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Archiv "Psychiatrie in Schweden: Kranke sitzen zwischen den Stühlen" (06.02.2004)

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s ist fast genau zehn Jahre her, dass Schwedens Reichstag die Reform des Gesundheitswesens als Meilen- stein feierte. Deren Ziel war vor allem, die Lebensbedingungen der psychisch kranken Bürger zu verbessern und „ih- nen mehr Möglichkeiten zur Gemein- schaft und Teilnahme am Gesellschafts- leben zu bieten“. Was ist daraus gewor- den? Stückwerk. „Früher war es schwer, aus den Institutionen herauszukommen, heute ist es schwer, ins System hineinzu- kommen“, stellte der Vorsitzende der Christdemokraten,Alf Svensson, fest.

Schweden wurde im vergangenen Jahr aufgeschreckt durch einige spektakuläre Morde, begangen von psychisch gestör- ten Personen. Im Mai lief in einem West- stockholmer Stadtteil ein 32-Jähriger mit einer spitzen Eisenstange Amok, tötete einen 72-jährigen Mann

und verletzte sieben wei- tere Menschen. Ende des- selben Monats fuhr ein 50-Jähriger in der Stock- holmer Altstadt mit sei- nem Auto in eine Fußgän- gerzone und mähte 32 Personen nieder, zwei er- litten tödliche Verletzun- gen. Ende August tötete

ein 33-jähriger Mann zwei Frauen mit ei- nem Samuraischwert, und am 10. Sep- tember fiel Schwedens Außenministerin Anna Lindh in einem Stockholmer Kauf- haus einem Messerstecher zum Opfer.

Nur 24 Stunden später, an dem Tag, an dem die 46-jährige Ministerin ihren Ver- letzungen erlag, ging im westschwedi- schen Arvika ein junger Mann in einen Kindergarten und tötete wahllos ein fünfjähriges Mädchen. Kurz zuvor hatte er in einem psychiatrischen Pflegeheim

von der Ermordung der Außenministerin gehört. Eines haben die Täter gemein- sam: Sie hatten sich alle in psychiatri- scher Behandlung befunden oder hatten eine solche gesucht und waren abgewie- sen worden. Auch wenn noch nicht fest- steht, ob der 25-jährige Mörder von An- na Lindh zum Zeitpunkt der Tat voll zu- rechnungsfähig war oder er nur – wie er selbst sagte – der Stimme Jesu folgte, ist in diesem Zusammenhang unbedeu- tend. Denn der Fall Mijailo Mijailovic demonstriert das Dilemma, in das sich Schweden mit seiner „neuen“ Psychia- trie-Politik hineinmanövriert hat. Nicht von ungefähr nutzte Peter Althin, Ver- teidiger des Angeklagten und christde- mokratischer Reichstagsabgeordneter, sein Plädoyer zu der Feststellung „viel- leicht hat auch mein Klient ein paar

Tränen verdient“, denn schließlich habe er Hilfe gegen die innere Stimme und sein Unwohlsein ge- sucht, die ihm versagt wor- den sei. Dies sei „tadelns- würdig“.

Die Liste der Fragen ist lang: Wie war es möglich, dass Mijailovic von verschie- denen Gerichten dreimal zur psychiatrischen Behandlung verur- teilt, aber keine konsequent durchgeführt wurde? Wie konnte es passieren, dass sich der Täter, der schon als 17-Jähriger seinen Vater mit einem Messer überfallen hatte, im vergangenen Jahr von sechs verschie- denen Ärzten 15 Rezepte für elf verschie- dene Arzneimittel, von Atarax über Flu- nitrazepan und Nozinan bis Stesolid und Zeldox, beschaffen konnte?

Markus Heilig, Dozent für experimen- telle Psychiatrie am angesehenen Karo-

linska-Institut, hat die Nase voll und geht in die USA: „15 Jahre lang habe ich mit wachsender Verzweiflung den Nieder- gang der Psychiatrie in Schweden mit an- sehen müssen. Patienten gehen unter, ob- wohl es effektive Behandlungsmethoden gibt.“ Der Grund für seinen Frust: „Die schwedische Psychiatrie ist in den 70er- Jahren von lauten, ideologisch getriebe- nen und demagogisch geschickten Perso- nen inner- und außerhalb unseres Beru- fes entführt worden. Eine berechtigte Kritik an den Mängeln der altmodischen psychiatrischen Institutionen gab ihnen die Legitimation für ganz andere Ideen:

dass psychische Probleme vor allem von den gesellschaftlichen Verhältnissen ver- ursacht werden und deswegen nicht als Krankheiten gelten können; dass Arznei- mittel generell von Übel sind und dass ei- ne psychoanalytisch ausgerichtete Psycho- therapie – möglichst in Zusammenhang mit einer Revolution – der Schlüssel zur psychischen Gesundheit ist.“ Dieser Ar- gumentation haben etliche von Heiligs Kollegen widersprochen. Psychiatrie- Professor Johan Cullberg nennt es

„demagogisches Geschwätz“, stimmt mit Heilig jedoch in einem Punkt überein:

„Die schwedische Psychiatrie befindet sich in einer ernsthaften Krise.“

Ende der 60er-Jahre begann Schwe- den mit der Schließung von Anstalten für „Geisteskranke“. Auch der Begriff wurde aus der Terminologie verbannt und durch „ernsthaft psychisch Gestör- te“ ersetzt. Die Patienten sollten in die normale Krankenversorgung durch Hausärzte und Krankenhäuser inte- griert werden, die Verantwortung für die soziale Betreuung, darunter Wohn- und Arbeitsplatzbeschaffung, wurde den Gemeinden übertragen. Mit diesen Re- formen einher ging ein drastisches Spar- programm. In einem Bericht der ober- sten Sozialbehörde des Landes von Ok- tober 2003 heißt es: „Als Ende der 60er- Jahre mit der Schließung der Nerven- heilanstalten begonnen wurde, gab es 35 000 Pflegeplätze, die meisten in die- sen Häusern. 1991 verfügte die Psychia- trie noch über 12 960 Plätze, was einem halben Platz je 1 000 Einwohner ent- spricht. Im Jahr 2001 war die Zahl der Pflegeplätze in der Psychiatrie weiter auf 5 565 (0,6/1 000 Einwohner) ge- schrumpft, von denen 1 200 von Perso- nen belegt wurden, die zu einer rechts- P O L I T I K

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A314 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 66. Februar 2004

Psychiatrie in Schweden

Kranke sitzen zwischen den Stühlen

Mit dem psychisch gestörten Mörder der schwedischen Außenministerin Anna Lindh sitzt auch die Psychiatriereform der vergangenen Jahre auf der Anklagebank.

„Früher war es schwer, aus den Insti-

tutionen herauszu- kommen, heute ist es

schwer, ins System hineinzukommen.“

Alf Svensson

Vorsitzender der Christdemokraten

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psychiatrischen Behandlung verurteilt worden waren.“

1996 entfielen in Schweden 12,8 Pro- zent der Kosten für die Krankenversor- gung auf die Psychiatrie, 1998 waren es nur noch 9,5 Prozent, 2000 kletterte der Anteil wieder auf 11,4 Prozent. In einem Sonderprogramm, das von 2001 bis 2004 befristet ist, hat die Regierung für das Gesundheitswesen zusätzliche Mittel be- reitgestellt. Die Personalsituation hat sich nach Ansicht der Sozialbehörde ver- bessert. 2000 gab es demnach 1 331 Psychiater, eine Sparte, die jährlich etwa zehn Prozent (rund 100) der neu regi- strierten medizinischen Spezia-

listen wählen. Da bleibt ein Net- tozuwachs von jährlich 35 bis 50 pro Jahr. Auch andere Berufs- gruppen dieses Bereiches mel- den wachsenden Zulauf. So gab es 2001 mit 7 292 gut 13 Prozent mehr Psychologen als 1996 und mit 3 713 insgesamt 27,5 Prozent mehr Psychotherapeuten.

Schwierigkeiten bereiten Lük- ken in der Gesetzgebung sowie eine unzureichende Kooperati- on zwischen den Provinzregie- rungen, die für das Gesundheits- wesen zuständig sind, und den Gemeinden, die für die soziale Versorgung verantwortlich sind.

Ein besonderes Problem be- schäftigt die Rechtspsychiater:

Bisher gilt, dass eine Person, die unter Einfluss ernster psychi- scher Störungen eine Tat began- gen hat, nicht zu einer Gefäng- nisstrafe verurteilt werden kann und dass das Landgericht über Freigang und Entlassung ent-

scheidet. Parallel dazu: Leidet ein Ange- klagter zum Zeitpunkt der Urteilsver- kündung nicht mehr unter psychischen Störungen, was während der Tat der Fall gewesen sein könnte, dann verbietet es das Gesetz, ihn zur psychiatrischen Be- handlung zu verurteilen.Nun liegt jedoch der Vorschlag einer von der Regierung eingesetzten Kommission vor, wonach psychisch kranke Täter zu einer Haftstra- fe verurteilt werden können und dann im Gefängnis auch therapiert werden sollen.

In einem Artikel im Organ der schwedi- schen Ärzteschaft, „Läkartidningen“, unter der Überschrift „Die Rechtspsych- iatrie wieder im Umbruch“ wird dieses

Ansinnen, das etliche Politiker unterstüt- zen, heftig kritisiert. Auch ein anderer Vorschlag, besonders gefährliche psy- chisch kranke Straftäter auf unbestimm- te Zeit der Freiheit zu berauben, wird mit Hinweis auf die Europäische Menschen- rechtskonvention abgelehnt.

Angesichts der durch den Fall Mijailo- vic losgetretenen Lawine von Komitees, Ausschüssen und Untersuchungen kann man jedoch davon ausgehen, dass in der psychiatrischen Versorgung in Schweden bald einiges geschehen wird.

Das Sammeln von Rezepten will So- zialminister Lars Engqvist künftig da-

durch verhindern, dass Ärzten der Zu- gang zum elektronischen Arzneimittel- register des staatlichen Apothekenmo- nopols ermöglicht wird. Dies soll aller- dings nur mit Zustimmung des Patien- ten geschehen, was Kritik ausgelöst hat.

Eine besonders schwierige Aufgabe fällt Anders Milton zu. Der Arzt und Vor- sitzende des Schwedischen Roten Kreu- zes soll im Auftrag der Regierung nach Verbesserungsmöglichkeiten suchen.

Laut Engqvist „spricht vieles dafür, dass es diese gibt“. In den nächsten drei Jah- ren soll Milton mit einem Stab von Ex- perten Antworten auf folgende Fragen finden: Werden mehr Pflegeplätze in der

stationären Behandlung benötigt? Wie kann der Übergang von stationärer zur ambulanten Behandlung verbessert wer- den? Provinzialverwaltungen und Ge- meinden sollen gemeinsame Ausschüsse bilden, um ihre Aufgaben besser zu koor- dinieren. Milton soll zudem den Perso- nalbedarf prüfen. Auch die oberste Sozi- albehörde hatte die häufige Richtungslo- sigkeit der Arbeit auf örtlicher Ebene und die mangelnde Ausbildung des Per- sonals kritisiert.

In Schweden stellt man sich nach den spektakulären Fällen des vergangenen Jahres die Frage, ob sich eine bis dahin ziemlich konstante Situation verändert hat. Nach einer Un- tersuchung von Gunnar Kull- gren, Rechtspsychiatrie-Profes- sor im nordschwedischen Umea, kam es bis 2001 jährlich zu ei- nem Fall, in dem eine schizo- phrene Person eine ihr bekann- te Person getötet hat, sowie zu zehn bis 15 Fällen, in denen das Opfer eine ihr unbekannte Per- son war. Gestiegen ist dagegen die Zahl der von dieser Gruppe verübten übrigen Delikte. Von den rechtspsychiatrisch behan- delten Patienten begingen 17 Prozent bereits im ersten Jahr nach ihrer Entlassung eine neue Gewalttat und 30 Prozent inner- halb von vier Jahren. Martin Grann und Seena Fazel vom Zentrum zur Verhinderung von Gewalt am Karolinska-Kran- kenhaus schreiben geistesge- störten Personen allerdings ei- nen weit größeren Anteil vor al- lem an gröberen Straftaten zu.

Nach ihren Ermittlungen werden nicht zehn Prozent aller Morde und Totschläge von psychisch kranken Tätern begangen, sondern 50,7 Prozent. In 22,2 Prozent der Fälle waren die Täter zuvor stationär be- handelt worden. Die Diskrepanz zwi- schen den Statistiken begründet Gunnar Kullgren damit, dass seine Kollegen auch solche Taten psychisch gestörten Men- schen zuschreiben, deren Behandlung mehr als zehn Jahre zurückliegt. Dazu Grann: „Schizophrenie ist häufig eine le- benslange Krankheit.“ Reiner Gatermann*

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Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 66. Februar 2004 AA315

*Reiner Gatermann ist freier Journalist. Er lebt und arbei- tet in Stockholm.

Trauernde haben vor einem Regierungsgebäude Blumen für die ermordete Außenministerin Anna Lindh niedergelegt.

Foto:Reuters

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