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ERECHTIGKEITS-
VORSTELLUNGEN
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EISTESWISSENSCHAFTLICHEÜ
BERLEGUNGEN ZUMW
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ERFASSUNG ALSH
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USAMMENLEBEN VONM
ENSCHEN UNDV
ÖLKERNReferat, gehalten am 2. Oktober 1997 im Forschungskolloquium der Schweizerischen Akademie der Geisteswissenschaften "Herausgeforderte Verfassung Die Schweiz im globalen Kontext" in Gerzensee (vorläufige, vollständige Fassung)
von Michael Walter Hebeisen (Muri bei Bern, Ruhr-Universität Bochum, Oxford University und Università Federico Secondo di Napoli)
I n h a l t s ü b e r s i c h t :
Abstracts 2
Referat 5 43
I. Einleitung : Homogenität einer Wertgemeinschaft oder Legitimation durch Verfahren ? Gegen
eine rationalistische Engführung (Thesen 1 und 2) 5
II. Verfasstheit als Ermöglichung des Zusammenlebens unter der Voraussetzung des Pluralismus
der Weltanschauungen Der Staat als Leistungs- und Wirkungszusammenhang (These 3) 11 III. Verfassungsleben, Gesamtverfassung, Verfassung und Verfassungstext in geisteswissen-
schaftlicher Perspektive : Recht und Verfassung als Objektivationen des Lebens der
politischen Gemeinschaft (Thesen 4 bis 6) 15
IV. Verfassung und Verfassungswirklichkeit Zur beschränkten Wirksamkeit der Rechtsordnung
überhaupt (These 7) 25
V. Zur Vermittlung von Grundwerten in Moral, Recht und Verfassung Moralische, politische
und geschichtliche Urteilskraft als Strategien der Universalisierung (Thesen 8 und 9) 27 VI. Das Völkerrecht vor der Herausforderung des interkulturellen Relativismus Die Verfassung
der Völker im Spannungsfeld zwischen Weltfrieden und Kriegsrecht (These 10) 36 VII. Fazit und Ausblick : Starke Demokratie, republikanische Verfassung und Friedensverfassung
der Völker gegen indifferenten Wertrelativismus 38
Zusammenstellung der Thesen 43 44
Auswahlbibliographie 45 55
Anmerkungen 56 82
K e y W o r d s :
Staatsphilosophie; Allgemeine Staatslehre; Verfassungslehre; Grundwerte der Verfassung; Staat-
Gesellschaft; Relativismus-Universalismus, Pluralismus; politische Urteilskraft; partizipatorische
Demokratie; republikanische Verfassung.
A b s t r a c t s :
Das gerechte Zusammenleben von Menschen und Völkern vollzieht sich überwiegend ohne Beeinflussung von geschriebenen Verfassungen; der Grad an verwirklichter Gerechtigkeit steht jedoch im Zusammenhang mit der Gesamtverfassung der politischen Gemeinschaft im Sinn ihrer Konstitution ("politische Kultur").
Die positive Verfassung ist nicht eine Verkörperung von Wertvorstellungen, die in einer politischen Gemeinschaft geteilt werden müssten ("Staatszweck", "Staatsziele"); sie ist vielmehr Rahmenordnung des Politischen, d.h. sie verfasst einmal die Auseinandersetzungen um die Zuordnung von Rechten dort, wo Werte konfligieren ("Verfahrensgerechtigkeit"), und dann verbietet sie mit gewissen Grundrechten, eine Uniformität der Wertvorstellungen in der Gemeinschaft auf dem Weg der Autorität des Rechts herzustellen ("Verfassung des Pluralismus"). Die Verfassung, so wie auch die Rechtsordnung insgesamt, objektivieren vielmehr hintergründige Vorstellungen von Gerechtigkeit; in ihr schlagen sich Strategien nieder, die einen Ausgleich zwischen verschiedenen Werten und unterschiedlichen Rangordnungen von geteilten Werten mittels eines republikanischen Toleranzprinzips zu schaffen versprechen ("Kompromisshaltung").
Die Auseinandersetzung um Grundwerte der Verfassung entspringt der Polarisierung von positivistischen und naturrechtlichen Auffassungen von Recht und Verfassung und kann seit einem letzten Höhepunkt in den 70er und 80er Jahren als überwunden gelten; der geschriebenen Verfassung einen höchsten Wert einzubeschreiben, läuft letztlich darauf hinaus, ein dogmatisches Element in den Rang einer normativ wirkenden Tatsache zu erheben ("Kodifikation der
Grundrechtslehre"). Unter der Voraussetzung des Wertepluralismus gibt es nichtsdestotrotz Möglichkeiten einer Universalisierung normativer Forderungen, die nicht von der Objektivität von Werten ihren Ausgang nehmen ("materiale Wertethik"); moralische, politische und geschichtliche Urteilskraft begründen auch auf subjektivem Weg Ansprüche auf
Allgemeingültigkeit ("subjektiv-allgemeine Urteile"). Besonders die politische Urteilskraft ("Sensus communis") ist handlungsbezogen ("Pragmatismus"), angewiesen auf unmittelbare Anschauung ("Partizipation") und weder final angeleitet von einer bestimmten Vorstellung des höchsten politischen Gutes ("Bonum commune"), noch abhängig von moralischer
Fachkompetenz ("realistischer Menschenverstand"); die teleologische Orientierung an einem Bonum commune ist, ohne Gefahr, in den abgründigen Relativismus abzugleiten, auswechselbar durch den Sensus communis.
Die Werthaftigkeit der Verfassung liegt gerade auch darin begründet, dass sie einen gesellschaftlichen Wirkungs- und Leistungszusammenhang erkennbar und damit, in Grenzen, beeinflussbar macht ("Steuerungsfähigkeit"); dieser Selbstwert der geschriebenen Verfassung weist keine Transzendenz mit Beziehung auf dahinterliegende Wertvorstellungen auf
("Verfasstheit"). Wird die geschriebene Verfassung als eine Objektivation des demokratischen
Gemeinsinns erachtet, so kommt ihr diesbezüglich ein Selbstwert zu, d.h. sie verweist nicht
weiter auf ausserhalb ihr liegende Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern trägt diese in sich
("Verfassung der Republik").
R e f e r a t :
In Vertretung von Professor P
ETERK
OLLER(Graz) bin ich eingeladen worden, Überlegungen
"zum Wert der Verfassung als Hilfe auf dem Weg zum gerechten Zusammenleben von
Menschen und Völkern" vorzutragen;
1meine nachfolgenden Ausführungen dazu habe ich unter den Titel gestellt : "Die Verfassung als Vermittlerin von Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen".
In einer Präzisierung der Fragestellung ist gewünscht worden, "G r u n d w e r t e u n d
P r i n z i p i e n d e s d e m o k r a t i s c h e n V e r f a s s u n g s s t a a t e s in der pluralistischen Welt zur Sprache zu bringen", und "I n h a l t e , deren L e g i t i m a t i o n und die Möglichkeit von deren U n i v e r s a l i s i e r u n g in einer Welt von moral strangers" zu thematisieren. Im Grunde
genommen kann man nun die Wert- und Sinnfrage an eine konkrete Verfassung als eine geschichtlich gewordene direkt gar nicht stellen, diese gilt einfach, weil sie positiv ist, erbringt bestimmte Leistungen und erfüllt gewisse Funktionen; aber das Thema reisst natürlich ein ganzes Spektrum von spannenden Fragen auf.
Wenn ich die kontinentaleuropäisch geprägte Problemstellung unorthodox behandle, weil ich sie in einen anderen, nämlich vorwiegend anglo-amerikanischen Kontext einbinde, um von da aus neue Fragestellungen und Ansätze zu deren Beantwortung zu entwickeln, bin ich darauf angewiesen, dass Sie sich zunächst einmal auf meine Argumentationsstrategie einlassen; immerhin kann an einige alteuropäische Traditionen angeknüpft werden und manche Thesen fanden immer auch einige deutschsprachige Vertreter. Darüber hinaus muss ich Sie um die Erlaubnis bitten, gelegentlich sogar noch etwas weiter auszuholen, als es der Titel anzeigt, um verfahrene Aporien der Staats- und Verfassungslehre aufzubrechen.
***
An dieser Stelle einfügen möchte ich eine knappe Vorausschau auf die behandelten Thesen und Begründungen in ihrem Zusammenhang, um den Überblick besser wahren zu können :
2Einleitend möchte ich davon ausgehen, dass die Verfassung weder auf Homogenität einer Wertgemeinschaft angewiesen ist, noch darauf, dass die vorgesehenen Verfahren der
Willensbildung gerechte Ergebnisse einfach so garantieren; vielmehr will ich mit der Verwendung des Begriffs der V e r f a s s t h e i t den S e l b s t w e r t d e r V e r f a s s u n g bezeichnen und gegen eine Aufladung der Verfassung mit sittlichen und moralischen Werten plädieren (Ziff. I.;
Thesen 1 und 2). Die Verfassung vergemeinschaftet eine interdepen-dente und arbeitsteilige Gesellschaft, die zwar auf heterogenen Wertvorstellungen aufbaut, die aber teleologisch aufgefasst auf einen bestimmten W i r k u n g s - u n d L e i s t u n g s z u s a m m e n h a n g hinausläuft (Ziff. II.; These 3). In einen grösseren Rahmen gestellt sind Recht und Verfassung geisteswissenschaftlich und lebensphilosophisch zu beziehen auf die G e s a m t v e r f a s s u n g d e r p o l i t i s c h e n G e m e i n s c h a f t , welcher eine normative Struktur originär innewohnt; in der Rechtsordnung wie in der Verfassung finden sich die Sitten, die Moralität, die Idee der
Gerechtigkeit und der Grundkonsens vermittelt durch die Positivierung der einzelnen Systeme der Gesellschaft (Ziff. III.; Thesen 4 bis 6). In einem Exkurs möchte ich darauf hinweisen, dass die zivilisatorische und kulturelle Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft nur beschränkt der rechtlichen Regelung zugänglich sind, und dass sich deshalb eine instrumentelle
Inanspruchnahme von Recht und Verfassung grundsätzlich verbietet (Ziff. IV.; These 7). In
einem konstruktiven Beitrag möchte ich anschliessend aufzeigen, dass in der p o l i t i s c h e n
U r t e i l s k r a f t ein Konzept verfügbar ist, das unter Respektierung des Faktums des Pluralismus
nicht-autoritäre Konsensfindung ermöglicht; die Modalität der Vermittlung der kulturellen Wert-
und Gerechtigkeitsvorstellungen kann in einem veritablen r e p u b l i k a n i s c h e n G e m e i n -
s i n n aufgefunden werden, der der Intersubjektivität und Dialogizität von Normen Rechnung
trägt (Ziff. V.; Thesen 8 und 9). Interkulturelle Gerechtigkeit zwischen den Völkern kann auf dem Weg des Kosmopolitismus der Bürger verfasster Staaten erreicht werden und führt zu einer Neuen W i s s e n s c h a f t v o n d e r g e m e i n s a m e n N a t u r d e r V ö l k e r , die an die frühneuzeitliche Natur- und Völkerrechtslehre anknüpfen kann (Ziff. VI.; These 10). Zum Schluss will ich meine V i s i o n d e s Z u s a m m e n s p i e l s v o n p a r t i z i p a t o r i s c h e r D e m o k r a t i e , r e p u b l i k a n i s c h e r V e r f a s s u n g u n d d e r F r i e -
d e n s v e r f a s s u n g d e r V ö l k e r zur Diskussion stellen (Ziff. VII.).
Meine Überlegungen sind von der Überzeugung geprägt, dass es unergiebig, ja für die praktizierte Demokratie geradezu gefährlich ist, herauszustellen, welche hehren Werte der Verfassungstext birgt, und dass es nach einer längeren Zeit einer sendungsbewussten Euphorie der Verfassungslehre der okkzidental-europäischen Länder ein Gebot der Bescheidenheit ist, auf den S e l b s t w e r t d e r V e r f a s s t h e i t überhaupt hinzuweisen sowie darauf, dass der
Verfassungstext in einem g e s u n d e n S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s z u r
V e r f a s s u n g s w i r k l i c h k e i t stehen muss. Dann wird nämlich erkennbar, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung des Gebots der Menschenwürde etc. nicht einfach Ideen sind, von denen sich bestimmte Postulate mit Sicherheit ableiten liessen, dass vielmehr Demokratie in republikanischem Gemeinsinn, dass Rechtsstaatlichkeit in einer differenzierten Kontrolle der Verfassungsmässigkeit der übrigen Rechtsordnung, und dass die Menschenwürde in der alteuropäischen humanistischen Tradition des demokratischen Verfassungsstaates begründet liegt; es wird mithin deutlich, dass d i e i m V e r f a s s u n g s t e x t v e r k ö r p e r t e n I d e a l e a u f t a t s ä c h l i c h e V o r a u s s e t z u n g e n v e r w i e s e n bleiben, auch wenn und das ist die juristische Pointe die positive Verfassung diese Voraussetzungen in einer bestimmten Art und Weise objektivieren, vermitteln muss und also grundsätzlich kein Durchgriff auf die der Verfassung zugrundeliegenden Werte erfolgen darf. D e m o k r a t i e , R e c h t s s t a a t , M e n s c h e n r e c h t e u n d G r u n d f r e i h e i t e n s i n d d e n n n i c h t e i g e n t l i c h W e r t e , a u f d i e d i e V e r f a s s u n g b e z o g e n w ä r e , d i e p o s i t i v e V e r f a s s u n g e r s c h e i n t v i e l m e h r a l s A u s d r u c k e i n e r S e l b s t v e r p f l i c h t u n g a u f
e b e n d i e s e " T u g e n d e n " .
I. Einleitung : Homogenität einer Wertgemeinschaft oder Legitimation durch Verfahren ? Gegen eine rationalistische Engführung
Weil der Frage nach dem "Wert" der Verfassung als einer historisch-besonderen nicht ergiebig nachgegangen werden und also nicht bei der Geschichte Zuflucht gesucht werden kann, ist man auf der Suche nach vorläufigen Antworten zunächst auf theoretische Spekulation angewiesen;
immerhin und dies muss vorneweg klargestellt werden verbürgte auch die vollendetste und gerechteste Verfassung nicht, dass in der durch sie verfassten Gemeinschaft auch ausschliesslich gerechte Handlungen getätigt würden und konsequent hat ja der Anspruch der Zielgerichtetheit auf das gerechte Zusammenleben von Menschen und Völkern bereits in der Themenstellung eine Abschwächung erfahren : die Verfassung ist immer nur "H i l f e a u f d e m W e g ". In gewisser Weise einfacher ist es, den Sinn, die Bedeutung und Notwendigkeit, die Funktionen und
wesentliche Elemente einer besonderen Verfassung zu thematisieren,
3als die naheliegende Frage nach der Werthaftigkeit der Verfassung zu stellen.
4Ist die Verfassung wertvoll, weil sie auf anerkannte Werte abstellt oder hat sie einen Selbstwert ? Mögliche Antworten sollen zur Annäherung an eine Typologie dienen :
a. Eine Verfassung kann als wertvoll beurteilt werden, weil sie sittliche Idealen, sogenannte
G r u n d w e r t e k o d i f i z i e r t ("Verfassung qua Kodifikation der Gerechtigkeit") oder
b. sie kann auf solche in einer bestimmten Kultur allgemein geteilte W e r t v o r s t e l l u n g e n r e k u r r i e r e n ("höchstes Gut als höchster Wert der Verfassung");
c. eine Verfassung kann aber auch als wertvoll beurteilt werden, weil bestimmte von ihr vorgesehene (meist repräsentativ-demokratische) Verfahren gerechte Ergebnisse der Willensbildung erhoffen lassen ("V e r f a h r e n s g e r e c h t i g k e i t ")
5oder
d. weil Verfahren (meist direkt-demokratische) gemeinschaftliches Handeln überhaupt erst ermöglichen (republikanische "V e r f a s s t h e i t " als Selbstwert).
Die Hauptunterscheidung scheint darin zu liegen, ob H o m o g e n i t ä t e i n e r W e r t g e - m e i n s c h a f t vorausgesetzt oder das V e r t r a u e n i n V e r f a h r e n gesetzt wird, was aber nicht als Entgegenstellung von materialer und formaler Rechtsstaatlichkeit missverstanden werden darf;
6die zugegeben subtilere Unterscheidung stellt in beiden Fällen darauf ab, ob die Verfassung die V e r k ö r p e r u n g v o n G e r e c h t i g k e i t ist oder nur einen V e r w e i s a u f d i e S i t t l i c h k e i t enthält. Letztlich scheint mir aber entscheidend zu sein, ob man eine T r a n s z e n d e n z beziehungsweise T r a n s p o s i t i v i t ä t annimmt und ob man die
Unterscheidung als abschliessende anerkennt. Die Legitimation könnte etwa auch auf dem Weg über den Staatszweck erfolgen oder der Staat könnte sich als Dienstleistungsanstalt erweisen
7und wäre wertvoll, weil er bestimmte Staatsziele und Staatsaufgaben wahrnimmt;
8entscheidend für die Werthaftigkeit der Verfassung ist denn letztlich, welche Normen ins Werk gesetzt werden, und deshalb muss auch die Wirksamkeit der Verfassung auf das Rechtsleben mit in Betracht gezogen werden.
9Diese Möglichkeiten erweisen sich aber nur als scheinbare Alternativen zu der oben vorgeschlagenen Typisierung, je nachdem, ob sie metaphysische Implikationen beinhalten.
Um die sinnfällige Aporie zu überwinden und zu signifikanten Aussagen zur Werthaftigkeit der Verfassung zu gelangen, muss hier die Fragestellung erweitert werden : Es gilt zunächst, die Legitimationsproblematik unter dem Aspekt des Faktums des Pluralismus als Kontext für die Diskussion von Grundwerten in der Verfassung aufzureissen und sodann, die Debatten um
"Naturrecht oder Positivismus" und um "Politik und Moral" zu rekapitulieren, um das Verhältnis von Sittlichkeit und Verfassung näher zu kennzeichnen.
These 1 : D i e L e g i t i m a t i o n s d e b a t t e i s t m i t B e z u g a u f R e c h t , V e r - f a s s u n g u n d S t a a t a b z u l ö s e n d u r c h e i n e n A n w e n d u n g s d i s k u r s ; d e r W e r t d e r V e r f a s s u n g i s t r e c h t s i m m a n e n t z u v e r s t e h e n . D i e V e r -
f a s s u n g i s t d e m n a c h n i c h t w e r t h a f t , w e i l s i e s i c h a u f e i n e h o m o g e n e W e r t g e m e i n s c h a f t b e z i e h t , s o n d e r n w e i l s i e d i e p o l i t i s c h e
G e m e i n s c h a f t ü b e r h a u p t v e r f a s s t , d . h . V e r f a h r e n v o r s i e h t z u r s t a a t l i c h e n W i l l e n s b i l d u n g .
Die Auseinandersetzung um die Grundwerte in der Verfassung ist geprägt von N a t u r - r e c h t s e i n s c h l ü s s e n i m p o l i t i s c h e n , V e r f a s s u n g s - u n d G e s e l l -
s c h a f t s d e n k e n und bleibt zudem ganz dem Umfeld der 70er und 80er Jahre verhaftet,
10geprägt von der Pluralismus-Debatte, der Diskussion über Zivilen Ungehorsam und von der Entgegenstellung von Naturrecht und Positivismus beziehungsweise von der Trennung zwischen Moral und Recht. Heute scheint mir eine Abkehr von dieser Legitimationsdebatte angezeigt; dies nicht zuletzt deshalb, weil sich eine gewisse Müdigkeit breitmacht, da die Abstraktion von Prinzipien wie Demokratiegebot, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte etc. sich als zu hoch erwiesen hat, um konkrete Problemlösungen verfassungspolitisch zu inspirieren oder um die Interpretation bestehender Verfassungsbestimmungen zu prägen. Im Ergebnis war die
Legitimitätsdebatte wohl deshalb unfruchtbar, weil Legitimität und Legalität zusammenzufallen drohen.
11Als Alternativen dazu sind u.a. das d e l i b e r a t i v e P o l i t i k - u n d
V e r f a s s u n g s m o d e l l vorgeschlagen
12und k o m m u n i t a r i s t i s c h e T h e o r i e n
formuliert worden;
13ich möchte Ihnen später im Zusammenhang unseres Themas einen
selbständigen, jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus stehenden, auf republikanischer Urteilskraft beruhenden Ansatz vorstellen.
14Die existentielle Herausforderung des Staats- und Verfassungsdenkens durch einen unübersehbaren Pluralismus der Werte, der zu relativistischer Kapitulation verleitet, ist
keineswegs neu, vielmehr erweist sich bereits die Weimarer Republik als Testfall des D e n k e n s d e r s t a a t l i c h e n E i n h e i t u n t e r d e r B e d i n g u n g f e h l e n d e r g e s e l l -
s c h a f t l i c h e r H o m o g e n i t ä t ;
15nicht zuletzt dieser Umstand war es, der die
Staatsrechtslehre der Zwischenkriegszeit ungeheuer herausforderte und zu unübertroffenen denkerischen Leistungen anspornte.
16In Differenz zu einem kulturwissenschaftlichen muss ein geisteswissenschaftlicher Ansatz in der Staatslehre nun aber die Unschädlichkeit fehlender kultureller Homogenität der politischen Gemeinschaft behaupten.
In seinem Buch "Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft" hat R
EINHOLDZ
IPPELIUSvorgeschlagen die Suche nach dem legitimen Staat im pluralistischen Zeitalter pragmatisch als einen L e r n p r o z e s s aufzufassen und hat demokratische Legitimität im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit situiert. Als Momente der
Strukturierung des demokratischen Prozesses beschreibt er : Kultivierung durch Repräsentation, Politik des menschlichen Masses, Ausgewogenheit der sozialen Gewalten, Transparenzgebot und schlägt dafür die "e x p e r i m e n t i e r e n d e M e t h o d e " vor.
17Rechte ohne sichere Wahrheit und ohne zureichende Begründung fordern nun aber das Verfassungsdenken jenseits von Naturrecht und Positivismus heraus
18und rufen nach einer neuen juridischen Einstellung;
19es gilt, den Konstitutionalismus in einem Zeitalter der Diversität forzuführen.
20Unter Bezugnahme auf das Deutsche Grundgesetz hat W
ALTERL
EISNERdiese Tendenz pointiert formuliert als Entwicklung "v o m G r u n d g e s e t z d e r W e r t e z u r V e r f a s s u n g d e r
M ö g l i c h k e i t e n ";
21Die Wertordnungsjudikatur des Deutschen Bundesverfassungsgerichts scheint demgegenüber noch in die entgegengesetzte Richtung zu weisen
22und die ältere Lehre missbrauchte im Zeichen des aufkommenden Verfassungspatriotismus in Deutschland die Verfassung und ihre Institutionen als Gegenstand für politische Theorie, anstatt sich an die politische Gemeinschaft und jeden Einzelnen als Sitz des Politischen zu halten.
23In dieser Situation erweist sich nun die Applikation der Rechtsregeln, die der Jurisprudenz aufgetragene Ü b e r w i n d u n g d e r S p a n n u n g v o n T h e o r i e u n d P r a x i s
ausschlaggebend für die Beurteilung des Wertbestimmung von Rechtsordnung und Verfassung
24und nicht mehr sosehr eine ohnehin fragliche Beantwortung der Frage nach dem letzten Grund der Rechtfertigung von Rechtsnormen.
25Es ist denn auch unlängst die A b l ö s u n g d e s L e g i t i m a t i o n s d i s k u r s e s gefordert und vorgeschlagen worden, ihn d u r c h e i n e n A n w e n d u n g s d i s k u r s zu ersetzen; K
LAUSG
ÜNTHERversucht, jede Bezugnahme auf die sittliche Verpflichtung abzuschütteln, indem er zwischen Anwendungs- und
Begründungsdiskursen unterscheidet :
"Das, w a s uns als konkrete Forderung der Situation erscheint, thematisieren wir in Anwendungs- diskursen unter dem Anspruch, alle relevanten Merkmale zu berücksichtigen, während das, was daran ' F o r d e r u n g ' ist, im Begründungsdiskurs einer universalistischen Begründung bedarf".26
Der Diskurs über Angemessenheit hat durchaus die Aufgabe, Geltungsansprüche zu begründen und verweist auf das hermeneutische Geschäft der Jurisprudenz und für das Gebiet der Politik auf die A
RISTOTELISCHEphronesis. Gestützt wird diese Perspektive durch die Feststellung, dass der überlieferte Kontext des Handelns zu einer normativ wirkenden Verselbständigung neigt.
Man kann die eingeschlagene Richtung der Theorieentwicklung mit Fug so auslegen, dass wir uns
auf dem Weg aus der D a u e r k r i s e d e r L e g i t i m a t i o n i m p l u r a l i s t i s c h e n
U m f e l d zu einem auf Konsens und Föderalismus gründenden neuen Gesellschaftsvertrag befinden.
27Eine radikale Abkehr von der Legitimationsfrage bedeutete zugleich Befreiung von einem falsch angewendeten, weil auf dem produktiven Gebiet der Geisteswissenschaften
(Humanwissenschaften) praktizierten R a t i o n a l i s m u s ,
28worauf namhafte Theoretiker wie F
RIEDRICHA
UGUST VONH
AYEK29und M
ICHAELO
AKESHOTT30lange schon hingewiesen haben. Mit Blick auf die Sozialwissenschaften muss das Urteil über rationalistische Komponenten des Staats- und Verfassungsdenkens jedoch differenziert beurteilt werden.
31***
Zwar kann versucht werden, nicht nur Gesellschaft, sondern auch Gemeinschaft "moralfrei" zu verstehen;
32in der Tat zeigt die gesellschaftliche Entwicklung der Moderne eine Tendenz zur Soziologisierung des ethischen Diskurses.
33Bestimmend bleibt aber demgegenüber, dass gemeinschaftliche Konflikte geprägt sind von der K o n k u r r e n z m o r a l b e s e t z t e r u n d u m A n e r k e n n u n g r i n g e n d e r G e l t u n g s a n s p r ü c h e .
34Solcher Befund bedeutet nun aber nicht zugleich, dass diese moralisch besetzte Auseinandersetzung innerhalb der Rechtsordnung zwingend fortgesetzt werden müsste; das Ringen der Wertvorstellungen kann genauso verrechtlicht werden wie eine Ökonomisierung der Moral hinsichtlich einer Soziologie der politischen Gesellschaft betrieben werden kann.
35Beides bedeutet im Grunde genommen nur, dass die Substanz der Willensbildung beziehungsweise Gemeinschaftsbildung zu bestimmten Zwecken reduziert wird.
These 2 : F ü r d a s V e r f a s s u n g s d e n k e n v e r b i e t e t s i c h e i n e A u f l a d u n g d e r V e r f a s s u n g m i t m o r a l i s c h e n P o s t u l a t e n ( W e r t e n ) ; R e c h t u n d
S i t t l i c h k e i t s i n d z u d i s s o z i i e r e n , P o l i t i k d a r f n i c h t m o r a l i s i e r t w e r d e n ( s o w i e d i e M o r a l n i c h t v e r p o l i t i s i e r t w e r d e n d a r f ) . D i e M e n s c h e n r e c h t e u n d G r u n d f r e i h e i t e n s o l l e n g e w ä h r l e i s t e n , d a s s i m P r o z e s s d e r f r e i e n E n t s c h e i d u n g U n v e r f ü g b a r e s n i c h t z u r
D i s p o s i t i o n g e s t e l l t w i r d .
Auch wenn der Begriff des Relativismus gehört in einen erkenntnistheoretischen Kontext (Suche nach Wahrheit), derjenige des Pluralismus in einen praktisch-philosophischen Kontext (Suche nach verbindlichen Normen) gehören, kommt beiden Phänomenen nichtsdestotrotz für die Verfassungstheorie eine zentrale Bedeutung zu. Obwohl Politiker sich gerne auf
Wahrheitssuche begeben und obwohl sie sich zuweilen von Philosophen beraten lassen, soll (Verfassungs-)Politik jedoch gerade in demjenigen Raum stattfinden, wo nicht Tatsachen-
Wahrheiten und moralische Verbindlichkeiten zur Verfügung stehen,
36sondern unter dem Druck eines Handlungszwangs und unter Zeitdruck p r a g m a t i s c h e E n t s c h e i d u n g e n getroffen werden müssen (weil keine Entscheidung auch Handeln durch Unterlassen bedeutete). Wenn nun erkenntnismässige und moralische Gewissheit tendenziell auf dem Rückzug sind, so bedeutet sie für die Verfassung als "R a h m e n o r d n u n g d e s P o l i t i s c h e n "
37eine ernstzunehmende Steigerung ihrer Bedeutung und damit ihres Werts für die Bewältigung der anstehenden
Aufgaben, für das Verfassungsdenken allerdings eine gewaltige Herausforderung.
Trotz der intensiven Debatte um "Naturrecht oder Positivismus" blieb die A u t o n o -
m i e f o r d e r u n g d e r R e c h t s w i s s e n s c h a f t in der Praxis eigentlich unangetastet, trotz
einer gewissen Misskreditierung des Positivismus; die Bezugnahmen auf das Naturrecht auf der
anderen Seite haben sich ebenfalls gehalten und fallen entsprechend schillernd aus.
38Etwa von
P
ETERH
ÄBERLEist die Forderung aufgestellt worden, eine "V e r f a s s u n g s t h e o r i e o h n e
N a t u r r e c h t s b e z i e h u n g " auskommen zu lassen :
"Die 'Sache' und Funktion 'Verfassung' der res publica sollte sich selbst so entwickeln, bewähren und tragen, dass es naturrechtlicher 'Rückgriffe' nicht bedarf. Die Alternative 'Naturrecht oder positives Recht' muss für die Verfassungstheorie gegenstandslos werden, d.h. einer Verfassungstheorie und - praxis des politischen Gemeinwesens sollte es gelingen, sei es oberhalb, sei es unterhalb des
Naturrechts, auf jeden Fall aber unabhängig von ihm, s e l b s t t r a g e n d e 'eigene' Fragestellungen, Argumente und Begründungszusammenhänge, Sach- und Verfahrensprinzipien,
V e r f a s s u n g s p r i n z i p i e n zu entwickeln".39
So berechtigt das Anliegen ist, könnte es sich doch erweisen, dass die Sache um Grössenord- nungen schwieriger liegt als sie hier dargestellt erscheint : W
ILHELMD
ILTHEYhat bereits
gemahnt, es könnte sich zeigen, "dass die methodische Frage keineswegs so einfach liegt, als man heute annimmt, und dass die gegenwärtige völlige V e r u r t e i l u n g d e s N a t u r r e c h t s v i e l l e i c h t v o r e i l i g e r a l s b i l l i g war".
40Weiter finden sich in den "Einleitungen zu Untersuchungen über die Geschichte des Naturechts" um 1874 interessante Äusserungen Diltheys zur Naturrechtslehre der Sophisten.
41Es macht dem unausgeführten Manuskript nach zu schliessen fast den Anschein, als hätte die Problematik des Naturrechts für Dilthey eine zentrale Funktion in Erörterungen "über das Studium der Geschichte der Theorien vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat". Diese Aussagen stehen allerdings neben einer richtiggehenden Dekonstruktion verschiedener herkömmlicher Auffassungen des Naturrechts;
dieser Umstand lässt bewusst werden, dass Naturrecht nicht gleich Naturrecht ist :
42Das Naturrecht der katholischen Rechts- und Sozialphilosophie
43ist wesensverschieden vom Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts, so auch das Recht der sogenannten "Natur der Sache", etc.
und schliesslich steht die Idee einer N a t u r p h i l o s o p h i e d e s R e c h t s im Raum.
Der Forderung P
LATONSnach einem Philosophen-König hat I
MMANUELK
ANTin seiner Streitschrift "Zum ewigen Frieden" eine strenge Scheidung von moralischer und politischer Kompetenz entgegengesetzt und nurmehr von einer E i n h e l l i g k e i t v o n M o r a l u n d P o l i t i k n a c h d e m t r a n s z e n d e n t a l e n G r u n d s a t z d e s ö f f e n t l i c h e n
R e c h t s gesprochen : "Dass Könige philosophieren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen, weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der
Vernunft unvermeidlich verdirbt".
44Wenn heute der Politik Ethik anbefohlen wird,
45so gibt es doch auch namhafte Stimmen, die vor einer moralischen Aufladung der Politik warnen (u.a. weil eine moralische Aufladung der Politik immer auch eine Verpolitisierung der Moral bedeutet
46), und die sich dem aufklärerischen Unternehmen Kants insofern anschliessen.
47Dieser hatte wie auch schon T
HOMASH
OBBES48 dafür plädiert, ein Volk müsse sich eine Verfassung geben können, ohne zuvor einen Grundkonsens über moralische Fragen erzielen zu müssen und das Problem der Verfassunggebung wie folgt definiert :
"Nun ist die r e p u b l i k a n i s c h e Verfassung die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen, aber auch die schwerste zu stifen, vielmehr noch zu erhalten ist, dermassen dass viele behaupten, es müsse ein Staat von E n g e l n sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären. [...] Das Problem der
Staatserrichtung ist, so hart es auch klingt, selbst für ein Volk von T e u f e l n (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: 'Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, dass, obgleich sie in ihren Privatmeinungen einander entgegenstehen, diese einander doch so aufhalten, dass in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg ebenderselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnung hätten'. Ein solches Problem muss a u f l ö s l i c h sein".49
Wenn aber die V e r f a s s u n g g e b u n g u n a b h ä n g i g v o n d e r S i t t l i c h k e i t d e r
p o l i t i s c h e n G e m e i n s c h a f t möglich ist, dann schadet auch moralischer Pluralismus der
Möglichkeit und der Einheit der Verfassung keineswegs.
Ohne auch nur eine annähernd abschliessende Begründung dafür bieten zu können, meine ich einige Gründe vorgetragen zu haben, weshalb es sich anbietet, die Verfassung als eine
selbsttragende und deshalb eigenwertige aufzufassen.
50Im Rahmen des so verfassten politischen Prozesses bleibt das Problem bestehen, wie die M e n s c h e n r e c h t e u n d
G r u n d f r e i h e i t e n in diesen Theoriekontext einzufügen sind; auch wenn die Verfassungs- gerichtsbarkeit mutig eigene Wege geht, so bleibt doch das herrschende Grundrechtsverständnis in der Renaissance der Naturrechtslehre nach dem Zweiten Weltkrieg befangen.
51Wenn denn die Menschenrechte überzeugend als G r u n d n o r m e n d e r p l u r a l i s t i s c h e n D e m o k r a t i e bezeichnet worden sind,
52so frägt es sich dennoch, ob damit die Möglichkeiten einer
Universalisierung von Grundwerten nicht überschätzt werden und ob sich die Verfassung nicht übernimmt, wenn diese Werte als verrechtlichte gewissermassen absorbiert. Grundrechte erscheinen einerseits als K o n s t a n t e n j e n s e i t s d e r V e r f a s s u n g s p o l i t i k und zugleich als d y n a m i s c h e r g e s c h i c h t l i c h e r E n t w i c k l u n g u n t e r w o r f e n (sie werden ja denn auch wie selbstverständlich von den Gerichten den aktuellen Gefährdungen der Freiheit "angepasst") und stehen so gewissermassen ausserhalb der Verfassung.
53Vorrangig aus der Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten die Werthaftigkeit der Verfassung abzuleiten, hiesse, diese beiden Eigentümlichkeiten zu verkennen.
Die Verankerung der Menschenwürde in der Verfassung bedeutet eigentlich, dass eine (allerdings allgemein geteilte) Begründungsstruktur für ein System von Werten in die Verfassung eingetragen wird.
54Dabei lässt sich eine Grundnorm der Menschenwürde auch von
philosophischer Seite zumindest in Frage stellen.
55Vielleicht ist diese Unsicherheit aber auch einfach Ausfluss des Paradox, dass gerechtes (besser : richtiges) Recht in concreto immer als h e t e r o n o m e F o r d e r u n g an den unrecht Handelnden herantritt, aber nur selten auch nur in der Motivationslage mitenthalten ist, dass Recht mithin abstrakte, nicht-verhandelbare und nicht-verfügbare Forderung ist und zugleich in annähernder Gestalt auf Positivität in der endlichen Lebenswelt angewiesen ist. Grundsätzlich bleibt es dabei, dass Gerechtigkeit sich letztlich nicht autonom paktieren lässt.
56Hinzu kommt, dass die verfassten Grundrechte trotz ihres ideellen Impetus eine relativ begrenzte Tragweite aufweisen, weil die von ihnen geschützten Freiräume und Güter immer mehr nur noch im Rahmen der Gesetze gewährleistet werden.
57Als Funktion der Grundrechte im Kontext des vorgeschlagenen Verständnisses des Werts der Verfassung wäre denn zu bezeichnen, dass sie für das freie Spiel der politischen Kräfte U n v e r f ü g b a r e s m a r k i e r e n , U n a u f g e b b a r e s u n d U n v e r b r ü c h l i c h e s w e n i g s t e n s b e n e n n e n .
II. Verfasstheit als Ermöglichung des Zusammenlebens unter der Vor- aussetzung des Pluralismus der Weltanschauungen Der Staat als Leistungs- und Wirkungszusammenhang
Gesetzgebung und Verfassunggebung sind angewiesen auf gründliche Kenntnis der Leistungs- und Wirkungszusammenhänge auf den Gebieten der anvisierten Lebensbereiche; um eine
akkurate Analyse, und um realistische Entscheidungsgrundlagen gewinnen zu können, ist eine der Gesetzesevaluation entsprechende "V e r f a s s u n g s e v a l u a t i o n " zu fordern. Diese
Notwendigkeit führt zu einer h a n d l u n g s t h e o r e t i s c h e n O r i e n t i e r u n g von Staatslehre und Jurisprudenz,
58für die Rechts- und Staatsphilosophie zum Gebot einer Orientierung am P r a g m a t i s m u s .
59Vor allem für den Juristen ist es Voraussetzung für ein zutreffendes Verständnis der
nachfolgenden Ausführungen, sich für einmal auf die h a n d l u n g s t h e o r e t i s c h e E n t -
z a u b e r u n g der Gegenstände von Staat und Recht in den Status von O b j e k t i v a t i o n e n
d e s L e b e n s einzulassen. Solches bedeutet, sich die Objekte seiner Wissenschaft nur als Objektivationen, Stabilität nur als Stabilisierungsversuch und Institutionen nur als
institutionalisierte Wirkungs- und Entscheidungseinheiten zu denken. Ich möchte Ihnen, meinen Damen und meinen Herren, also beliebt machen, sich Staat und Recht für einmal nicht als Gegenstände vorzustellen, sie sich als Institutionen, Systeme oder substantielle Begriffe zu denken, sondern sich durch meine Ausführungen in eine Welt der D e n k g e g e n s t ä n d e entführen zu lassen. Staat und Recht haben im streng wissenschaftlichen Denken keine gegenständliche Existenz, Substanz, Essenz oder Entität.
"Wenn wir fragen, was in der empirischen Wirklichkeit dem Gedanken 'Staat' entspricht, so finden wir eine Unendlichkeit diffuser und diskreter menschlicher Handlungen und Duldungen, faktischer und rechtlich geordneter Beziehungen, teils einmaligen, teils regelmässig wiederkehrenden Charakters, zusammengehalten durch eine Idee, den Glauben an tatsächlich geltende oder gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen. Dieser Glaube ist teils gedanklich entwickelter geistiger Besitz, teils dunkel empfunden, teils passiv hingenommen und auf das mannigfaltigste abschattiert in den Köpfen der Einzelnen vorhanden, welche, wenn sie die 'Idee' wirklich selbst klar als solche d ä c h t e n , ja nicht erst der 'allgemeinen Staatslehre' bedürften, die sie entwickeln will".60
Dies waren, wie Sie vermuten, nicht meine Worte, sondern ein Zitat aus M
AXW
EBERSHerausgebererklärung für das "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" aus dem Jahr 1904, welche "die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" zum Thema hat. Das Verbot der Vergegenständlichung von Staat (und Recht) ist nun aber nicht so sehr beruhigendes als vielmehr herausforderndes Postulat: der Befund lautet dahingehend, dass im Effekt der Staat aus dieser Perspektive dekonstruiert wird. Eine solche
h a n d l u n g s t h e o r e t i s c h e A u f l ö s u n g d e s S t a a t e s i n A k t e s e i n e r
F u n k t i o n s t r ä g e r geschieht in der politischen Philosophie etwa bei B
ENEDETTOC
ROCE,
61oder wenn H
ERMANNH
ELLERden Staat als Leistungs- und Wirkungszusammenhang begreift und für die Staatslehre eine kulturwissenschaftliche, wirklichkeitswissenschaftliche und
strukturwissenschaftliche methodologische Grundlegung empfiehlt.
62Heller hat die Wirklichkeit des Staates als Organisation einer Wirkungs- und Entscheidungseinheit aufzufassen versucht und ist dabei zu einer unübertroffen klaren Problemstellung gelangt :
"Wie ist der Staat als Einheit in der Vielfalt zu begreifen, ohne ihm ein selbständiges, von den ihn bewirkenden Menschen losgelöstes Wesen zu behaupten und ohne ihn als blosse Fiktion zu erklären ? Mit anderen Worten : wie ist der Staat als vielheitlich bewirkt und dennoch einheitlich wirkend zu verstehen ?" 63
Die letztlich soziologische beziehungsweise gesellschaftstheoretische Perspektive des Staats- denkens Hellers führt zur Forderung, funktionierende Handlungserwartungen müssten dort geschützt werden, wo der Einzelne im Verkehr der arbeitsteilig organisierten Gesellschaft auf verlässliche Interaktion angewiesen ist. Diese Sicht der Dinge gewinnt nur noch an
Überzeugungskraft in einer Situation fortschreitender Individualisierung und Vereinzelung der Gesellschaft, in einer solchen sich verstärkenden ethnisch-kulturellen Pluralismus.
Solche wissenschaftliche Perspektiven wurzeln in der Überzeugung, dass nach dem Ende der idealistischen Geschichtsphilosophien und infolge des Verbots der metaphysischen
Aufladung von Politik die I n s t i t u t i o n e n d e s S t a a t e s u n d d e r R e c h t s o r d n u n g
i m m e r n u r O b j e k t i v a t i o n e n d e s f l u k t u i e r e n d e n L e b e n s u n d s o d e r
G e s c h i c h t e sind.
64Populär lautet diese Intuition, Staat und Recht seien "in die Geschichte
gestellt"; radikalisiert findet sie sich beim Geschichtsphilosophen O
SWALDS
PENGLER:
"Innerhalb der Welt als Geschichte, in die wir lebend verwoben sind, so dass unser Empfinden und Verstehen beständig dem Fühlen gehorcht, erscheinen die kosmischen Flutungen als das, was wir Wirklichkeit, wirkliches Leben nennen, Daseinsströme in leiblicher Gestalt. Man kann sie, die das Merkmal der Richtung tragen, verschieden erfassen: hinsichtlich der B e w e g u n g oder des B e w e g t e n . Jenes heisst Geschichte, dieses Geschlecht, Stamm, Stand, Volk, aber eins ist nur durch das andere möglich und vorhanden. Geschichte gibt es nur von etwas. Meinen wir die Geschichte der grossen Kulturen, so ist Nation das Bewegte. Staat, s t a t u s heisst Zustand. Den Eindruck des Staates erhält man, wenn man von einem in bewegter Form dahinstömenden Dasein die Form für sich ins Auge fasst, als etwas in zeitlosem Beharren Ausgedehnten, und von der Richtung, dem Schicksal ganz absieht. Der Staat ist die Geschichte als stillstehend, Geschichte den Staat als fliessend gedacht. Der wirkliche Staat ist die Physiognomie einer geschichtlichen Daseinseinheit; nur der ausgedachte Staat der Theoretiker ist ein System".65
Es soll also keine institutionalistische Sicht auf Staat und Recht geworfen werden, sondern eine handlungstheoretische; eine, die letztlich in eine Konvergenz von Staat und Geschichte mündet, die dazu ermuntert, die Staatsverfassung als ein Geschichten-Erzählen von den Erfahrungen der politischen Gemeinschaft aufzufassen.
These 3 : U n t e r d e m E i n d r u c k d e s P l u r a l i s m u s d e r W e l t a n s c h a u - u n g e n w i r d d a s R e c h t z u r ü c k g e w o r f e n a u f e i n e u r e i g e n e F u n k t i o n u n d s i c h e r t d i e V o r a u s s e t z u n g e n f ü r d e n R e c h t s v e r k e h r ; d i e V e r - f a s s u n g v e r g e m e i n s c h a f t e t h e t e r o g e n e W e r t v o r s t e l l u n g e n u n d g r ü n - d e t i n d e r Z w e c k h a f t i g k e i t d e s s t a a t l i c h e n L e i s t u n g s - u n d
W i r k u n g s z u s a m m e n h a n g s .
Die Uneinheitlichkeit der gesellschaftlichen Wertvorstellungen und die Unverfügbarkeit einer diese tragfähig überbrückenden Metaphysik ist mitnichten eine Erscheinung des 20.
Jahrhunderts oder gar der Nachkriegszeit; vielmehr prägte die Idee des "Pluralismus" bereits die metaphysikskeptischen Haltungen des 19. Jahrhunderts, etwa von F
RIEDRICHN
IETZSCHEund W
ILHELMD
ILTHEY. Die Problemstellung der Vereinbarkeit von pluralistischer Grundhaltung und normativem Denken wurde zunächst besetzt mit dem Konzept der
W e l t a n s c h a u u n g e n .
66Zugegeben scheinen sich prima facie Schwierigkeiten zu ergeben mit der Vereinbarung von pluralistischer Demokratie und Konstitutionalismus, d.h.
Rechtsstaatlichkeit im Sinn von Rule of Law,
67mit der Verinbarung von Pluralismus und politischem Konsens.
68Ob pluralistisches Rechtsdenken auf den Pfaden H
ANSK
ELSENSgeht oder ob es eine Neigung zur materialen Wertethik aufweist,
69die Frage nach vor-positiven Bezugspunkten für die Legitimität des Rechts unter der Herrschaft des interkulturellen Pluralismus bleibt bestehen und ist nicht voreilig zu entscheiden :
"Ist es nicht die Aufgabe des Rechts, absoluten Pluralismus in relativen, durch grundlegende
Gemeinsamkeiten beschränkten Pluralismus zu transformieren, um so die Probleme zu lösen, die sich aus der Vielfalt der Gründe und der Ergebnisse des Denkens und des Verhaltens ergeben ?" 70
J
EAN-F
RANÇOISA
UBERThat die scheinbare A p o r i e d e r U n v e r t r ä g l i c h k e i t z w i -
s c h e n V e r f a s s u n g u n d P l u r a l i s m u s pointiert aufgehoben mit den Charakte-
risierungen : "le pluralisme vivifie la constitution" und "la constitution fortifie le pluralisme".
71Man kommt nun nicht umhin, sich dieses unzweideutige Bekenntnis zum Pluralismus zu eigen zu
machen, nur dass man unablässig Acht geben muss, dass man das "stärken" nicht unbewusst liest
als "bändigen". Die politische Theorie hat sich gefragt, ob nicht der Pluralismus vielleicht einer
politischen Herausforderung bedürfe wie beispielsweise den Totalitarismus und ist dabei auf eine
bezeichnende Verlegenheit gestossen : "die Pluralismustheorie [in Deutschland] verfügt über
keinen reflektierten Begriff pluralistischer Differenzierung der Gesellschaft; ohne einen solchen
Begriff ist eine politische Theorie aber keine politische Theorie, sondern nur politisches
Handeln".
72Um Fazit zu ziehen : um die "Verfassung" der (politischen) Theorie des Pluralismus steht es schlecht; die Herausforderung aber bleibt bestehen : d a s U n i v e r s u m i s t
p l u r a l i s t i s c h .
73Die o f f e n e G e s e l l s c h a f t (K
ARLR. P
OPPER74) ist nicht etwa offen, obwohl sie, son- dern weil sie rechtlich verfasst ist; die Vorstellung der V e r f a s s u n g a l s e i n e s P r o d u k t s e i n e s o f f e n e n P r o z e s s e s d e r G e s e l l s c h a f t ist unaufgebbar,
75auch wenn ihr mit der klassischen staatsphilosophischen Begrifflichkeit, etwa für die U n t e r s c h e i d u n g v o n S t a a t u n d G e s e l l s c h a f t , schwer beizukommen ist. Die These von der Trennung von Staat und Gesellschaft wird von der Auffassung des Staates als einer Idee, der Gesellschaft als der Substanz geprägt und führt geradewegs zu Forderungen wie derjenigen, dass der Staat die
gesellschaftlichen Voraussetzungen, von denen seine Existenz abhängt nicht beeinflussen dürfe;
76damit setzt sie die aufzulösende Aporie einfach fort und dennoch ist die postulierteTrennung nicht einfach liberale Ideologie. Staat und Gesellschaft sind das Ergebnis eines um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Trennungsprozesses, "in dem der Staat schliesslich als 'juristische Person' der Gesellschaft als 'Trägerin der geistigen und materiellen Werte' gegenübergestellt worden sei",
77verfolgt H
ORSTE
HMKEdie Entwicklung zurück. Genau diese Qualifikation der Begriffe von Staat und Gesellschaft ist es, die uns heute im Weg steht; es wird deshalb
vorschlagen, sie zu ersetzen durch diejenigen der verfassten politischen Gemeinschaft und der Zivilgesellschaft. Bezeichnenderweise finden wir denn das Begriffspaar "Staat/ Gesellschaft" im englischsprachigen Raum ersetzt durch die Unterscheidung "C i v i l s o c i e t y / G o v e r n m e n t ";
diese entspricht aber eher der alteuropäischen Tradition als diejenige von Staat und Gesellschaft.
In seiner Auseinandersetzung mit "Sinn und Bedeutung einer Verfassung" hat K
URTE
ICHENBERGERdie Auffassung vertreten, sinnstiftende Verfassungsfunktionen sollen die Idee der Verfassung in der Praxis vermitteln und hat eine Typologie in Ordnungsfunktion,
Machtkontrollfunktion, Organisationsfunktion, Integrationsfunktion und Orientierungsfunktion der Verfassung vorgeschlagen.
78Solcher F u n k t i o n a l i s m u s liegt jedoch nahe bei
I n s t r u m e n t a l i s i e r u n g d e r V e r f a s s u n g (genaugenommen handelt es sich um eine Invertierung der instrumentellen Perspektive). Die instrumentelle Bestimmung von Recht und Verfassung führt aber zur falschen Folgerung, diese stünden auch zur freien Disposition, sowie E
RNSTF
ORSTHOF: Staat und Recht in der Industriegesellschaft fest in der Hand der Gesellschaft und Wirtschaft behauptet hat.
79Wenn dem so wäre, stellte der Rechtsstaat in der Tat nur noch ein Werkzeug in der Hand der gesellschaftlichen Kräfte dar und müsste unter der Voraussetzung des Pluralismus zunehmend handlungsunfähig werden; der Staat degenerierte zuletzt zum "local hero".
80Dem stehen Auffassungen entgegen, wie sie P
ETERH
ÄBERLEin seinem Buch
"Verfassung als öffentlicher Prozess"
81und R
EINHOLDZ
IPPELIUSin "Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft"
82vertreten haben. Kontrastiert kann man die Optionen also bezeichnen mit : Pluralismus als Attentat auf die Souveränität des Staates, und : k e i n e s i c h s e l b s t o r d n e n d e G e s e l l s c h a f t o h n e D a z u t u n v o n R e c h t , V e r f a s s u n g u n d S t a a t .
"So gegensätzlich sich der Pluralismus vom 'Staat' oder aber von der 'Gesellschaft' her ansieht, beide Ansichten haben doch das gemeinsam, dass sie im wesentlichen unpolitisch sind. Die 'staatliche' Ansicht sucht die Lösung gewissermassen oberhalb, die 'gesellschaftliche' Ansicht sucht sie unterhalb der Politik. Lässt man dagegen den Gegensatz von 'Staat' und 'Gesellschaft' [...] fallen, so wird man die Eigenart der menschlichen Verbände, die wir in einem weiteren Sinne 'Staat' nennen, wieder daran sehen, dass sie p o l i t i s c h e Gemeinwesen sind. Politisch in dem Sinne, dass sie zur guten Ordnung des Gemeinwesens und zur Erfüllung der nach innen und aussen gestellten gemeinsamen Aufgaben als um Hermann Hellers Wort zu gebrauchen Wirkungs- und Entscheidungseinheit organisiert sind. Es handelt sich um e i n e n menschlichen Verband, zu seiner Verdoppelung oder Teilung in 'Staat' und 'Gesellschaft' besteht keinerlei Anlass".83
Diese Unterscheidung erweist sich als eine spezifisch d e u t s c h e H y p o t h e k und ist darauf zurückzuführen, dass der aufgeklärte absolutistische Staat präexistent vor der von der
Bürgerlichen zur Zivilgesellschaft entwickelten Volks- und Bewusstseinsbasis in die politische Geschichte einging.
84Dabei ist die Unterscheidung aber heute für die ersten Vertreter der
politischen Philosophie in einer Weise dominant,
85dass es kein Entkommen zu geben scheint als die Orientierung an der anglo-amerikanischen Theoriebildung.
Die Idee eines staatlichen Leistungs- und Wirkungszusammenhangs richtet die Auf- merksamkeit auf eine B e t r a c h t u n g v o n R e c h t , V e r f a s s u n g u n d S t a a t u n t e r d e m K r i t e r i u m d e r Z w e c k m ä s s i g k e i t (causa finalis anstelle der begründenden Kausalität).
86Die intrinsische Zweckorientierung des Rechts ist von R
UDOLF VONI
HERINGaufgewiesen worden
87und nicht nur von H
ERMANNH
ELLER, sondern auch etwa von W
ALTHERB
URCKHARDTaufgenommen worden mit der Feststellung, dass die Organisation der
Rechtsgemeinschaft auf teleologischem Kalkül basiert (bei ihm ist Verfassung dann positivistisch freilich wieder nur "Zuständigkeit").
88III. Verfassungsleben, Gesamtverfassung, Verfassung und Verfassungs- text in geisteswissenschaftlicher Perspektive : Recht und Verfassung als Objektivationen des Lebens der politischen Gemeinschaft
Nachfolgend geht es darum, das V e r h ä l t n i s z w i s c h e n d e m S e l b s t w e r t d e r V e r - f a s s u n g und damit auch dem Staat auf der einen u n d d e n W e r t v o r s t e l l u n g e n i n d e r G e s e l l s c h a f t näher zu kennzeichnen. Selbst bei G
EORGW
ILHELMF
RIEDRICHH
EGELfinden wir keine Identifikation des Staates mit der Sittlichkeit (diese findet sich erst bei
F
RIEDRICHJ
ULIUSS
TAHL); vielmehr ist "der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee",
89d.h. die Sittlichkeit ist auf die ideelle Ebene zu projizieren und der Staat sodann als Verwirklichung dieser Projektion zu denken. Diese Komplikation erinnert daran, dass es nicht einfach ein Konzept des sittlichen Staates gibt, sondern eine Vielzahl.
90Die Trennung von Staat und Gesellschaft bleibt dabei zwar als Unterscheidung zumindest bestehen; zudem gilt es jedoch, die wechselseitigen Bezüge zu thematisieren : es geht um die M o d a l i t ä t e n d e r T r a n s f o r m a t i o n v o n d e r D a s e i n s - a u f d i e B e w u s s t s e i n s e b e n e u n d u m g e k e h r t , von der Ebene des Rechtsbewusstseins (opinio iuris, hier : opinio constitutionis) auf diejenige des geltenden
(positiven) Rechts. Dabei werde ich jedoch nicht von U n i v e r s a l i s i e r u n g sprechen, weil es sich nicht um die Tragweite eines Geltungsanspruchs handelt, sondern den passenderen der O b j e k t i v i e r u n g gebrauchen, der zutreffend kennzeichnet, dass es um die teilweise
P o s i t i v i e r u n g und Abstraktion beziehungsweise um A p p l i k a t i o n und Konkretisierung geht.
These 4 : R e c h t u n d V e r f a s s u n g s i n d l e b e n s p h i l o s o p h i s c h z u b e z i e - h e n a u f d i e G e s a m t v e r f a s s u n g d e r p o l i t i s c h e n G e m e i n s c h a f t ; d i e l e i s t u n g s f ä h i g e D i f f e r e n z i e r u n g ( S t r u k t u r i e r u n g ) d e r v e r s c h i e d e n e n K u l t u r s y s t e m e ( P o s i t i v i e r u n g ) i s t z u b e a c h t e n u n d d i e m a n -
n i g f a l t i g e n B e z i e h u n g e n z w i s c h e n d e n S y s t e m e n d e r S i t t l i c h k e i t , d e r M o r a l , d e s R e c h t s u n d d e s S t a a t e s s i n d i n U n t e r s u c h u n g z u z i e h e n .
Das V e r h ä l t n i s v o n p o s i t i v e r R e c h t s w i s s e n s c h a f t u n d E t h i k im 19.
Jahrhundert ist paradigmatisch geblieben und die zentralen Thesen, dass Rechtsanwendung auf Verstandestätigkeit beruhe, dass es sich bei ethischen Urteilen um persönliche Überzeugungen und nicht um objektiv feststellbare Normen handle, und dass Rechtsanwendung und
Rechtspolitik streng voneinander zu unterscheiden seien
91beherrschen das Rechts- und
Staatsdenken bis heute. Freilich gab es auch grundsätzlichen Widerspruch, wie exemplarisch in
W
ILHELMD
ILTHEYSlebensphilosophischem Ansatz in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Sittlichkeit und Recht beziehungsweise Verfassung. In seinem v o n d e n L e b e n s - u n d E r l e b n i s z u s a m m e n h ä n g e n i h r e n A u s g a n g n e h m e n d e n P h i l o s o p h i e schliesst Dilthey an die Problematik des Naturrechts an :
"Das P r o b l e m , welches sich d a s N a t u r r e c h t s t e l l t e , ist n u r l ö s b a r i m Z u s a m - m e n h a n g d e r p o s i t i v e n W i s s e n s c h a f t e n d e s R e c h t s . [...] Hieraus folgt, dass es einer besondere Philosophie des Rechts nicht gibt, dass vielmehr ihre Aufgabe dem philosophisch begründeten Zusammenhang der positiven Wissenschaften des Geistes wird anheimfallen müssen".92
Die beiden Aussagen sind so frappant und müssen jeden Juristen quasi von Berufes wegen zunächst geradezu erschüttern, weil die ü b l i c h e G r e n z z i e h u n g z w i s c h e n N a t u r - r e c h t u n d P o s i t i v i s m u s r a d i k a l i n F r a g e g e s t e l l t erscheint, und weil das Verhältnis zwischen einer möglichen Rechtsphilosophie und einer Grundlegung der Jurisprudenz als Geisteswissenschaft pointiert bestimmt wird. In der Folge möchte ich die Kapitel 12 und 13 des ersten Buchs der "Einleitung in die Geisteswissenschaften", welches eine eigentliche Rechts- und Staatslehre enthält, verkürzend darstellen. Um ein vorsichtiges Fazit vornewegzunehmen : Der Gedanke einer geisteswissenschaftlichen Grundlegung der Jurisprudenz bedeutet zugleich eine Anerkennung einer weitestgehenden S e l b s t ä n d i g k e i t d e r R e c h t s - u n d S t a a t s - w i s s e n s c h a f t ; es gilt letztlich, den juristischen Positivismus mit der geisteswissenschaftlichen Grundlegung der Jurisprudenz zusammenzudenken.
93Ausgangspunkt der Behandlung des Rechts ist die Feststellung, dass die Individuen die Systeme des gesellschaftlichen Lebens mit Leben erfüllen. Das Recht ist ein auf das
Rechtsbewusstsein gegründeter Zweckzusammenhang und fasst die ä u s s e r e O r g a n i s a t i o n d e r G e s e l l s c h a f t und die S y s t e m e d e r K u l t u r in einer ungesonderten Einheit
zusammen; So steht das Recht gleichberechtigt neben der Kulturleistung des Systems der Sittlichkeit. Dilthey übt Kritik an der Figur eines aus dem Zweckzusammenhang des Rechts fliessenden Gesamtwillens und betont stattdessen die zusammengesetzte Genese des Rechts :
"Es wirken in der Rechtsbildung der Gesamtwille, welcher Träger des Rechtes ist, und das Rechtsbewusstsein der einzelnen zusammen. Diese einzelnen sind und verbleiben lebendige rechtbildende Kräfte; auf ihrem Rechtsbewusstsein beruht die Gestaltung des Rechtes einerseits, während sie andererseits von der Willenseinheit, die sich in der äusseren Organisation der Gesellschaft gebildet hat, abhängt. Das Recht hat daher weder vollständig die Eigenschaften einer Funktion des Gesamtwillens noch vollständig die eines Sstems der Kultur. Es vereinigt wesentliche Eigenschaften beider Klassen von gesellschaftlichen Tatsachen".94
Die Stellung des Rechts zur äusseren Organisation der Gesellschaft fasst Dilthey so auf, dass das Recht beziehungsweise die V e r f a s s u n g a l s R a h m e n o r d n u n g der Willenseinheit eingesetzt ist.
"Der Staat erfüllt nicht etwa durch seine Willenseinheit eine Aufgabe, die sonst weniger gut durch Koordination von Einzeltätigkeiten besorgt würde : er ist die Bedingung jeder solchen Koordination.
[...] Sonach ist das R e c h t eine F u n k t i o n d e r ä u s s e r e n O r g a n i s a t i o n der Gesellschaft. Es hat in dem Gesamtwillen innerhalb dieser Organisation seinen Sitz. Es misst die Machtsphären der Individuen im Zusammenhang mit der Aufgabe ab, welche sie innerhalb dieser äusseren Organisation gemäss ihrer Stellung in ihr haben".95
Die nachfolgenden Überlegungen Diltheys zum Zweckzusammenhang des Rechts sind
nahe verwandt mit dem A u f w e i s d e r i n t r i n s i s c h e n Z w e c k m ä s s i g k e i t a l l e n
R e c h t s durch R
UDOLF VONI
HERINGin dessen Monographie "Zweck im Recht",
96deren
zweiten Band Dilthey wohl aber nie zur Kenntnis genommen hat (jedenfalls finden sich keine Indizien dafür). Der Zweck ist auch bei Dilthey die kulturelle Implikation der Sittlichkeit :
"Es bildet sich in der Gesellschaft ein selbständiges System der Sittlichkeit aus. Neben dem des Rechtes, das auf den äusseren Zwang angewiesen ist, reguliert es mit einer Art von innerem Zwang das Handeln. Und die Moral hat sonach in den Geisteswissenschaften nicht ihre Stelle als blosser Inbegriff von Imperativen, der das Leben des einzelnen regelt, sondern ihr Gegenstand ist eines der grossen Systeme, welche im Leben der Gesellschaft ihre Funktion haben. / An den Zusammenhang dieser Systeme, welche in direkter Weise Zwecke verwirklichen, die in den Bestandteilen der menschlichen Natur angelegt sind, schliessen sich die Systeme von Mitteln, welche in dem Dienste der direkten Zwecke des gesellschaftlichen Lebens stehen. [...] / Diese Systeme erlangen in der Gesellschaft vermöge der beständigen Anpassung einer Einzeltätigkeit in ihnen an die andere sowie vermöge der einheitlichen Zwecktätigkeit der zu ihnen gehörigen Verbände eine allgemeine Anpassung ihrer Funktionen und Leistungen aneinander, welche ihrer inneren Beziehung gewisse Eigenschaften eines Organismus gibt. Die menschlichen Lebenszwecke sind Bildungskräfte der Gesellschaft, und wie vermittels ihrer Gliederung die Systeme auseinandertreten : bilden diese Systeme untereinander eine entsprechende Gliederung höherer Ordnung. Der letzte Regulator dieser vernünftigen Zwecktätigkeit in der Gesellschaft ist der Staat".97
Und weiter zum Zweck des Rechts mit Absicht auf eine entsprechende M o d i f i k a t i o n d e r N a t u r r e c h t s l e h r e :
"Der Zweckzusammenhang des Rechts hat besondere Eigenschaften, die aus dem Verhältnis des Rechtsbewusstseins zur Rechtsordnung fliessen. / Der Staat schafft nicht durch seinen nackten Willen diesen Zusammenhang, weder in abstracto, wie er in allen Rechtsordnungen gleichförmig wiederkehrt, noch den konkreten Zusammenhang in einer einzelnen Rechtsordnung. Das Recht wird in dieser Rücksicht nicht gemacht, sondern gefunden".98
Dilthey scheut sich nicht, das Paradox auszusprechen, dass dies "der tiefe Gedanke des Natur- rechts" sei.
In der Bestimmung des V e r h ä l t n i s s e s z w i s c h e n R e c h t s - u n d S t a a t s w i s - s e n s c h a f t e n geht Dilthey davon aus, dass eine "relative Selbständigkeit der ersteren"
gekoppelt ist mit einer wechselseitigen Abhängigkeit : "jeder Begriff in jenen kann nur vermittels der Begriffe in diesen entwickelt werden und umgekehrt".
99"Das Recht ist Selbstzweck. Das Rechtsbewusstsein wirkt im Vorgang der Entstehung und
Aufrechterhaltung der Rechtsordnung mit den organisierten Gesammtwillen zusammen. Denn es ist Willensinhalt, dessen Macht in die Tiefe der Persönlichkeit und des religiösen Erlebnisses
zurückreicht. [...] Die Tragweite der Tatsachen der Rechtsüberzeugungen und der mit ihnen
verbundenen elementaren psychischen Regungen, des Gewohnheitsrechts, des Völkerrechts kann nur so weit reichen, die Existenz eines Bestandteils in der menschlichen Natur zu erweisen, auf welchem der Charakter des Rechts als eines Selbstzwecks beruht".100
Die P o s i t i v i t ä t v o n R e c h t u n d V e r f a s s u n g bleibt demnach eine r ü c k g e - b u n d e n e a n d a s R e c h t s l e b e n ; dies weil die Objektivierung der Systeme der Kultur immer nur teilweise erfolgt. Insgesamt erinnert diese Position an die Erklärung des Wesens des Rechts aus Lebenserscheinung, Lebensbestimmung und Lebenswertung bei E
UGENH
UBER101und an dessen Herausstellung von "R e a l i e n d e r G e s e t z g e b u n g ".
102Bei diesen Realien handelt es sich um anthropologische, realistische und geschichtliche, also nicht nur um "Realien", sondern gewissermassen auch um "Kulturalien". Kennzeichen einer solchen Behandlung des Rechts und der Verfassung ist, dass sich das Denken nicht von I n s t i t u t e n u n d
I n s t i t u t i o n e n her bestimmen lässt, sondern den Gesamtzusammenhang der Kulturleistungen im Blick behält; in dieser Hinsicht vorbildlich die eigentliche
"Verfassungsgeschichte" W
ILLIAME. R
APPARDSunter dem Gesichtspunkt der individuellen
Freiheit vis-à-vis der staatlichen Rechtsordnung und den verfassungsmässigen Rechten, die, gerade weil sie nicht nach den üblichen institutionellen Kriterien verfährt, eine veritable
"G e s c h i c h t e d e r F r e i h e i t " ist.
103***
Ein lebensphilosophischer Zugang zu den Problemen der Konstitution einer positiven Ver- fassung zeigt, dass deren W e r t i n h o h e m M a s s v o m V e r f a s s u n g s l e b e n o d e r d e r G e s a m t v e r f a s s u n g im Sinn der in einer politischen Gemeinschaft praktizierten Regeln in der Auseinandersetzung um die Verrechtlichung von Vertrauenserwartungen
v o r g e g e b e n wird. Damit wird das Augenmerk auf die Tatsache gelenkt, dass der Gesellschaft selbst bereits eine eigene Normativität innewohnt, dass Normativität notwendig auf eine
Normalität, die Norm auf eine Regelhaftigkeit bezogen ist und bleibt. Dies erkannt zu haben, ist das Verdienst der existenzialistischen praktischen Philosophie etwa von K
ARLJ
ASPERS,
104dann aber vor allem von P
IETROP
IOVANI, einem Neapolitaner Philosophen. In seinem Buch
"Normatività e società" von 1949 hat dieser solche Normativität als Massgabe beschrieben, der d e r G e s e l l s c h a f t i n t r i n s i s c h e n N o r m a t i v i t ä t eine Orientierungsfunktion
zugesprochen und das Prinzip der Normativität apriorisch erklärt;
105Normativität ist gerade auch bei Fehlen eines metaphysischen Bezugspunkts, unter der Voraussetzung des moralischen
Pluralismus, nicht nur denkbar und möglich, sondern tatsächlich und gewiss.
These 5 : D e r G e m e i n s c h a f t w o h n t e i n e n o r m a t i v e S t r u k t u r i n n e , d i e i n R e c h t s o r d n u n g u n d V e r f a s s u n g o b j e k t i v i e r t e r s c h e i n t ; d i e A n w e n d u n g d e s R e c h t s k a n n d e s h a l b a l s A r t i k u l a t i o n d e r i m E i n z e l f a l l g e l e g e n e n N o r m a t i v i t ä t v e r s t a n d e n w e r d e n , D e d u k t i o n u n d S y l l o g i s m u s ( D o g m a t i k ) s t e h e n v o r a l l e m i n B e z i e h u n g z u r S y s t e m - u n d B e g r i f f s b i l d u n g .
Das existenzialistische Gebot, bei Piovani gerade im Hinblick auf die praktische und auf die Rechtsphilosophie hin formuliert,
106heisst, dass nicht in Kategorien der Objektivität, der
Positivität, in Universalien, Realien und Abstraktionen gedacht werden darf, sondern P r o z e s s e d e r O b j e k t i v a t i o n , P o s i t i v i e r u n g , U n i v e r s a l i s i e r u n g , R e a l i s i e r u n g u n d A b s t r a k t i o n beschrieben werden müssen, dies mit Rücksicht auf die Subjektivität der Werturteile, auf die Partikularität der Geltungsansprüche und auf das Konkretisierungserfordernis von Regeln.
107Erst so kann es gelingen, dem Individualismus gerecht zu werden und das
bedeutet, die Beziehung des Theoretischen auf die Dimension der Praxis philosophisch fassen.
Dabei wird der Relativismus wie von selbst aufgehen in der Applikation und aufgehoben sein im U m s c h l a g e n v o n P r a x i s i n d i e T h e o r i e .
108So wird letztlich auch der Gegensatz zwischen universalistischem Geltungsanspruch und dem Faktum des Pluralismus fallen.
Die Auffassung der V e r f a s s u n g a l s e i n e r A r t i k u l a t i o n d e r i n d e r p o l i - t i s c h e n G e m e i n s c h a f t f u n k t i o n i e r e n d e n S p i e l r e g e l n ist angewiesen auf eine p h i l o s o p h i s c h e D u r c h d r i n g u n g d e r M o d a l i t ä t e n d e r O b j e k t i v i e r u n g d e s f l u k t u i e r e n d e n L e b e n s i n S y s t e m e d e r K u l t u r ,
109was ein Problem der geisteswissenschaftlichen Logik ausmacht. Beiträge dazu sind jedoch spärlich und auffallend diffus, wo es sich nicht gerade um zeichentheoretische Ansätze handelt. H
ANSF
REYERetwa hat die Einheitsbildung von Gefügen der Kultur zu objektiven Formen untersucht und die These vertreten, die V e r f a s s u n g o b j e k t i v i e r e d e n S t a a t z u m " r e i n e n G e b i l d e " , z u e i n e r K a t e g o r i e d e s " o b j e k t i v e n G e i s t e s " :
"Die Überwindung des Stils durch den Staat ist ein geschichtlicher Vorgang, in dem der Stil auf der negativen Seite steht: er vergeht darin. Die Überwindung des Gesetzes im Staat aber ist ein ewiger