ARGUMENTE
AUS D E R FORSCHUNG
FACHBEREICH WISSENSCHAFT
LICHE DIENSTE Ruhe nach dem Sturm?
Oekosystemforschung auf Sturmschaden
flächen
Gruppe Vegetation und Waldreservate Beniamin Stöckli
Der Orkan Vivian hat viele Bäume im Schweizer Wald entwurzelt. Die Aufräumarbeiten und der Transport des Sturmholzes kosten oft mehr, als für das Holz bezahlt wird. Aus Furcht, dass sich Borkenkäfer in den ge
worfenen Bäumen massenhaft vermehren könnten und den Wald dann zusätzlich in Gefahr bringen, wurde trotzdem aufgeräumt. Viele kahlgefegte Waldpartien sind inzwischen bereits mit jungen Bäumen bepflanzt worden. Auf zwanzig verwüsteten Waldstücken liess man aber alles so liegen, wie der Wind es hingeworfen hat. Dort untersuchen Wissenschafter von der Eidge
nössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, wie die Natur nach einer Katastrophe das Gleichgewicht alleine wiederfindet.
■
Orkane wie Vivian sind keine seltenen Ereignisse. Immer wieder reissen Stürme Lücken in unsere Wälder. Letzten Sommer zerstörten hef
tige Gewitterböen im Mittelland grosse Waldge
biete. Bäume ohne Kronen, umgestürzte oder zersplitterte Stämme hat das Unwetter auch diesmal hinterlassen.
Wiederbewaldung von Sturmschadenflächen
■
Bisher wurden die meisten Sturmschadenflächen unter grossem Einsatz geräumt. Waldarbei
ter sind wochenlang damit beschäftigt, ver
letzte Bäume zu fällen, zu entasten und abzu
transportieren - keine ungefährliche Arbeit, denn ein gesplitterter Baum verhält sich oft unberechenbar. Wo es keine Wege gibt, werden mobile Seilkrananlagen oder sogar Helikopter eingesetzt. Sind die Flächen einmal geräumt, werden etwa drei Jahre alte Bäumchen ange
pflanzt. Die Sanierung der Sturmschadenflächen
ARGUMENTE
AUS D ER F ORSCHUNG
Die obersten Bäume dieser Sturmschadenfläche im Tritttal liegen auf 1400 Meter ü. M.
und sind erst nach längerem Marsch zu erreichen. Die Kraft
werke Oberhasli AG ermöglicht es den Forschern, ihre Geräte per Seilbahn in die Höhe zu bringen.
wird zum grossen Teil von der Öffentlichkeit subventioniert.
■Die natürliche Verjüngung des Waldes auf nicht geräumten Sturmschadenflächen wäre eine Alternative. Einiges spricht dafür. Das lie
gengelassene Sturmholz belastet den strapa
zierten Holzmarkt nicht noch zusätzlich. Die Waldbesitzer müssten keine Einbussen wegen ho
her Holzbringungskosten und tiefer Erlöse aus dem Holzverkauf befürchten. Darüber hinaus sind Bäume, die aus natürlicher Ansamung her-
ARGUMENTE
AUS DE R F ORSC HUNG
Die Forscher untersuchen zum Vergleich auch besondere Si
tuationen wie auf der T eilflä
che 2 im Grappliwald am Ober
see, wo das Holz zwar zersägt und entastet, aber nicht ab
transportiert wurde, weil der Abtransport per Seilbahn zu aufwendig gewesen wäre.
�
vorgegangen sind, an die Tücken ihrer Umwelt besser angepasst und widerstandsfähiger als Jungpflanzen aus Baumschulen. Dem halten Kri
tiker der Naturverjüngung entgegen, dass sich der Keimling in der Baumschule geschützt opti
mal entwickeln kann und die kleinen Bäume be
reits einen mehrjährigen Wachstumsvorsprung haben, wenn sie gepflanzt werden. Die Wieder
bewaldung gehe demnach rascher voran. Anderer
seits muss die Natur für ihre Bemühungen nicht bezahlt werden.
■
Obwohl einige Waldbesitzer schon Erfahrungen mit der Wiederbewaldung von Sturmschadenflächen haben und mit wenig Aufwand stabile Wäl
der begründen, ist es noch eine Glaubensfrage, welche Strategie die bessere ist. Genaue Un-•
tersuchungen fehlen hier. Bis jetzt wurde auch erst in wenigen Fällen auf grösseren Flächen alles Holz liegengelassen. Für eine optimale Wiederbewaldung ist es aber wichtig zu wissen, welchen Einfluss liegengelassenes Holz auf die Keimung und Verjüngung der Bäume hat und auf welche Weise die natürliche Regeneration der Wälder vor sich geht. Dies wollen die Wissen-
ARGUMENTE
AUS D E R F ORSC HUNG
Umgeworfene Bäume bilden unterschiedlichste Nischen, die vielen Pflanzen und Tieren
Lebensraum bieten.
schafter von der Eidgenössischen Forschungsan
stalt für Wald, Schnee und Landschaft heraus
finden.
Was passiert, wenn Holz liegen bleibt?
■
Welchen Einfluss das liegengelassene Holz auf den Wald und seine Lebewesen hat, interessiert die Wissenschafter aber noch genauer. Im natürlichen Lebensrhythmus eines Waldes ist der Tod einzelner Individuen ganz selbstver
ständlich Vorläufer für neues Leben. Abgestor
bene Lebewesen bleiben im Wald liegen und die
nen einer reichen Tier- und Pflanzengemein
schaft als Lebensraum und Nahrungsbasis.
■
zunächst wollen die Forscher beschreiben, wie sich das Sturmholz im Laufe der Zeit verändert: Am Anfang ist es noch grün, dann
trocknet es aus, die Rinde blättert ab, bis es dann morsch wird und zerfällt. Parallel zu diesen Beobachtungen halten die Forscher die Entwicklung der Vegetation fest. Besondere Aufmerksamkeit wird auch der Vermehrung und Ausbreitung von Borkenkäfern geschenkt.
ARGUMENTE
AUS DE R F ORSCHUNG
Im Schutz umgeworfener Bäu
me gedeihen Jungpflanzen auf abgestorbenen, vermoderten Holzstücken prächtig. Das Wild kann die Knospen der versteck
ten Bäumchen nicht abfressen.
�
■
Das vermodernde Holz bietet je nach Zustand Insekten, Pilzen und Pflanzen, auch Baumkeimlingen, die unterschiedlichsten Lebensräume.
In einem späten Stadium, wenn das Holz weit
gehend zerfallen ist, reichert es den Boden mit Nährstoffen an.
■
Liegengebliebenes Holz verändert auch das Mikroklima am Standort. Die herumliegendenStämme, Wipfel und Äste bieten Schatten, mil
dern austrocknende Winde und schützen vor Frost. Gerade Baumkeimlinge finden hier gute Bedingungen vor. Bleiben ganze Bäume verkeilt ineinander liegen, so bilden sie einen natür
lichen Schutz vor Lawinen und Rutschungen.
Der Wald besteht nicht nur aus Holz
■
Der Sturm hat nicht nur Bäume durcheinandergeworfen, sondern die Lebenswelt aller Orga
nismen im Wald verändert. Wildwechsel und Was
serläufe wurden unterbrochen, Schlafplätze sind zerstört und Höhlen abgedeckt. Für viele Pflanzen wird das überleben in der veränderten
ARGUMENTE
AUS DER FORSCHUNG �
Umgebung unmöglich: Wurzelteller trocknen aus und auf Schatten angewiesene Gräser stehen plötzlich in der Sonne. Die freien Plätze wer
den allerdings rasch von neuem Leben besie
delt. Die Umstellungen als Ganzes brauchen aber längere Zeit und können nur durch genaue, systematische und regelmässige Beobachtungen erfasst werden. Dabei ist es äusserst wichtig, dass sich dieselben Wissenschafter immer wie
der mit dem gleichen Objekt beschäftigen, da bei guter Beobachtungsgabe vieles im Gedächt
nis haften bleibt, was zunächst nicht als in
teressant angesehen und deshalb nicht notiert worden ist. Oft lassen sich erst im Verlaufe längerer Beobachtungen grundlegende zusammen
hänge erkennen. Das Erfassen der Tierwelt so
wie des Zusammenwirkens der Tiere und Pflanzen braucht Ruhe und Einsamkeit. Zuviele Wissen
schafter auf einer Versuchsfläche stören die Tiere und zertreten den Waldboden. Sind nur wenige Menschen am gleichen Ort intensiv be
schäftigt, können Veränderungen durch den Un
tersuchungsbetrieb noch als solche erkannt werden.
Wiederbewaldung auf Sturmschadenflächen - ein Projekt braucht viele Helfer
■
Das Projekt läuft jetzt seit knapp zwei Jahren. An seiner Planung und Durchführung sind eine Reihe von Partnern beteiligt. Dank dem Einverständnis der Waldbesitzer mit diesen Versuchsflächen und ihrem mutigen Entscheid, nichts zu verändern, konnten die Untersuchungen überhaupt erst in Angriff genommen wer
den. Die Wissenschafter der WSL werden zudem
ARGUMENTE
AUS DE R F ORSCHUNG
Junge Bäume und Pflanzen sind den unterschiedlichsten Bedingungen ausgesetzt, je nachdem, ob sie auf einer kahlen Fläche oder im Wald aufwachsen:
A) Auf einer freien Fläche, wie zum Beispiel auf einer Bestan
deslücke nach einem Holz
schlag, fällt direktes Sonnen
licht während Stunden unun
terbrochen und ungehindert auf den Boden. Es herrschen am Mittag hohe Temperaturen.
Das Licht fördert das Wachs
tum, doch gleichzeitig trocknet die Hitze den Boden und die Pflanzen aus. Das Licht kann darum nur zum Teil für das Wachstum genutzt werden.
B) Im Bestandesinneren hinge
gen ist das Lichtangebot stark reduziert. Ein feines Mosaik von direktem Sonnenschein wandert den ganzen Tag über den Boden. Viele Stellen erhal
ten auch nie direkte Sonnenein
strahlung. Das Angebot an indirektem, diffusem Licht ist wichtiger. In einem Laubwald ist im Frühling die Einstrahlung auf den Boden höher als nach dem Laubausbruch.
C) In einer Windwurffläche mit liegengelassenen Bäumen sind die Verhältnisse in den ersten Jahren ähnlich wie im Bestand, da die Äste die Nadeln noch einige Zeit behalten. Mit der Zeit fallen nicht nur die Nadeln, sondern auch kleinere Äste ab.
Dann werfen nur noch die Stämme grosse Schatten
flecken auf den Boden, die sich im Verlauf des Tages umso weniger verschieben, je näher die Stämme am Boden sind.
Auch die Steilheit und die Ausrichtung des Geländes beeinflussen das Wachstum der jungen Bäume und anderer Pflanzen.
�
ARGUMENTE
AUS D E R F ORSC HUN G �
Am Projekt beteiligte Waldbesitzer und Forstdienste:
- Alpkorporation Selun
- Oberallmeind-Korporation Schwyz - Ziegenzuchtgenossenschaft Meiringen - Kreisalpenkorporation Krummenau-Nesslau - Alpkorporation lltios
- Stiftung "Zentrum der Einheit" Schweibenalp - Schweizerischer Bund für Naturschutz - Tagwen Näfels
- Privatwaldbesitzer: Erbengemeinschaft Kehrli und Herren W. Kehrli, H. Jungen, F. Jungen, U. Grossen
- Gemeinden: Buchs, Alt St. Johann, Krummenau, Stechelberg, Gad
men, Frutigen, Brienz, Näfels, Disentis, Schwanden, Obersaxen, Trun - Kantone: St. Gallen, Bern, Graubünden, Glarus und Schwyz
Die Kraftwerke Oberhasli AG unterstützte die Arbeiten auf der Ver
suchsfläche Trifttal.
von den jeweiligen Gemeinden und Forstämtern, der ETH und der Eidgenössischen Forstdirektion sowie zwei Diplomanden der Universität Bern unterstützt.
■
Mit den einzelnen Waldbesitzern wurden langfristige Verträge abgeschlossen. Sie konnten zum Teil mit Subventionen, die für die Behe
bung der Sturmschäden vorgesehen sind, ent
schädigt werden . Den grössten Teil der Pro
jektkosten trägt allerdings die Eidgenössische Forstdirektion in Bern.
■
Die Ergebnisse des Projektes sollen nicht nur in wissenschaftlichen Studien festgehalten und in den Archiven der Forscher abgelegt werden. Im Erfahrungsaustausch mit Waldeigentü
mern, Förstern und Naturschützern wollen die Wissenschafter ihre Erkenntnisse weitergeben.
ABGU IVI ENTE
A U S D E R F ORSCH U NG
Sturmschadenforschung Schweiz
,,: 1
·, 1
"
•,;-·
c,/./ �) i
/
Projekt Dauerbeobachtung von Sturmschadenflächen Im Gebirgswald
.Ä. ab 1 991/92 bearbeitete Objekte 6-ab 1 993 zugesicherte, zusätzliche Objekte ♦ Objekte des Rahmenprojektes Schadenflächen mit Massnahmen
Auch Künstler lassen sich zur Zeit vorn Thema Natur und Naturgewalten anregen. Bilder könn
ten helfen, die Schönheiten und die urtümliche Kraft eines wild durcheinandergeworfenen Wal
des für viele Menschen verständlich und er
kennbar zu· machen. Die neuartige Bewältigung von Naturkatastrophen erfordert eine intensive gedankliche und gesellschaftliche Auseinander
setzung. Interessierten wird auf Exkursionen die Gelegenheit geboten, sich über den Stand der Untersuchungen zu informieren . Die Ver
suchsflächen werden auch noch nach Jahrzehnten Waldeigentümern, Förstern und Naturschützern die Unterschiede zwischen verschiedenen Stra
tegien der Wiederbewaldung vor Augen führen.
Benjamin Stöckli, dipl. Forstingenieur ETH, leitet die forstwissenschaftlichen Arbeiten für das Projekt "Dauer
beobachtung von Sturmschadenflächen im Gebirgswald". Er ist Mitarbeiter der Gruppe "Vegetation und Waldreservate" unter der Führung von Dr. Nino Kuhn an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Birmensdorf.