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Archiv "„Euthanasie“-Verbrechen: Jedes Opfer hat seine eigene Geschichte" (14.03.2008)

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A580 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 1114. März 2008 Dr. Reinhard N. bringt seine Schwes-

ter Elfriede 1927 in die brandenbur- gische Landesanstalt Görden. Sie ist 34 Jahre alt, sehr zart, eine intelli- gente und gebildete Frau, die gele- gentlich Stimmen hört, suizidge- fährdet ist und aggressiv sein kann.

Das vor allem, wenn sie nach Hause möchte. Friedlich gibt sie sich immer, wenn der Bruder zu Besuch kommt.

Das tat er vier Jahre lang, bis 1931.

Reinhard machte damals schon Kar- riere in der NSDAP und stieg später zum Justizrat und Präsidenten der Reichsrechtsanwaltskammer auf. Ei- ne Schwester in der Anstalt störte da.

1938 wird in Görden Platz ge- schaffen für Patienten aus der aufge- gebenen Anstalt Potsdam. Elfriede wird nach Landsberg an der Warthe verlegt. Sie fragt immer noch nach dem Bruder, doch der hat längst den Kontakt abgebrochen. Im Oktober 1940 kommt sie nach Teupitz, eine

„Zwischenanstalt“. Drei Monate

später wird sie mit 70 anderen Frau- en nach Bernburg transportiert, hier, in der Tötungsanstalt, wird sie um- gebracht, eines der Opfer von T 4.

T 4 steht für die Berliner Tiergar- tenstraße 4, wo 1940/41 die „Eu- thanasie“ von Geisteskranken und Behinderten vom Schreibtisch aus organisiert wurde. 70 000 Patienten fielen der Aktion zum Opfer, weit mehr noch kamen in den folgenden Jahren durch Verhungern und Medi- kamente („Luminalschema“) um, insgesamt wohl rund 300 000.

Solche Zahlen schreiben sich schnell dahin. Die Tötungsmaschi- nerie wurde schon oft beschrieben und ist immer noch Gegenstand his- torischer Aufarbeitung. Wer aber ermisst die Schicksale, Ängste und Leiden der Menschen, die hinter den Zahlen stecken? Es hapert an der

„inneren Übersetzung des Zahlen- materials“, heißt es im Geleitwort dieses Buchs. „Die psychisch kran- ken und geistig behinderten Men- schen (finden) in der öffentlichen Diskussion der nationalsozialisti- schen Verbrechen kaum Beachtung“

(Einführung). Dieser Satz von Harald Welzer, bezogen auf den wissen- schaftlichen Umgang mit dem Holocaust, gilt erst recht für den Umgang mit den Psychiatrieopfern:

„Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst.“

Die Autoren des gleichnamig beti- telten Buchs wollen dem entgegen- wirken, indem sie den Opfern ihre Stimme geben; sie versuchen, aus den Krankenakten Lebensläufe nicht nur zu rekonstruieren, son- dern durch Erzählen leben- dig werden zu lassen. Das gelingt überraschend gut, wenn man bedenkt, wie sporadisch die Krankenge- schichten der mehr „ver- wahrten“ als therapierten Patienten geführt wurden.

Die Wissenschaftler, die zu Erzählern wurden, verbin- den ihr Hintergrundwissen über die Zeit und die Orga- nisation von T 4 mit Ein-

fühlung in die aktenkundigen Bio- grafien und stellen so die Individua- lität des Einzelnen wieder her. 23 sol- cher Biografien sind in dem Lese- buch versammelt. Dazu kommen fünf Aufsätze; zwei behandeln die NS-„Euthanasie“, drei die Methode der biografischen Aufarbeitung.

Das Buch entstand aus einem Projekt der Psychiatrischen Univer- sitätsklinik und des Instituts für Ge- schichte der Medizin der Univer- sität Heidelberg. Dabei wurde eine Stichprobe von 3 000 T-4-Akten ausgewertet, ursprünglich in der Absicht, Näheres über die Abläufe von T 4 zu erfahren, doch drängte es die Bearbeiter zunehmend, auch den Opfern gerecht zu werden.

Das Schicksal der T-4-Akten ist eine Geschichte für sich: Sie galten lange als vernichtet. Die Tiergarten- straße 4 war im Krieg zerstört wor- den. Nach der Wiedervereinigung tauchten in der Zentrale des Minis- teriums für Staatsicherheit (MfS) überraschend 30 000 Akten auf. Das MfS hatte die Akten vermutlich ge- nutzt, um gegen einzelne Täter belas- tendes Material in der Hand zu ha- ben, denn die Stasi trug in den 60er- Jahren gezielt Belastungsmaterial gegen einzelne mutmaßliche Täter zusammen, verwertete es in einzel- nen Fällen auch, schloss anderes hingegen weg. Die bei der Wende aufgefunden Akten waren in desola- tem Zustand; sie wurden, auch mit- hilfe der Ärzteschaft, aufgearbeitet und stehen heute im Bundesarchiv Berlin als „Bestand R 179“ bereit.

Auf dem Gelände der Tiergarten- straße 4 liegt heute die Berliner Phil- harmonie. Eine Gedenkplakette im Bürgersteig erinnert an T 4. Zurzeit parkt daneben ein grauer Bus, aus Zement gegossen, ein Denkmal von Horst Hoheisel und Andreas Knitz.

Der Betonklotz wird von Zeit zu Zeit mit einem Tieflader durch die Lande gefahren und vor den Orten der Tat abgestellt. Im Original eines solchen Busses fuhr 1941 auch El- friede in den Tod. Norbert Jachertz Petra Fuchs, Maike Rotzoll, Ulrich Müller, Paul Richter, Gerrit Hohendorf (Hrsg.):

„Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“.

Wallstein Verlag, Göttingen, 2007, 392 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, 29,90 Euro

M E D I E N

„EUTHANASIE“-VERBRECHEN

Jedes Opfer hat seine eigene Geschichte

Ort des Gedenkens:Wo früher in der Berliner Tiergartenstraße die „Euthanasie“

organisiert wurde, erinnert heute ein Gedenkstein an die NS-Morde.

Foto:Picture Alliance/Doris Spiekermann-Klass

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