlichkeitsbegriff und des Erfahrungsbegriffs auch für eine sozialpädagogische Analyse wichtig wäre, nehmen die genann-ten Autor*innen keinen Bezug auf dieses theoretische Gebäude. Zu klären ist, ob die Verwendung Deweys auch seiner Pädagogik gerecht wird. Dazu muss zunächst geklärt werden, ob die einzelnen Items tatsächlich als Teil der De-mokratie als Lebens- oder als Teil der DeDe-mokratie als Regierungsform zu ver-stehen sind.