A1220 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 24⏐⏐12. Juni 2009
A K T U E L L
Das Prostatakarzinom ist mit derzeit jährlich mehr als 58 000 Neuerkran- kungen die häufigste bösartige Er- krankung des Mannes. Als Behand- lungsmethode der ersten Wahl gilt bei einem lokal begrenzten Tumor die radikale Prostatektomie, in de- ren Folge allerdings bei einer Viel- zahl von Patienten stark beeinträch- tigende Komplikationen auftreten wie Harn- oder Stuhlinkontinenz und Impotenz.
Als Behandlungsoption für Pa- tienten, für die eine Prostatektomie nicht infrage kommt, stehen mit der externen Strahlentherapie und der Brachytherapie zwei etablierte Me- thoden der zweiten Wahl zur Verfü- gung. Dabei wird die Brachythera- pie seit Jahren im stationären Sektor als Leistung der gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) abgerech- net (circa 1 500 Fälle/Jahr). Eine gleich große Anzahl von Brachy- therapien wird derzeit ambulant er- bracht, und zwar im Rahmen spezi- eller Verträge, die etliche Kranken- kassen abgeschlossen haben.
Seit 2002 berät der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) über die Zulassung der Brachytherapie als vertragsärztliche Behandlungsme-
thode bei Patienten mit einem lokal begrenzten Prostatakarzinom (low risk carcinoma). In dieser Zeit wur- den hierzu in Deutschland zwei umfassende systematische Aus- wertungen der wissenschaftlichen Literatur veröffentlicht: im Jahr 2005 ein HTA(Health Technology Assessment)-Bericht der Kassen- ärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Bundesärztekammer (BÄK) sowie 2007 ein Bericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).
Obwohl die wissenschaftliche Evi- denz damit hinlänglich bekannt ist und seitdem keine wesentlichen neuen Ergebnisse hinzugekommen sind, hat der G-BA bisher keine Entscheidung getroffen.
Zwar kommt der IQWiG-Be- richt zu dem Schluss, dass hierar- chisierende Aussagen zum Nutzen der Brachytherapie gegenüber der radikalen Prostatektomie bezie- hungsweise einer externen Be- strahlung nicht möglich sind; aller- dings räumt er mögliche Vorteile der Brachytherapie im Hinblick auf Komplikationen und Lebensqua- lität (keine Inkontinenz, erhaltene Potenz) ein.
Der eine umfangreichere Litera- tur auswertende HTA-Bericht von KBV und BÄK (DÄ, Heft 48/2005) kommt zu dem Schluss, dass exter- ne Strahlentherapie oder Brachythe- rapie als Methoden der zweiten Wahl therapeutisch gleichwertig sind. Der Bericht spricht deshalb eine positive Empfehlung zur Brachytherapie bei eingegrenzter Indikation aus.
Angesichts dieser Erkenntnislage sowie der geringeren Nebenwirkun- gen der Brachytherapie ist es nach Auffassung der KBV nicht vertret- bar, Patienten diese Therapieoption in der vertragsärztlichen Versor- gung noch länger vorzuenthalten.
„Zwar wäre eine Verbesserung der Studienlage durch aussagekräftige randomisierte kontrollierte Studien wünschenswert; die aus den Beson- derheiten des Prostatakarzinoms re- sultierenden Probleme bei der Ge- nerierung derartiger Studien lassen einen solchen Erkenntnisgewinn je- doch auf absehbare Zeit nicht er- warten“, sagt KBV-Dezernatsleiter Dr. med. Paul Rheinberger. Deshalb setze sich die KBV im G-BA für ei- ne Zulassung der Brachytherapie als vertragsärztliche Behandlungsopti-
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DEMOGRAFISCHER WANDEL ALS CHANCE
Seit einem Jahr ist die Leopoldina in Halle/Saa- le die „Nationale Akademie der Wissenschaf- ten“ und durchaus stolz auf die Arbeit in ihrer neuen Funktion. „Unser größter Erfolg ist, dass wir keine Diskussionen im Elfenbeinturm führen, sondern als Stimme der Wissenschaft von Politik und Öffentlichkeit gefragt und gehört werden“, betonte Prof. Dr. med. Volker ter Meulen, Präsident der Leopoldina, anläss- lich des Jahrestages.
Debattiert von Politik und Wirtschaft werden derzeit die Empfehlungen der Akademiengrup- pe „Altern in Deutschland“, in denen 23 Exper- ten von der Leopoldina und der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften Acatech aus vorliegenden Forschungsergebnissen kon- krete Empfehlungen ableiten. Ihr Fazit: Der de- mografische Wandel ist keine Bedrohung, son- dern bietet viele Chancen, wenn die politischen
Weichen richtig gestellt werden. Dazu müssten veraltete Vorstellungen und Vorurteile über die Leistungsfähigkeit und Potenziale älterer Men- schen über Bord geworfen werden.
Potenziale systematisch erforschen Die Verlängerung der durchschnittlichen Le- benserwartung sei nicht nur als Bedrohung der Sozialsysteme zu sehen, erklärte die Vizepräsi- dentin der Leopoldina, Prof. Dr. Ursula M. Stau- dinger. Vielmehr gehöre der Zugewinn an Le- bensjahren zu den Potenzialen des Alters und des Alterns. „Eine Gesellschaft des längeren Lebens erfordert auch ein längeres Arbeits- und Bildungsleben. Arbeit und Lernen müssen zu einem kontinuierlichen Bestandteil eines er- füllten längeren Lebens werden“, forderte die Psychologin. Dies ist jedoch nach Meinung der Akademiengruppe unter den gegenwärtig herr-
schenden Arbeitsbedingungen nicht ausrei- chend möglich. Unternehmen und Politik for- derte sie deshalb auf, die Dauer der Berufs- tätigkeit zu flexibilisieren. Zudem müssten die Unternehmen mehr in die Fortbildung ihrer Mit- arbeiter investieren. Ergänzt werden müsste dies durch Möglichkeiten, rechtzeitig aus kör- perlich stark belastenden oder geistig erschöp- fenden Tätigkeiten in andere umzusteigen.
Bisher gibt es in Deutschland noch kein in- terdisziplinär angelegtes Forschungsinstitut, das die Potenziale des Alters und Alterns sys- tematisch erforscht. Dies wird von der Akade- miengruppe bemängelt. „Die Komplexität der beteiligten Prozesse macht politische Ent- scheidungen nicht einfach. Altern ist ein The- ma, das quer zu den ministeriellen Ressorts liegt. Es erfordert konzertierte Aktionen“, sagte Staudinger. Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann PROSTATAKARZINOM