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Alltag, Technik, Medien

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Academic year: 2022

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Hermann Bausinger Alltag, Technik, Medien*

Alltagskultur fiel lange Zeit durch das Sieb der wissenschaftlichen Disziplinen:

F ü r die etablierten Kulturwissenschaften war sie zu banal, für die Volkskunde war sie nicht urtümlich genug, und sie paßte auch nicht in das Tableau pittoresker Arte- fakte, zu dem die Volkskundler die Volkskultur gerinnen ließen. D i e Soziologie schließlich gewann nach Simmel nie mehr die konkrete Lebensnähe zurück, kon- zentrierte sich vielmehr überwiegend auf Institutionen und von der Alltagswelt abgehobene Sozialsysteme. Seit einigen Jahren aber hat A l l t a g eine z i e m l i c h be- ständige H o c h k o n j u n k t u r in der Wissenschaft. A u f dem U m w e g über die A n r e - gungen amerikanischer und französischer A n t h r o p o l o g e n wurde die lebenswelt- liche Philosophie (in der Tradition von E d m u n d Husserl und A l f r e d Schütz) wie- derentdeckt. D i e weitaus meisten A r b e i t e n , in denen A l l t a g z u m T h e m a gemacht wird, versuchen sich denn auch an sehr prinzipiellen Entwürfen z u m Verständnis v o n Alltagswelt und Alltagsbefindlichkeit; sie zielen auf A l l t a g als eine generelle Bedingungsstruktur gelebten Lebens, als universales Gerüst menschlicher K o m - munikation.

Allmählich aber reden auch mehr und mehr Empiriker v o m A l l t a g . Was sich vor allem durch seine Unauffälligkeit auszeichnet, wird seit einigen Jahren in auffal- lende Beleuchtung gerückt: Alltagsbewußtsein, Alltagswissen, Alltagskultur, Alltagsverhalten. Die Begriffe bedeuten nicht alle das G l e i c h e , u n d ein und das selbe Wort wird oft in recht verschiedenartigen Zusammenhängen gebraucht. A b e r im allgemeinen wird d o c h ein D e n k e n und H a n d e l n anvisiert, das keiner rationalen Prüfung und Planung unterliegt, das vielmehr ,einfach so' vonstatten geht. Damit klingen auch die kritischen Unter- und Obertöne schon a n : A l l t a g ist ein Bereich, der sich zwar m a n c h m a l mit dem M a n t e l des, gesunden Menschenverstandes' zu tarnen weiß, der sich aber vernünftigem H a n d e l n oft versperrt und der sich nicht leicht ,hinterfragen' läßt. A l l t a g : das ist die an der Oberfläche weiche, tatsächlich aber kaum verrückbare Struktur der Trägheit - eine Blockade gegen jeglichen tiefergreifenden Wandel.

In der Analyse des Alltags hat denn auch lange die negative Seite vorgeherrscht:

von der Bornierung sprach m a n , die dem M e n s c h e n verbietet, die Verhältnisse und sein D e n k e n zu ändern. Übersehen wurde dabei die Unerläßlichkeit solcher Ent- lastungen, die Tatsache, daß A l l t a g in diesem spezifischen Sinn die Sicherheit der Abläufe garantiert. H a r o l d Garfinkel hat dieses Doppelgesicht in seinen K r i s e n - experimenten immer wieder z u m Vorschein gebracht und hat gezeigt, wie sehr wir in der K o m m u n i k a t i o n auf das Mc/ii-hinterfragen angewiesen sind - das konti- nuierliche Hinterfragen gerinnt ja auch seinerseits sehr oft z u m Dauerritual! - und wie die scheinbar irrationalen Abläufe eben d o c h ihren stabilisierenden Sinn, ihre strukturierende F u n k t i o n haben.1

E i n Beispiel v o n G a r f i n k e l , leicht modifiziert: E i n M a n n k o m m t nach Hause.

Seine Frau fragt i h n : „Was möchtest Du essen?" Er sagt: „Am liebsten gar nichts"

und setzt sich hinter seine Zeitung. Faßt m a n das als rationale Äußerung, dann müßte die Frau jetzt den Kochlöffel weglegen und etwas anderes tun. Sie rührt aber weiter in der Suppe, nach kurzer Zeit trägt sie das Essen auf, und der M a n n ißt mit 60

großem Appetit. Es liegt auf der H a n d , daß sich nicht etwa innerhalb weniger M i n u t e n sein Eßbedürfnis grundlegend verändert hat; vielmehr war mit der vor- ausgegangenen Äußerung wohl ungefähr gemeint: Laß m i c h bitte in R u h e , i c h will jetzt nicht diskutieren. . . Das ist ein Beispiel dafür, wie der Sinn gewissermaßen im A b l a u f selber steckt. D e r Routine liegt ein Element des Vertrauens zugrunde, und die Äußerungen haben einen ganz anderen Sinn, die Wörter haben andere B e d e u - tungen als die vordergründig faßbaren. Es gibt eine spezifische Semantik des Alltäglichen.

Dies betrifft - dies sei im Vorgriff gleich festgestellt - nicht nur die direkte K o m - munikation, sondern auch die Medienrituale. An drei kurzen Beispielen mag dies angedeutet werden.

Es k o m m t immer wieder einmal vor, daß Zeitungen ausfallen, daß sie morgens nicht ausgeliefert werden. D i e Zeitungsverlage erhalten dann eine Fülle v o n Rück- fragen und protestierenden A n r u f e n , die sie sehr erfreut registrieren, weil sie darin die Wichtigkeit ihrer Produkte bestätigt sehen. Das ist sicher nicht falsch. A b e r eine andere Frage ist, ob es dabei tatsächlich um die fehlenden Inhalte der Zeitung geht, ob es nicht vielmehr so ist, daß die Leute die Zeitung vermissen, weil die Zeitung z u m Alltag und zur Alltagsroutine gehört, weil das Lesen der Zeitung beweist, daß morgens um sieben die Welt n o c h in Ordnung ist: Zeitung also als eine A r t Bestätigungsmarke. Sicherlich strahlt dies auch aus auf die Rezeption v o n Inhalt und Struktur der Zeitung. M a n hat gelegentlich gesagt, es gebe nichts Älteres als eine Zeitung v o n gestern; die Frage ist, ob nicht Zeitungen von vorgestern oder vorvorgestern vielen Leuten ohne große Schwierigkeiten unterzujubeln wären und von ihnen akzeptiert würden. Aktualität scheint nicht nur reales Element der In- halte zu sein, sondern auch Bestandteil der ritualisierten Erwartungs- und Perzep- tionsstruktur.

Zweites Beispiel: Eine Frau erzählt, befragt über das Fernsehverhalten in ihrer F a m i l i e : „Nee, einig sind wir uns nicht. Freitags z u m Beispiel - er sieht oft spät n o c h den Sport, ich will den Spielfilm sehen im andern Programm. U n d manchmal schalt' i c h dann schon um halbelf U h r , n o c h vor den N a c h r i c h t e n , ins Dritte, wo irgendein Vortrag läuft. D a n n guckt er m i c h an und lacht, und wir gehen ins Bett miteinander." Der K n o p f d r u c k , der technisch ins Dritte Programm führt, zielt also realiter auf das Bett ( A n m e r k u n g d a z u : D i e K u r v e des deutschen Sexualverkehrs steigt am Freitag steil a n , was gelegentlich mit der erotischen Ausstrahlung des Kommissars erklärt wurde, was aber wahrscheinlich mehr mit Alltagsritualen, mit zeitlichen E i n b i n d u n g e n zu tun hat).

Drittes Beispiel - nochmals der Bericht einer F r a u : „Am frühen A b e n d sehen wir sehr wenig, höchstens wenn m e i n M a n n richtigen Ärger hatte, dann kommt er herein und sagt kaum was und schaltet den Apparat e i n . " N u n ist diese H a n d l u n g des M a n n e s zwar sicher direkter A u s d r u c k seiner psychischen Befindlichkeit, aber wiederum habitualisiert, routinisiert. U n d auch hier spielt die spezifische Semantik des Alltäglichen herein. D e r K n o p f d r u c k bedeutet nicht: „Ich möchte das sehen", er bedeutet w o h l eher: „Ich möchte nichts hören und sehen."

Ehe weitere Überlegungen z u m M e d i e n b e r e i c h angestellt werden, soll zunächst allgemeiner gefragt werden nach dem Verhältnis v o n A l l t a g und Technik. Dies ist ein T h e m a , das bisher weithin vernachlässigt wurde, auch v o n den Analytikern des Alltags. V e r m u t l i c h deshalb, weil m a n im A l l t a g , soweit er nicht gleich negativ eti- kettiert wurde, eher die Mystik der Nähe beschwören wollte: A l l t a g diesseits aller artifiziellen Hilfsmittel. A b e r das Technische ist ja d o c h in den A l l t a g integriert - schon längst, ja eigentlich v o n A n f a n g an. Schon Werkzeuge zeichnen sich da-

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Man steht heute etwas ratlos vor der bemühten Dämonie solcher Bilder. Bedenkt man, daß die damaligen Schienenungetüme Geschwindigkeiten v o n zwanzig oder dreißig Stundenkilometer hatten, dann wird die Veränderung der Wahrnehmung deutlich. A b e r diese Wahrnehmung hatte ihre weltanschauliche Garnierung. N o c h um die Jahrhundertwende war in vielen pietistisch geprägten Bürgerhäusern das Bild „Der breite und der schmale W e g " aufgehängt. A u f diesem B i l d ist die Eisen- bahn dem breiten Weg zugeordnet - ein Höllenfahrzeug gewissermaßen. Eine Erklärung des Bildes aus d e m Jahr 1866 schwächt zwar ab, verweist auch auf die andere Seite, stellt fest, daß die Eisenbahn „an sich eine gute und nützliche Erfin- dung ist, welche auch dem R e i c h e Gottes Vorschub leistet"; aber der A k z e n t wird dann d o c h eindeutig gesetzt: „Im großen G a n z e n dient sie j e d o c h mehr dem R e i - che des Antichrists zur Ausbreitung und hat viel Sünde im G e f o l g e , z. B. die Sonn- tagsentheiligung usw.".6

Die gleiche Tendenz zur A b s c h i r m u n g , also zur Auffassung des Technischen als einer unfaßbaren dämonischen Bedrohung, ließe sich auch in anderen Bereichen nachweisen. A b e r das ist d o c h nur die eine Seite. "Der Dampfwagen" wurde nicht von einem Lokomotivführer geschrieben, sondern von König L u d w i g , und die sich jenes B i l d in die W o h n u n g hängten, waren nicht Eisenbahnarbeiter, sondern Be-

sitzbürger. F ü r diejenigen, welche M a s c h i n e n benutzten, entwickelte sich eine A r t Potenzgefühl, entwickelten sich Aneignungseffekte. M a n kann diese als ideolo- gisch denunzieren, weil sie davon ablenkten, daß die M a s c h i n e n gerade nicht angeeignet wurden. Tatsächlich aber blieb dies w o h l durchaus im Bewußtsein lebendig; das Gefühl der M a c h t über die M a s c h i n e n bezog sich auf den direkten Umgang mit i h n e n , auf die unmittelbare Verfügung über sie.

M i t der Zeit bestimmte diese A n e i g n u n g generell das neue Verhältnis zur Technik:

eine Naturalisierung also, eine Einbürgerung. Der U m g a n g mit dem Technischen wurde mehr und mehr dadurch geprägt, daß es eben nicht mehr hinterfragt wurde, sondern daß m a n sich mit der Inszenierung der H e b e l und Knöpfe zufrieden gab - nur im F a l l von Pannen gab und gibt es Rückfälle, selbst in magisches D e n k e n .7 Verfolgt m a n die weitere, die jüngere E n t w i c k l u n g der Technik nicht im Sinne v o n Technikgeschichte, sondern mit Bezug auf den A l l t a g , dann ist w o h l die wesent- lichste Veränderung, daß sich eine unauffällige Omnipräsenz des Technischen herausgebildet hat. Zwar war auch schon die Generation unserer Großeltern mit Produkten der Technik versorgt, aber diese Produkte hatten kaum einen techni- schen A n s t r i c h ; die Dinge waren nicht selbst M a s c h i n e n - außer der Nähmaschine vielleicht, u n d diese wurde ganz normal mit den Füßen in Schwung gehalten, so daß sie heute gelegentlich als nostalgisches Möbelstück oder als gefährliches K i n - derspielzeug dient. Inzwischen hat sich nicht nur die Z a h l der Produkte überhaupt vervielfacht, sondern jedermann verfügt selber über einen kleinen Maschinenpark und hat unmittelbar mit technischen Produkten zu tun - v o m Staubsauger bis z u m Rasierapparat, v o m Plattenspieler bis z u m Rührgerät. A b e r all das fällt nicht auf, es durchdringt den A l l t a g , wird v o m Alltäglichen verschlungen und aufgezehrt. M a - schinen, technische Geräte, sind heute nichts mehr, an das m a n stößt, nichts mehr, das Abläufe vorführt - sie sind geglättet, verkleidet mit F a s s a d e n ; Technik ist absorbiert.

Mindestens bis in die Zeit unserer Großeltern h i n e i n dominierte das Mißtrauen gegen N e u e s ; es war Teil der Alltagssymbolik, die stabile Bezüge braucht, und es war Teil eines vernünftig-wirtschaftlichen Umgangs mit der Realität.8 Dieses M i ß - trauen gegen Neues bröckelt mehr u n d mehr ab, wird von der Flut der Innovatio- nen weggeschwemmt. Zu den F o l g e n solcher Beschleunigung zählt eine enthisto- durch aus, daß sie sehr schnell Prothesencharakter g e w i n n e n : M a n schlägt mit d e m

H a m m e r und mäht mit der Sichel, als seien sie Bestandteile des Körpers, und auch beim Autofahrer verschiebt sich die Innen-/Außengrenze v o n der Epidermis auf die Karosserie - sonst gäbe es sehr viel mehr Unfälle. N u n kann m a n einwenden, daß zumindest die einfachen Werkzeuge ja gerade nicht Technik in einem ausge- feilteren Sinn bedeuten. G i b t es nicht d o c h eine E n t w i c k l u n g , v o n der an Tech- nisches dem A l l t a g gegenübersteht und nicht mehr ohne weiteres integrierbar ist?

K a r l M a r x setzt im " K a p i t a l " die Trennlinie, die entscheidende qualitative Diffe- renz, zwischen manufakturieller und fabrikmäßiger Produktion und Maschinerie.

Schon die Entwicklung v o m Handwerk zur Manufaktur ist für M a r x ein deutlicher A b s t i e g : v o n der Geschicklichkeit zur Teilgeschicklichkeit. D i e allseitige G e - schicklichkeit des Handwerkers wird parzelliert, wird reduziert, aber sie wird noch nicht zerstört. D a n n aber k o m m t der für M a r x entscheidende Punkt: „Aus der lebenslangen Spezialität, ein Teilwerkzeug zu führen, wird die lebenslange Spezia- lität, einer Teilmaschine zu d i e n e n . "2 A u s einem aktiven Verhältnis wird also ein passiv-leidendes: „In Manufaktur u n d Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Farbrik dient er der M a s c h i n e . "3

D i e Trennschärfe der beiden Phasen soll hier nicht diskutiert werden. Jedenfalls kommt mit der maschinellen Technik eine neue Qualität ins Spiel. Tatsächlich han- delt es sich a u c h in der allgemeinen Einschätzung unter d e m Aspekt v o n Integra- tion oder Nichtintegration der Technik um einen qualitativen Sprung. W i r wissen darüber kulturgeschichtlich nicht sehr v i e l , aber i m m e r h i n gibt es gelegentlich A n m e r k u n g e n zu dem Thema. A l s Musterbeispiel kann die Auseinandersetzung mit der Frühzeit der Eisenbahnen gelten. D e r Kulturhistoriker W i l h e l m Heinrich R i e h l schreibt 1853, bei den Bauern habe „sich bereits ein Sagenkreis der Eisen- bahnen gebildet", und er gibt dann dafür Beispiele: „Viel verbreiteter Bauernglau- be ist es, daß die Eisenbahnen nach einer bestimmten Frist wieder plötzlich ver- schwinden würden, wie sie plötzlich g e k o m m e n seien; ihre Frist ist gleich der, welche der Teufel den Leuten vergönnt, die sich i h m z u m G e w i n n irdischer G e - nüsse verschrieben haben. Im Badischen geht die Sage, daß b e i m A n h a l t e n der Eisenbahnen an den größeren Stationen jedesmal Einer fehle, den der Teufel für seinen L o h n g e n o m m e n habe, u n d im Elsaß mußte im Jahr 1851 v o n den K a n z e l n wider den Eisenbahnaberglauben gepredigt w e r d e n . "4

N u n könnte sicherlich nur eine spezielle, alle Materialien verwertende Unter- suchung ermitteln, inwieweit solcher Bauernglaube nicht nur der Reflex auf eine gutbürgerliche u n d bis in Adelskreise hineinreichende Skepsis gegenüber den neuen technischen Hilfsmitteln war. Tatsache ist, daß sich auch in der Dichtung und M a l e r e i jener Zeit die Poesie des neuen Verkehrsmittels leicht mit seiner Dämonie vermischt. König L u d w i g I. von Bayern schrieb um die Mitte des 19. Jahr- hunderts ein reichlich holpriges G e d i c h t mit dem Titel "Der Dampfwagen".5 Darin heißt es:

Jetzo lösen im D a m p f sich auf die Verhältnisse alle, U n d die Sterblichen treibt jetzo des Dampfes G e w a l t , A l l g e m e i n e r G l e i c h h e i t rastloser Beförd'rer.

Vernichtet wird die L i e b e des Volkes n u n zu dem L a n d der Geburt.

Überall u n d nirgends d a h e i m , streift über die Erde Unstät so wie der D a m p f , unstät das Menschengeschlecht.

Seinen Lauf, den umwälzenden hat der Rennwagen begonnen Jetzo erst, das Ziel lieget dem B l i c k e verhüllt.

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risierte Auffassung von Technik - das hohe Tempo verbietet paradoxerweise, daß sie in Vergleichen registriert w i r d : es ist wie bei einem sich drehenden R a d , das von einer bestimmten Geschwindigkeit an für den Betrachter still zu stehen scheint.

Fortschritt scheint sich nicht mehr zielgerichtet nach vorne abzuspielen; Fort- schritt ist etwas, das schon vorhanden ist, das sich breitmacht, das sich mehr im R a u m als in der Zeit ereignet und das auch so erlebt wird.

W e n n es freilich um die Attitüden gegenüber der Technik geht, so ist es ange- bracht, n o c h einmal zu relativieren. D e r Befund ist keineswegs einheitlich. D i e Funktionen von Technik, die Einstellungen zur Technik sind kaum je eindeutig zu destillieren und zu definieren: Technik im A l l t a g ist immer nur in einer G e m e n g e - lage greifbar. Das heißt nicht nur, daß Technisches mit ganz anderen, früheren D e n k f o r m e n vereinbar ist; es heißt a u c h , daß die Einstellungen bei verschiedenen Personen verschieden sind, daß in verschiedenen Funktionen verschiedene A t t i - tüden zur G e l t u n g k o m m e n und daß diese Haltungen grundsätzlich psychisch mehrdeutig sein können.

D a z u k o m m t , daß technische Phänomene keineswegs einheitlich in ihrem Charak- ter sind. Schon die Rede von „der" Technik ist, mag sie auch ein gewisses Recht beziehen aus den durchgreifenden Prinzipien aller technischen Erscheinungen, eine problematische Verallgemeinerung. D i e Assoziationen laufen bei der N e n - nung dieses Stichworts weit auseinander - von der massiven M e c h a n i k der Ver- hüttungsbetriebe bis zu den spiegelblank geleckten I B M - und Packard-Techno- logien, v o m Küchenrührgerät bis z u m Kernkraftwerk. Technik ist ein dubioser Sammelbegriff. Dies gilt von der Gegenwart genau so wie für die historische Per- spektive.

D i e G e m e n g e l a g e , die verschiedenen Einstellungen muß m a n a u c h in A n s p r u c h n e h m e n , wo v o n einem Sonderbereich des Technischen, nämlich den M e d i e n im engeren Sinn, die R e d e ist. Es gibt ein irrationales Mißtrauen in die M e d i e n - in der Diskussion um die sogenannten neuen M e d i e n spielt dies neben sehr disku- tablen kritischen A r g u m e n t e n sicherlich eine wichtige R o l l e .9 Es gibt ein Potenz- gefühl gegenüber der Technik, das den jungen Leuten durch die Werbung vermit- telt wird und das von ihnen praktiziert wird im gekonnten U m g a n g mit H i F i - T ü r - m e n und V i d e o , das aber auch etwa sichtbar wird im „sindromo del t e l e c o m a n d e " , im Syndrom verselbständigter U m s c h a l t i m p u l s e , vor allem bei der Verwendung von Fernbedienungsschaltern z u m Fernseher.1 0 Im Vordergrund aber steht auch hier, beim U m g a n g mit den M e d i e n , die Veralltäglichung, die Naturalisierung.

Was aber heißt das, wie drückt sich das aus? Darüber erfahren wir von der M e d i e n - forschung wenig oder nichts. W e r sich über die M e d i e n als Agenturen des Alltäg- lichen informieren möchte, stößt heute auf zwei verschiedene Typen der Analyse.

E i n m a l handelt es sich um empirische Untersuchungen über ganz begrenzte Z u - sammenhänge und Korrelationen. M e d i a l e K o m m u n i k a t i o n wird dabei vielfach verdinglicht, wird erfaßt als Inhalt und/oder W i r k u n g episodischer, in sich ge- schlossener Einheiten. D i e G r e n z e n der Aussagekraft solcher Untersuchungen lie- gen auf der H a n d . A u f sie ist A b r a h a m Kaplans Kritik am Substantialismus anwendbar, der auf der Suche nach D i n g e n ist, anstatt Prozesse zu untersuchen, die nicht ohne weiteres eingrenzbar, also auch nicht ohne weiteres meßbar s i n d .1 1 D e m gegenüber steht eine in Bewegung versetzte Wesensschau, eine A r t M o r p h o - logie, ein Versuch, komplexe Prozesse durch Umkreisung mit Deutungen genauer zu erfassen. Es geht hier also mehr d a r u m , etwas zu verstehen, als etwas zu messen.

D i e G e f a h r ist, daß das spielerische U m k r e i s e n des Gegenstandes sich an seiner

eigenen Bewegung berauscht und diesen, zumal es ja gar kein Gegenstand, gar kein Ding ist, aus dem A u g e verliert.

So scheint es nützlich, solche Deutungsüberlegungen rückzubinden an Empirie, an eine Empirie freilich, in der qualitative M e t h o d e n vorherrschen, teilnehmende Beobachtung, Introspektion, Tiefeninterviews, Fallanalysen und ähnliches.

Ein denkbar harmloses Beispiel m a g , in einiger Ausführlichkeit, auf die Probleme und auf mögliche Interpretationen hinweisen. Ich frage, wie Herr M e i e r im K o n - text seiner Familie und im K o n t e x t seines Alltags am W o c h e n e n d e mit der Sport- berichterstattung umgeht.1 2 Zunächst mag einfach erzählt w e r d e n :

Es ist Samstagnachmittag. Herr M e i e r hat zwei zentrale Erlebnisse hinter sich: er ist mit seiner Frau auf den M a r k t gefahren und hat keinen Parkplatz gefunden (ein negatives Erlebnis), und er hat den Wagen gewaschen (ein positives Erlebnis, denn er gehört zur Gattung der ,Lustwäscher'). N a c h dem späten Essen macht er A n - sätze zu einem Mittagsschlaf; das gelingt einigermaßen, bis sein älterer Sohn türen- schlagend das Haus verläßt und mit d e m M o t o r r a d abbraust. Herr M e i e r wendet sich der Zeitung zu. D i e Politik hat er bereits abgehakt, den Lokalteil a u c h , n u n liest er die Sportseiten. Er sucht nach der Vorschau. Er erwägt, auf den Sportplatz zu gehen. A b e r er gehört zu den Leuten mit Prinzipien: sein Verein hat zweimal hintereinander verloren, Strafe muß sein. Er liest weiter, er nickt nochmals ein, seine kleine Tochter k o m m t herein und beschwert sich: sie will lesen, und es ist viel zu laut. Tatsächlich hört Herr M e i e r über das Radio einen hektischen Reporter aus irgendeinem Stadion berichten. Er unterstützt seine Tochter gegen den kleinen Sohn, der das Rundfunkgerät so laut gestellt hat; aber es ist nur Scheinaltruismus:

er möchte nämlich die Fußballberichte der Ringschaltung „Samstag im Stadion"

nicht hören, weil er seine Spannung für 18.05 U h r , für den Fernsehsport aufbe- wahren möchte. Der Sohn fügt sich, stellt das Gerät leiser. N a c h ein paar M i n u t e n aber hört Herr M e i e r rufen: „Tor! Tor!" Im Geist sieht er (was gar nicht so falsch ist) Walter K e l s c h beim Einschluß. Er ist verunsichert, möchte eigentlich gerne mit- hören; aber er hält dann d o c h durch und bleibt abseits.

Nach einiger Zeit kommt sein Sohn strahlend ins Z i m m e r : „Darf ich's sagen?" D e r Vater ist erleichtert, der V f B hat gewonnen. A b e r er ist auch wütend: N e i n , sagt er, denn er will das Spiel ja sehen. Zu Beginn der Sportschau am A b e n d wird er freilich noch wütender: das Spiel des V f B wird nicht übertragen. D e r Moderator sagt, die drei Spitzenspiele würden gesendet - als ob der V f B ein Abstiegskandidat wäre!

Sein zehnjähriger Sohn hat nun einen Vorsprung, er hat das Spiel miterlebt - live, wenn auch nicht ganz live, denn es wird ja nicht kontinuierlich berichtet in dieser Ringschaltung. A b e r die Konstellation führt d o c h dazu, daß eine A r t Wettstreit entstanden ist, ein K a m p f um die passiv-sportliche Vorherrschaft in der Familie Meier.

Die Folge ist, daß der Vater während der Sportschau mehr als sonst redet, freilich immer n o c h wenig genug. Bei Offenbach stellt er fest, der Torwart wirke eigentlich ähnlich wie Pfaff - sein Sohn verneint das. B e i m nächsten Spiel sagt sein Sohn: Ich bin für Bayern, und D u ? D e r Vater ist auch für Bayern. A b e r er hat Rummenigge schwach gefunden im Länderspiel, der Sohn nicht. D a z u k o m m e n kurze Z w i - schenbemerkungen: Klasse! Toll! War das nicht innerhalb? Das war eigentlich kein hartes F o u l ! Ich weiß nicht, ob das A b s i c h t war! - Dazwischen fragt der Sohn, ob er ein VfB-Trikot kaufen dürfe; um nicht weiter abgelenkt zu werden, sagt der Vater schnell Ja. Felix Magath macht gerade einen Drehschuß - das wird das Tor des M o n a t s , sagt der Vater. G e g e n Ende hat er noch die C h a n c e zu einer Belehrung.

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Bildzeitung, er kriegt nicht die ganze Sportschau mit. A b e r auch wenn er - rein auf die zeitliche Erstreckung bezogen - alles mitbekäme, so wäre damit n o c h keines- wegs die alleinige Konzentration auf die Medieninhalte garantiert. M a n spricht von Sekundärtätigkeiten; vielleicht sollte m a n eher von parergischem M e d i e n k o n s u m reden, weil sich nie genau feststellen läßt, was eigentlich primär, sekundär oder tertiär ist. D i e Einschätzungen u n d die Verhältnisse sind v e r s c h i e d e n ; der gleiche M a n n , der schimpft, weil die Sportsendung um zehn M i n u t e n verschoben wird wegen des Papstbesuchs, hobelt während dieser Sportschau am selbstgebastelten Blumenständer herum u n d n i m m t k a u m zur K e n n t n i s , was i h m am B i l d s c h i r m präsentiert wird.

Das dritte: D i e M e d i e n sind integriert in den A l l t a g , in das Alltagsverhalten. E i n - mal äußerlich: es gibt Interferenzen mit nicht-medienbezogenem Verhalten, der Aufmerksamkeitsgrad hängt von der Tageszeit ab, von den Stimmungen. D i e Bot- schaft der M e d i e n konkurriert mit anderen Botschaften - etwa damit, daß die Frau irgendetwas erzählt. A b e r es gilt nicht nur äußerlich. Das Sportbedürfnis ist ja doch nicht isolierbar; es handelt sich nicht um Triebknöpfe, die aus- u n d eingeschaltet würden, sondern um ein Gefüge im sehr k o m p l e x e n Bedürfnishaushalt. A u c h hier gibt es ein Ineinander und ein Nebeneinander. W e n n beispielsweise beim A k t u e l - len Sportstudio des Z D F am Samstagabend eine sehr hohe weibliche Beteiligung festgestellt wurde, dann kann das mit einem gewissen sportlichen Interesse der Frauen zusammenhängen, aber a u c h mit der Darbietungsform, mit dem A p p e a l von Harry Valerian - es kann aber auch der Versuch der Frauen sein, etwas von der früheren Samstagsgemeinsamkeit zu retten. O d e r : W e n n der Jugendliche seinen Vater auf die Bildzeitung anspricht, dann doch nur deshalb, um i h m eine Rüge zu erteilen, daß er dieses Blatt überhaupt gekauft hat. Jedenfalls läßt sich das M e d i e n - verhalten nicht auf das Korrelat von Inhalt und W i r k u n g reduzieren, auch nicht auf eine Nutzung innerhalb eines klar abgrenzbaren Feldes. Es gibt zwar ganz bewußte Entscheidungen, etwa die Entscheidung für den Gratifikationsaufschub (daß also beispielsweise auf die Radioberichte verzichtet wird mit Rücksicht auf die spätere Sportschau des Fernsehens), aber solche Entscheidungen werden i m m e r wieder durchkreuzt u n d beeinflußt von nichtmedialen Befunden und Entscheidungen.

Die vierte Feststellung: Es handelt sich nicht um einen isoliert-individuellen Vor- gang, sondern um einen kollektiven Prozeß. N i c h t einmal beim Zeitunglesen ist man w i r k l i c h allein. Zumindest ein Teil der M e d i e n n u t z u n g spielt sich ab im Ver- band der F a m i l i e , in der G r u p p e der Freunde oder der Arbeitskollegen. D i e Inter- essenintensität ist verschieden bei verschiedenen Familienmitgliedern - so ist etwa bei Jugendlichen, entgegen einer geläufigen M e i n u n g , das Interesse an den Sportsendungen nicht sehr groß; der passive Mediensport ist eher ein Sport nach der M i d l i f e Crisis, wenn andere Sportarten nachlassen. Natürlich gibt es auch deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern; aber auch bei schwachem Interesse oder Nichtinteresse ist die Beeinflussung der anderen Familienmitglie- der durchaus möglich.

Fünfte Feststellung: D i e mediale kann nicht von der direkten, von der personalen K o m m u n i k a t i o n getrennt w e r d e n .1 3 Was im M e d i u m k o m m t , gibt Konversations- stoff; der Sport ist z u m Beispiel ein kleiner Generalnenner in unserer hochspeziali- sierten Gesellschaft, wobei m a n freilich die Expertenschaft und a u c h die G e - sprächsintensität nicht überschätzen sollte. Immerhin werden i m m e r wieder Ver- ständnisprobleme geklärt, i n d e m über die medialen Inhalte gesprochen wird. Die Feststellung, daß Fernsehen eine gemeinsame Tätigkeit sei, „die zu einem erheb- lichen Teil aus Schweigen besteht",1 4 ist vermutlich nicht falsch; aber das zu einem Der Reporter sagt: „der gut getimte Paß" - der Sohn fragt: wieso sagt er „der gut

gemeinte Paß"? U n d der Vater kann nun erklären, was man - seit einigen Jahren - unter „timen" versteht.

Am A b e n d verplaudert sich Herr M e i e r , sonst hätte er wenigstens die Regional- nachrichten sehen können. So sieht er nur, am Ende der Tagesschau, die Tabelle Eigentlich wollte er - und er hatte das auch zu seiner Frau gesagt - früh ins Bett;

aber nun hat er noch eine schwache H o f f n u n g , im ZDF-Sportstudio könne er das spielentscheidende Kelsch-Tor sehen. A l s o muß er in seiner Taktik umschalten. Er sagt zu seiner F r a u , sie sehe heute aber müde aus. Sie wundert sich über seine Für- sorge ; aber sie zieht sich tatsächlich zurück. Er geht in die Küche und holt ein Bier.

Dummerweise k o m m t die Frau zurück, sie holt sich n o c h einen Sprudel aus der Küche. Da geht ihr ein L i c h t auf: „Mein G o t t , das Sportstudio! Deshalb also schickst Du m i c h ins Bett!" Er läßt sich nicht auf das Gespräch e i n , geht s c h n e i noch in die Toilette. Inzwischen geht's los, seine Frau ruft: „Hallo, M a x Schmeling ist d a b e i ! " Er reagiert nicht, Schmeling kann er nicht leiden, weil er irgendetwas mit C o c a - C o l a zu tun hat. Er macht also betont langsam. A l s er hereinkommt, ist das V f B - S p i e l schon im G a n g , er sieht gerade n o c h das zweite Tor des V f B , das weniger schöne.

Am Sonntag geht er spät vormittags z u m Bahnhof, sieht am K i o s k die „Welt am Sonntag", streift die Schlagzeile. In „Bild am Sonntag" liest er: K a n z l e r wieder herzkrank; Es war D o p p e l m o r d ; H S V an der Spitze. G e g e n seine Gewohnheit kauft er die Zeitung, blättert zu Hause, liest, daß Bernd Schuster angeschlagen ist, daß M a r a d o n a nicht mehr so h o c h im Kurs steht, daß ein Kölner Spieler einen A u t o u n f a l l hatte. Sein Bedarf an Sport und an „Sport" ist gedeckt.

Nachmittags hört er von einem N a c h b a r n , daß sein Verein wieder verloren hat - das hatte er sich sowieso gedacht, denn wenn es windstill ist, hört er das Geschrei v o m Sportplatz auf dem B a l k o n , u n d am Samstagnachmittag war nichts zu hören gewesen. M i t der Frau und den jüngeren K i n d e r n geht er spazieren; von Bekann- ten wird er aufgehalten, und als er nach Hause k o m m t , sitzt sein älterer Sohn vor der Sportschau, nachdem er bis z u m Mittag geschlafen hat. M e i e r ärgert sich dar- über, wie jeden Sonntag, und er ärgert sich n o c h mehr, als der Sohn fragt: „Hast Du's gehört, der V f B hat 2 : 0 g e w o n n e n ! " - als ob er ein Idiot wäre. Er präsentiert d e m Sohn die „Bild am Sonntag"; der Sohn sagt nur spöttisch: „Ich dachte, die liest Du nicht". D e r Vater geht beleidigt aus dem Z i m m e r , während die Mutter neben ihrem älteren Sohn Platz n i m m t u n d die Sportreportage ansieht, die sie eigentlich nicht interessiert - ein Kontaktversuch.

Diese Schilderung ist nicht künstlich aufgeblasen, ist eher verkürzt u n d verein- facht, u n d eigentlich müßte m a n n o c h eine ganze Weile fortfahren: „Sport im Drit- t e n " am Sonntagabend; die Montagszeitung und mündliche K o m m e n t a r e zum Wochenendsport in der Betriebspause - und so fort. A b e r das konkrete Beispiel soll nur als Ausgangspunkt einiger Überlegungen dienen.

Das erste: Wer sich sinnvoll mit dem G e b r a u c h von M e d i e n auseinandersetzt, muß verschiedene M e d i e n ins A u g e fassen. Er muß rechnen mit dem Medienensemble, mit dem heute jedermann umgeht. D e r Medienverbund in der Produktion hat längst seine Entsprechung beim Rezipienten gefunden: er integriert verschiedene mediale Inhalte - in diesem Beispiel: R a d i o , Fernsehen, Z e i t u n g ; und es kann durchaus n o c h anderes dazukommen.

Das zweite: In der Regel werden M e d i e n nicht vollständig u n d nicht mit voller K o n z e n t r a t i o n genutzt. M e i e r liest einen Teil der Sportvorschau, er blättert in der

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erheblichen Teil - variable - räumt i m m e r h i n e i n , daß nicht geschwiegen wird.

U n d selbst bei der isolierten Rezeption spielt das Ineinander v o n medialer und per- sonaler K o m m u n i k a t i o n eine Rolle. D i e Theorie des two-step flow, die zwar mehr- fach modifiziert und auch eingeschränkt, aber eigentlich nicht widerlegt wurde,1 5 bezieht sich auf dieses Ineinander. Sie zielt auf den Sachverhalt, daß M e d i e n i n - halte dann aufmerksam rezipiert, behalten und weiterbehandelt werden, wenn sie schon vorher in der Primärkomunikation Bedeutung hatten.

Sechste und letzte Feststellung: D i e Philologen kaprizieren sich seit einiger Zeit darauf, daß es Bücher nicht gebe, daß diese vielmehr im Rezeptionsprozeß geschaf- fen werden. Da sie sich aber nicht auf multiple Rezeptionsprozesse wirklich ein- lassen können, haben sie den impliziten Leser erfunden und landen damit wieder beim Text. B e i m B u c h mag das angehen. Bei medialen A n g e b o t e n funktioniert die Geschichte mit dem synthetischen „Durchschnittszuschauer" ganz sicher nicht.

D i e Inhalte sind nicht nur mehrdeutig hinsichtlich ihrer inneren Struktur, sondern diese Mehrdeutigkeit wird n o c h erhöht durch das offene F e l d , in dem sich K o m - munikation abspielt. In einem frühen amerikanischen Versuch wurde bei einer A n z a h l v o n L e u t e n eine K a m e r a in den Fernseher eingebaut, die sich einschaltete, wenn das Fernsehgerät eingestellt w u r d e ; so suchte m a n der Choreographie der Fernsehnutzung nachzugehen. Dieses Beispiel wird oft zitiert als Beleg dafür, wie wenig auch aufwendige Versuchsanordnungen die Leute stören: nach einer kurzen Karenzzeit spielte sich alles Mögliche vor d e m Fernseher ab - v o n üppigen M a h l - zeiten bis zu vereinzelten Liebesspielen vor dem laufenden Fernsehgerät. So weit, so gut. A b e r was bedeutet das? Wollten die Paare nebenher die Informationen des Fernsehens nutzen, registrierten sie die laufende Tapete gar nicht, handelte es sich also im strengeren Sinn um ritualisiertes Verhalten? Oder war das Fernsehen Mit- spieler, handelte es sich also um eine A r t Luststeigerung durch einen Dritten, einen technisch vermittelten Narzißmus? D i e Mehrdeutigkeit liegt auf der H a n d .

Diese knappen Hinweise führen zu der Feststellung, daß das Fernsehen und an- dere M e d i e n nicht etwa ein Stück Wirklichkeit vermitteln, indem sie es ausschnitt- weise, wenn auch medial gebrochen, wiedergeben, daß sich vielmehr die W i r k l i c h - keit aus medial Vermitteltem und anderem zusammensetzt und daß diese Wirk- lichkeit jeweils neu konstruiert wird. Natürlich macht es Sinn, festzustellen, daß manche Großstadtkinder heute Kühe und Schafe zunächst nicht „in W i r k l i c h k e i t "

(die K i n d e r selbst sagen: „in echt"), sondern auf dem Bildschirm kennenlernen.1 6 A b e r der Vorgang selbst verweist andererseits darauf, daß mediale Bilder und Vor- stellungen und solche der unmittelbaren Erfahrung sich überlagern und durchdrin- gen. D i e Fernsehinhalte strahlen durchaus auf die übrige Wirklichkeit aus, geben ihr, unvermerkt im allgemeinen, ein besonderes Gepräge. K a r l R i h a hat z u m Bei- spiel auf die Überformung der Sportveranstaltungen durch Elektronik hingewie- sen, auf die eingeblendeten Rekordzeiten, auf den Stadionlautsprecher, der die Abläufe oft fast pausenlos kommentiert.1 7 U n d der K o n s u m e n t v o n Sportsendun- gen geht inzwischen mit seinem Tabellenblick und seinem Rekordauge auch an andere Sektoren der Wirklichkeit heran. Ist es nicht so, daß wir die Tagesschau z u m Teil unter dem Aspekt ansehen: wer gegen wen?

Bei Franz X a v e r K r o e t z , im verbürgerlicht-proletarischen A l l t a g seiner G e s c h i c h - ten und seiner Gestalten, spielt verschiedentlich das Fernsehen eine R o l l e . Das ist nicht schlecht gesehen; aber es ist zu geradlinig, als daß es die Realität treffen könnte. Da wird eine Sendung angesehen, und dann sagen sich die zwei, wie schön 68

es war und was die Schauspieler jetzt wohl tun nach der S e n d u n g .1 8 D i e W i r k l i c h - keit ist komplexer.

Es mag erlaubt sein, dies spielerisch zu konkretisieren. W e n n i c h einem D r a m a - tiker zutrauen würde, die verbogene und verwickelte Realität des Medienumgangs zu vermitteln, dann K a r l Valentin, der meines Wissens leider z u m Fernsehen nichts mehr gesagt hat. Ich stelle mir das etwa so vor: Liesl Karlstadt und K a r l Valentin sitzen vor dem Fernseher. Er hat eine große Zeitung vor der großen Nase, sie steht auf und drückt auf den A u s - K n o p f . Er schreckt h o c h :

Warum tutst Du ausschalten?

Weil es aus ist.

A b e r Du kannst doch nicht einfach aus machen.

Du hast ja die Zeitung gelesen.

Weil man nicht alles auf einmal kann.

Eben.

Du hättest aber wenigstens fragen können.

Wo der F i l m doch aus war.

Welcher F i l m ?

Der F i l m . D e r F i l m , der grade gelaufen ist.

Hier kann kein F i l m gelaufen sein, das ist kein K i n o . G u t , dann war es eben kein F i l m .

W i e ist er ausgegangen, der F i l m ? Welcher F i l m ?

Der F i l m eben - Du hast ja selbst gesagt, ein F i l m ist gelaufen.

G u t ist er ausgangen. Es war ein schöner F i l m . Alles echt, wie im L e b e n . W e n n es war wie im L e b e n , dann braucht m a n keinen F i l m . Im F i l m geht es nie zu wie im L e b e n .

D o c h , m a n sagt ja a u c h , wenn sich zwei - wenn es im L e b e n gut geht, es ist wie im F i l m .

Ja. Siehst D u , dann geht es also im F i l m nicht zu wie im L e b e n . Es kann bloß sein, daß es im L e b e n zugeht wie im F i l m .

A b e r wenn es im L e b e n zugeht wie im F i l m , dann kann es d o c h auch im F i l m zu- gehen wie im L e b e n .

M a n muß sich entscheiden.

Für was entscheiden?

Ja eben. W e n n m a n sich für den F i l m entscheidet, kann m a n nicht sagen, es sei wie i m L e b e n .

A b e r es war wie im L e b e n . Im F i l m . W a r u m schaust Du dann den F i l m an?

W e i l es - weil es einmal etwas anderes ist.

Etwas anderes als das L e b e n ? N e i n . Ja. Schon anders.

A l s o kann der F i l m d o c h nicht gewesen sein wie im L e b e n . Uberhaupt ist ein F i l m ja viel kürzer als das L e b e n .

J a , wenn man alt wird.

A u c h wenn m a n nicht alt wird. Höchstens ganz kleine K i n d e r , die wo als Säuglinge sterben; aber für solche Säuglinge gibt es ja gar keine F i l m e , o b w o h l - im Fern- sehen wäre sogar das möglich.

(Er geht z u m Fernseher und stellt den K n o p f ein)

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W a r u m schaltest D u jetzt e i n , mitten i n der N a c h t ? Ich w i l l sehen, ob keine K i n d e r s e n d u n g k o m m t . . .

G e n u g der V a l e n t i n i a d e n . Gewiß können u n d sollen solche Spielereien wissen- schaftliche A n a l y s e nicht ersetzen. A b e r sie vermögen vielleicht d e u t l i c h zu m a c h e n , daß der absurden M e d i e n w e l t mit geradlinig-simplen Verfahren nicht bei- z u k o m m e n ist. D i e U n b e r e c h e n b a r k e i t ergibt sich nicht nur aus der V i e l f a l t der Inhalte, die sich nur unzulänglich in eine Gattungstypologie pressen läßt, sondern a u c h aus d e m hier geschilderten verwirrenden u n d undurchsichtigen Alltagsspiel d e m Ineinander intentionaler u n d nichtintenionaler A k t e , m e d i e n b e z o g e n e r , per- sonen- u n d umweltbezogener, konzentrierter u n d beiläufiger H a n d l u n g e n . Zur Erfassung dieser n e u e n W e l t bedarf es differenzierter M e t h o d e n , die nicht um der Bündigkeit der Ergebnisse w i l l e n Komplexität vorschnell a b s c h n e i d e n , sondern die sich mindestens ein Stück weit a u f das verwirrende Spiel einlassen.

A N M E R K U N G E N

* Dem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der am 14. Juni 1983 beim Symposion „Rituale der Medienkommunikation" des Instituts für Publizistik der FU Berlin gehalten wurde.

1 Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, N.J., 1967, S. 45.

2 Das Kapital I (= N E W 23), S. 445.

3 Ebd.

4 Land und Leute. Stuttgart 8. Auf. 1883, S. 66.

5 Gedichte. München 1847. Zitiert nach T. Buddensieg, H. Rose (Hg.): Die nützlichen Künste Katalogband Berlin 1981, S. 53.

6 Martin Scharfe: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus.

Gütersloh 1980, S. 123; vgl. auch S. 84-87.

7 Vgl. Hermann Bausinger: Technik im Alltag, in: Zs. f. Vkde. 77/1981, S. 227-242; hier S. 231f.

8 Vgl. Heiner Treinen: Ästhetik im Alltag - ein soziologischer Deutungsversuch. In: Ästhetik im Alltag. Offenbach 1978, S. 50-56; hier S. 55.

9 Vgl. Hermann Bausinger: Freier Informationsfluß? Zum gesellschaftlichen Stellenwert der neuen Medien. In: Zs. f. Pädagogik 29/1983, S. 847-857

1 0 Vgl. Claus-D. Rath: Überlegungen zur Signalökonomie. Unveröff. Vortrag Berlin 1982.

1 1 Abraham Kaplan: The conduct of inquiry. Scranton/Penns. 1964. Vgl. hierzu Manfred Rühl: Buch - Bedürfnis - Publikum. Vorbemerkungen zu einer Theorie der Buchkommunikation. In: Bertels- mann Briefe H. 99 (1979), S. 44-52; hier S. 46.

1 2 Vgl. Helmut Digel (Hg.): Sport und Berichterstattung. Reinbek 1983.

1 3 Klaus Mertens: Personale oder mediale Kommunikation? Soziale Auswirkungen der neuen Medien. In: Bertelsmann Briefe H. 102 (1980), S. 10-19; hier S. 10.

14 Hella Kellner: Fernsehen als Sozialisationsfaktor. In: Media Perspektiven 4/1976, S. 297-310;

hier S. 302 f.

1 5 Vgl. den kritischen Überblick von Karsten Renckstorf: Zur Hypothese des ,two-step flow' der Massenkommunikation. In: Dieter Prokop (Hg.): Massenkommunikationsforschung 2: Konsum- tion. Frankfurt a.M. 1973, S. 167-186.

1 6 Vgl. Hans-Dieter Kubier u.a.: Kinderfernsehsendungen in der Bundesrepublik und der DDR.

Eine vergleichende Analyse. Tübingen 1981, S. 185 f.

17 Karl Riha: Sport im Fernsehen. Zur Dramaturgie von Sportsendungen. Siegen o.J.

18 Vgl. Oberösterreich, erster Akt, erste Szene.

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