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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 9⏐⏐3. März 2006 AA517
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erzeit warten circa 12 000 Patien- ten in Deutschland auf eine Organ- verpflanzung und mehr als 1 000 sterben jährlich, weil sie nicht zeitge- recht ein Organ erhalten. Hauptursache ist der Mangel an Spenderorganen. Auf- grund fehlender epidemiologischer Stu- dien sind Aussagen zur Zahl potenzieller Organspender und über die Gründe, die der Realisierung entgegenstanden, in Deutschland nicht möglich – zumal erheb- liche regionale Unterschiede bestehen.Eine retrospektive Studie in sieben Hamburger Krankenhäusern mit 16 In- tensivstationen belegt nun, dass ein Stei- gerungspotenzial von bis zu 100 Prozent möglich gewesen wäre. Diese Untersu- chung bestätigt die Vermutung, dass es in Deutschland ein ähnlich hohes Organ- spenderpotenzial geben muss wie in den USA (zwischen 38,3 und 55,2 potenzielle Organspender pro Million Einwohner), Spanien (57 pro Million Einwohner) und Frankreich (62 pro Million Einwohner).
Ziel der Studie war es, die Anzahl po- tenzieller Organspender in der Region Nord-Ost (7,68 Millionen Einwohner der Länder Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern) mit einer einfachen Methode zeitnah und konti- nuierlich zu erfassen und die Gründe zu analysieren, die einer Realisierung ent- gegenstanden. Zur Datenerhebung wur- de ein Bogen entwickelt, der monatlich über die Transplantationsbeauftragten der Krankenhäuser an die Organisati- onszentrale der Deutschen Stiftung Or- gantransplantation (DSO) geschickt, auf Plausibilität durch ärztliche Koordina- toren geprüft und in ein Datenerfas- sungssystem eingegeben wird.
Ergebnisse: Durch die Studie konnte gezeigt werden, dass die Zahl der poten-
ziellen Spender in der Region Nord-Ost bei mindestens 40 pro Million Einwoh- ner und Jahr liegt. Erste Ergebnisse aus der Region Mitte bestätigen diese Zahl.
Es ist deshalb davon auszugehen, dass in den anderen Regionen ein ähnlich hohes Spenderpotenzial vorliegt. Das
Haupthindernis für die Umwandlung von potenziellen in aktuelle Organ- spender war die Ablehnung durch An- gehörige (Tabelle). Die Ablehnungsrate wies im Untersuchungszeitraum eine steigende Tendenz auf und betrug im Jahr 2004 circa 50 Prozent. Es bestan- den keine Unterschiede zwischen den Krankenhäusern mit neurochirurgischer Fachabteilung und den anderen Kran- kenhäusern.
Auffällig ist der Anstieg der Ableh- nungsrate in den Altersklassen 55 bis 64 und 65 Jahre. Die Gründe dafür sind nicht systematisch untersucht.
Mitteilungen von Klinikärzten und ei- gene Erfahrungen zeigen, dass in die- ser Altersgruppe nicht nur die Ehe- partner, sondern auch Kinder und En- kelkinder am Angehörigengespräch teilnehmen und eine Konsensentschei- dung zwischen den Angehörigen – bei
Transplantationsmedizin
Organspender-Potenzial ist nicht ausgeschöpft
Eine retrospektive Analyse zeigt, dass in den Krankenhäusern zu wenige Spender erkannt und gemeldet werden.
Die Organspenderate könnte sogar verdoppelt werden.
Untersuchungsergebnisse von Verstorbenen mit primärer und sekundärer Hirnschädigung in der Region Nord-Ost
2002 2003 2004 2002–2004
Verstorbene auf ITS mit primärer oder
sekundärer Hirnschädigung 479 492 531 1 502
Anzahl pro Million Einwohner/Jahr 62,0 64,0 69,1 65,2
Medizinische Kontraindikationen 61 49 43 153
Mögliche Organspender 418 443 488 1 349
Anzahl pro Million Einwohner/Jahr 54,1 57,6 63,5 58,6
Kreislaufversagen 125 137 147 409
Potenzielle Organspender 293 306 341 940
Anzahl pro Million Einwohner/Jahr 37,9 39,8 44,4 40,8
Kreislaufversagen während Hirntoddiagnostik 27 26 18 71
Kreislaufversagen nach Hirntoddiagnostik 4 4 3 11
Keine Angehörigen erreicht 9 3 4 16
Frage Angehörigen nicht zumutbar 2 2 4 8
Ablehnung durch Angehörige 95 122 148 365
Ablehnungsrate (%) 37,8 45 47,4 44
Aktuelle Spender 156 149 164 469
Anzahl pro Million Einwohner/Jahr 20,2 19,4 21,4 20,4
Konversionsrate % 53,2 48,7 48,1 49,9
Kreislaufversagen im OP 4 4 2 10
Tumor während Entnahme 1 5 6
Andere Gründe während Entnahme 1 2 2 5
Realisierte Organspender 151 142 155 448
Anzahl pro Million Einwohner/Jahr 19,6 18,5 20,2 19,4
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A518 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 9⏐⏐3. März 2006
Nichtkenntnis des Willens des Verstor- benen – häufig schwierig ist und daher das Votum gegen die Organspende überwiegt.
Trotz umfassender Aufklärung der Bevölkerung hat sich an der Grundlage der Entscheidung der Angehörigen im Akutfall der Organspende nichts geän- dert. In den Jahren 2002 bis 2004 kann- ten in der Region Nord-Ost mehr als 90 Prozent der befragten Angehörigen nicht den Willen des Verstorbenen; 50 Prozent entschieden sich gegen die Organspende. Die Gründe, warum bei gleicher Ausgangssituation Angehörige sich gegen oder für die Organspende entscheiden, sind nicht untersucht.
Lösungsvorschläge: Durch die für alle Krankenhäuser verbindliche Ein- führung eines Erhebungsbogens könn- ten nicht nur alle mit primärer und sekundärer Hirnschädigung Verstor- benen erfasst, sondern vor allen Din- gen Schwachstellen beseitigt werden, welche die Identifizierung und Mel- dung möglicher Organspender verhin- derten.
Die von uns angewandte Methode erlaubt eine kontinuierliche und zeitna- he Datenerfassung ohne hohen zeitli- chen Aufwand für die Krankenhäuser.
Voraussetzung dafür aber ist, dass die Krankenhausleitungen und die auf den Intensivstationen tätigen Ärztinnen und Ärzte die Meldung von Verstorbe- nen als ein wichtiges Instrument zur in- ternen Qualitätskontrolle für die Or- ganspende ansehen und sich die Mitar- beiter der DSO intensiv um den Daten- rücklauf bemühen sowie die Daten- plausibilität prüfen.
Unterstützung durch die Klinikleitung ist zwingend
Ein weiterer Vorteil ist, dass nur die Verstorbenen als potenzielle Organ- spender eingruppiert worden sind, bei denen keine medizinischen Kontraindi- kationen bestanden, ein komplettes Bulbärhirnsyndrom vorlag oder die Hirntoddiagnostik nach den Empfeh- lungen der Bundesärztekammer abge- schlossen wurde. Die Unterstützung der Datenerhebung von gesundheitspoliti- scher Seite könnte diese positiven Ef- fekte verstärken.
Probleme in der Beurteilung der Spendereignung und in der frühzeitigen Intervention zur Aufrechterhaltung der Homöostase beim Spender zeigen, dass die Unterstützung der DSO frühzeitig angefragt werden sollte. Außerdem verdeutlichen die Studienergebnisse, dass die Rahmenbedingungen für die Organspende im Krankenhaus verbes- serungswürdig sind. Definierte Prozess- abläufe und Behandlungsalgorithmen stärken die Handlungssicherheit im Akutfall Organspende ebenso wie spe- ziell fortgebildete und weisungsbefugte Transplantationsbeauftragte. Diese Rah- menbedingungen zur Umsetzung des Versorgungsauftrages im Bereich Or- ganspende können durch konkrete Regelungen eines Landesausführungs- gesetzes geschaffen werden.
Die Krankenhäuser werden nach unseren Erfahrungen ihre Meldepflicht nach Paragraph elf des Transplantati- onsgesetzes erfüllen, wenn für alle Mit- arbeiter verbindliche krankenhausin- terne Verfahrensweisen zum Ablauf der Organspende – von der Spenderer- kennung über die Hirntoddiagnostik bis zur Organentnahme – vorliegen und der Unterstützungsumfang durch kompetente Mitarbeiter der Deut- schen Stiftung Organtransplantation mit den Erfordernissen des Kranken- hauses im akuten Spendefall abge- stimmt ist. Zur Etablierung und Durch- setzung dieser Verfahrensweisen ist die Unterstützung der Klinikleitung Vor- aussetzung.
Im Jahre 2004 befanden sich in den 16 Krankenhäusern mit neurochirurgi- scher Fachabteilung
> 80 Prozent aller potenziellen Or- ganspender,
> 90 Prozent der Fälle mit plötzli- chem, unerwartetem Kreislaufversagen oder Therapiereduzierung bei infauster Prognose des Grundleidens und
> etwa 70 Prozent der möglichen Spender mit Kreislaufversagen während und nach der Hirntoddiagnostik.
Deshalb ist es für die Steigerung der Organspende entscheidend, die Koope- ration mit diesen Kliniken zu intensivie- ren, ohne die anderen Krankenhäuser zu vernachlässigen. Die Zunahme an Spendern mit altersbedingten Begleit- erkrankungen unterstreicht die wach- sende Bedeutung
> der intensivtherapeutischen Maß- nahmen, welche die pathophysiologi- schen Veränderungen an den zentralen Regulationsmechanismen zeitgerecht korrigieren
> der umfassenden organbezogenen Diagnostik
> der gezielten Fortbildung aller Mitarbeiter auf Intensivstationen und
> die enge Kooperation mit der DSO.
Bereits Schüler informieren
Das Haupthindernis für die Umwand- lung von potenziellen in aktuelle Or- ganspender ist die hohe Ablehnungsra- te. Sie lässt sich aus Sicht der DSO durch zwei Maßnahmen senken:
> Kurzfristig durch ausgebildete Ge- sprächsteilnehmer, die die Angehörigen – bei Nichtkenntnis des Willens des Ver- storbenen – optimal aufklären und in der Entscheidungsfindung unterstüt- zen.
> Langfristig durch die verbesserte Aufklärung der Bevölkerung – zum Beispiel durch die Integration des The- mas Organspende und Transplantation in die Lehrpläne ab dem 10. Schuljahr, um Schüler darüber umfassend zu in- formieren und so eine bewusste Ent- scheidung zu ermöglichen. Durch die Jugendlichen würde diese Thematik außerdem besser als bisher in die Fami- lien getragen werden.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Claus Wesslau
Deutsche Stiftung Organtransplantation Geschäftsführender Arzt der Region Nord-Ost Saatwinkler Damm 11–12
13627 Berlin E-Mail: nord-ost@dso.de
Mitautoren:
K. Grosse1, R. Krüger1, O. Kücük1, D. Mauer2, F. P. Nitsch- ke1, A. Manecke1, F. Polster1, D. Gabel3
1Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO); Organ- spenderegion Nord-Ost
2Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO); Organ- spenderegion Mitte
3Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO); Kran- kenhaus-Kommunikation
Die Langfassung ist abrufbar unter www.aerzteblatt.de/
aufsaetze/0906.