Einige Bemerkungen zur Anlage und Methode meiner
„Gesciiichte des chinesischen Reiches"
Zugleich ein Wort über ihre Kritiker
Von 0. Franke, Berlin
Über die Anlage und Methode meiner „Geschichte des
chinesischen Reiches" habe ich mich im Vorwort zum I. Bande
ausgesprochen. Ich habe, um das Gesagte kurz zu wiederholen,
darauf hingewiesen, daß es zunächst nur ein Mittel gibt, um
dauernd Herr des gewaltigen Stoffes zu bleiben, nämlich den
Faden der beherrschenden Idee zu fmden und ihn durch das
ganze Wirrsal der Geschehnisse hindurch zu verfolgen. Diese
Idee kann — davon bin ich heute mehr als je überzeugt —
nur die des Staates sein, denn wenn nach Hegel der Staat
,,das Wesentliche, die Einheit des subjektiven Willens und
des Allgemeinen, das sittliche Ganze in seiner konkreten Ge¬
stalt" ist, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß bei den
Chinesen, für die der Staat sogar der Ausdruck ihrer gesamten
Weltanschauung ist, sein Wesen und sein Schicksal den
Kern, das beherrschende Moment ihrer Geschichte ausmachen
müssen.
Ich habe deshalb in den beiden bisher erschienenen Bän¬
den die politische Entwicklung, also die Entstehung des
Staates, den Staatsgedanken, die Kämpfe um seine Erhaltung
und Erweiterung, sein Ausgreifen über die Grenzen, die Bil¬
dung zum Weltreiche, die ihn tragenden Kräfte und seine
lebensgefährlichen Krisen zur Hauptangelegenheit meiner
Darstellung gemacht. Methodisch bin ich dabei so verfahren,
daß ich diese Hauptdarstellung nahezu ausschheßlich auf
chinesische Quellen gegründet habe und zwar zunächst auf
die amtliche Chronistik, d. h. auf die Geschichtswerke der
Dynastien, dann aber auch auf nicht wenige andere einhei-
33«
496 O. Fbankb, „Geschichte des chinesischen Reiches"
mische Werke, einschheßUch solcher von modernen chinesi¬
schen Gelehrten, namentlich wenn es sich um Einzelfragen
handelte. Für die Behandlung der letzteren habe ich auch
abendländische Arbeiten benutzt oder zum wenigsten darauf
verwiesen. Das ist besonders in dem Anmerkungsbande
(Bd. III) geschehen, wo öfters auch Themen erörtert worden
sind, die zwar mit dem Hauptgegenstande nur eine lose Ver¬
bindung haben, mir aber als so wichtig erschienen, daß ich
sie nicht übergehen zu sollen glaubte. Vieles, dessen Behand¬
lung ebenfalls wünschenswert und bereits vorbereitet war, ist
aus Raumgründen schließlich doch ausgelassen worden. Ich
bin aber in allen Fällen bemüht gewesen, dem Leser, der ein
stärkeres Interesse an dem Gegenstande nimmt, durch Lite¬
raturangaben einen Weg zu zeigen, auf dem er sich genauer
darüber unterrichten kann.
Selbstverständlich habe ich nicht vertrauensselig alles hin¬
genommen, was die Quellen mitteilten, sondern mit kritischer
Vorsicht das ausgewählt, was mit der Logik der Tatsachen
übereinstimmte und innerlich wahrscheinlich war. Nament¬
lich bei der Beurteilung der handelnden Personen bin ich
dabei zuweilen zu anderen Auffassungen gelangt als die ein¬
heimischen Biographen. Kritik wird gegenüber den dynasti¬
schen Geschichtswerken um so notwendiger, je weiter man
in der Zeit vorwärts geht. Namentlich von der Sung-Zeit ab
wird die amtliche Geschichtschreibung unter dem unheil¬
vollen Einflüsse des dogmatisierten Konfuzianismus mehr und
mehr von einem unehrlichen Byzantinismus gelenkt, der Tat¬
sachen verschweigt oder ihre Bedeutung fälscht. In der Man¬
dschu-Zeit geht die Entartung so weit, daß die Darstellungen
nahezu unbrauchbar werden. Im ganzen läßt sich aber doch,
wenigstens bis zur Sung-Zeit, so viel sagen, daß die pin-ki
(ich habe sie als „Kaiser-Chronik" oder „Kaiser-Annalen" be¬
zeichnet) hinsichtlich der Tatsachen zuverlässig sind, vieles
allerdings verschweigen ; Meinungsäußerungen finden sich an
dieser Stelle nicht. In den Lebensbeschreibungen liegen die
Dinge anders. An Belegstellen habe ich es für meine Angaben
und Urteile nicht fehlen lassen.
O. Fbanke, „Geschichte des chinesischen Reiches" 497
Leider bin auch ich dem Schicksal nicht entgangen, das
so manchem, der ein großes Werk begann, zuteil geworden
ist: ich habe zu Beginn die Größe des gewaltigen Stoffes unter¬
schätzt, und nun wächst die Darstellung weit über das ge¬
setzte Maß hinaus. Hatte ich zuerst das ganze Werk auf drei
Bände berechnet, von denen nur zwei den Text enthalten
sollten, während in dem dritten das Quellenmaterial und
weitere Ergänzungen Platz zu finden hätten, so stellte sich
schon bei dem ersten Bande heraus, daß dieser Rahmen zu
eng gespannt war. Der vierte Band nähert sich jetzt im
Manuskripte seiner Vollendung und ein fünfter mit den dazu¬
gehörigen Anmerkungen soll ihm unmittelbar folgen. Aber
das Ende ist auch damit noch nicht erreicht: mit dem Be¬
ginn der Ming-Zeit wird der neue Textband abschließen, so
daß für den Schlußband noch die letzten sechs und ein halb
Jahrhunderte (bis 1912) zu behandeln übrigbleiben. Jüngere
Hände als die meinigen werden diesen Rest übernehmen
müssen.
Trotz alledem habe ich keinen Anlaß, die Anlage des
Werkes zu bedauern oder die gewählte Methode zu ändern.
Die Kritik ist darüber allerdings teilweise anderer Meinung,
und ich bin es dem Werke schuldig, mich mit diesen Stimmen,
die zum Teil aus Mißverständnissen herkommen, in kurzen
Worten auseinanderzusetzen.
Ich übergehe deshalb alle Besprechungen, die im ganzen
zustimmen oder nur an Einzelheiten Anstoß nehmen, und
wende mich zu denen, die das ganze Werk als solches ab¬
lehnen. Es sind die Urteile von drei Kritikern, die in Betracht
kommen, von einem Amerikaner, einem Deutschen und einem
Franzosen^).
1) Ich übergehe auch die Besprechung eines chinesischen Stu¬
denten, Hsü Dao-Lin, in „Sinica" VI. Jahrg. (1931) S. 127 ff. Der
jugendliche Verfasser ,,kann sich des Gefühls nicht erwehren, als ob
F. alles das in der chinesischen Geschichte zu bestreiten und zu
leugnen beabsichtige, was von den Chinesen irgend etwas Gutes und
Ehrwürdiges berichtet, und alles das betonen und unterstreichen
wolle, was den Chinesen als menschlich unfähig und moralisch minder¬
wertig zu erweisen geeignet ist." Die reichlich verworrenen Ausfüh-
498 O. Frankb, „Geschichte des chinesischen Reiches"
K. S. Latourette von der Yale Universität (Newhaven)
spricht sein Votum kurz, aber deutlich aus in der „American
Historical Review", April-Heft 1931. Er sagt: ,, Der Verfasser
glaubt, es stände genügend Wissen zu unserer Verfügung für
die Art von Aufgaben, die er sich gestellt hat, nämlich eine
Skizze der Hauptlinien der Geschichte des konfuzianischen
Staates zu geben, (ganz so bescheiden bin ich in der Ziel¬
setzung freilich nicht gewesen). Er meint, es sei dieser Form
des Staates zuzuschreiben, daß es China gelungen sei, die kul¬
turelle Einigkeit zu erlangen und zu erhalten." Nach Auf¬
zählung der verschiedenen Teile des ersten Bandes kommt er
zu dem Schluß, daß das Buch weder an Maspero's „La Chine
Antique", noch an Grousset's „Histoire de l'Extreme-
Orient" heranreiche. „Der Band fügt sehr wenig Neues, wenn
überhaupt etwas zu unserer Kenntnis des Gegenstandes hin¬
zu." Nach dem Satze über den Inhalt des Werkes und bei dem
bekannten Stande amerikanischer Sprachkenntnisse sind
Zweifel erlaubt, ob L. in seiner Lektüre weit über das In¬
haltsverzeichnis hinausgelangt ist. Zu dem Schluß muß ich
erklärend bemerken, daß ich nicht bloß für so sublime Geister
wie L. geschrieben habe, denen man vermutlich überhaupt
nichts Neues über China sagen kann, sondern für Historiker
und andere Personen, die sich genauer mit fernöstlicher Ge¬
schichte befassen wollen, sowie für Sinologen (namentlich
jüngere), die in ihrer Lektüre auf nicht geläufige Namen oder
Ereignisse stoßen und sie zum vollen Verständnis in den ge¬
schichtlichen Zusammenhang einordnen müssen.
Radikaler ist K. A. Wittfogel in Heft 31 von 1938 der
„Zeitschrift für Sozialforschung". Er nennt das Werk „einen
Rückfall krassester Art" (in was?) und entnimmt schon dem
Titel, daß es „nicht eine Geschichte des Volkes" sein will.
Infolgedessen, meint er, sähe ich auf den „Staatstyp, der
mächtige ökonomische Funktionen und einen entsprechenden
Hingen über Staatstheorien, ,, problematische Begriffe als kritische Maßstäbe zur Bewertung problematischer Gegenstände" u. ä. scheinen
das Ergebnis eines nicht ganz bewältigten Kollegs über Rechts¬
philosophie zu sein.
O. Franke, „Geschichte des chinesischen Reiches" 499
mächtigen bürokratisch-administrativen Apparat entwickelt,
mit den Augen eines nicht einmal orientalischen Höflings"
(ein abendländischer scheint ihm noch anstößiger zu sein).
Und da ich „die Welt vom Standpunkt eines Höflings aus
ansehe", so kennzeichnet er mich als „einen auf China ge¬
richteten verkümmerten Treitschke". W. ist Kommunist russi¬
scher Prägung. Er hat ein Werk über „Wirtschaft und Ge¬
sellschaft Chinas" geschrieben, dessen erster Band 1931 er¬
schienen ist. Darin erklärt er, daß er sich bemühe, „die
Marx'sche Methode des historischen Materialismus in ihrer
vollen materialistischen Intransigenz zur Anwendung zu
bringen". Bei solcher Geisteshaltung ist es nur folgerichtig,
daß W. jeden Wissenschaftler, der nicht am kastalischen
Quell marxistischer Weisheit getrunken hat, für eine von
vornherein verfehlte Existenz hält. Der Kommunismus, unter
allen Arten des politischen Doktrinarismus die verrannteste
und wirklichkeitsfremdeste, ist durch die Ereignisse der letz¬
ten zwei Jahrzehnte völlig über den Haufen geworfen, unter
seinen Trümmern sind auch der „historische Materialismus"
und alle „materialistische Intransigenz" W.s begraben.
Die letzte und weitaus eingehendste der drei Kritiken
stammt von H. Maspero vom College de France in Paris
und ist in der Oriental. Literaturzeitung, Mai-Juni 1942 er¬
schienen. M. gehört zu den Sinologen, die der Ansicht sind,
„eine wirkliche und vollständige Geschichte Chinas" würde
erst ,,nach vielen Jahrzehnten geschrieben werden können".
Für sie ist im Grunde die Frage sehr einfach: sie lehnen jeden
Versuch einer erneuten Gesamtdarstellung von vornherein ab
und schenken ihm keine weitere Beachtung. M. hat aber, im
Widerspruch zu seiner Ansicht, es dennoch für richtig ge¬
halten, sich mit meiner „Geschichte" zu beschäftigen, und
nicht einmal zum Zwecke des Nachweises ihrer Überflüssig¬
keit, sondern, wie seine Schlußsätze zeigen, eher zu dem einer
gewissen Nützlichkeit. Dabei macht er aber Einwendungen,
die ich in meinem Vorwort bereits entkräftet zu haben glaubte.
Die erste und wichtigste, aber auch erstaunlichste ist die fol¬
gende: „Fr. hat, wie es seine Vorgänger getan haben und wie
500 O. Franke, „Geschichte des chinesischen Reiches"
es, glaube ich, noch für lange Zeit viele seiner Nachfolger tun
werden, zur Grundlage das T'ung-kien kang-mu von Tschu Hi
genommen." Das ist ein Einwand, den ich von allen mög¬
lichen zu allerletzt erwartet hätte! Es fehlt nur der Zusatz,
ich hätte de Mailla, den Übersetzer des Kang-mu, zur Grund¬
lage gemacht, wie es M.s Landsmann Cordier getan hat.
Wer meine Abhandlung in den Sitzungsber. d. Preuß. Akad.
d. W. von 1930 „Das Tse-tschi t'ung-kien und das Tung-kien
kang-mu, ihr Wesen, ihr Verhältnis zueinander und ihr
Quellenwert" (ich habe III, 151 darauf hingewieseil) gelesen
hat, wo ich von Tschu Hi und seinem Kang-mu unter anderem
gesagt habe: „Was an geschichtlichen Aufzeichnungen in dem
Werke enthalten ist, stammt nicht von ihm; was von ihm
stammt, ist wenig und ungeschichtlich", und wer gesehen hat,
daß ich auf S. 7 des II. Bandes über Tschu Hi geurteilt habe,
„ihm sei geschichtliches Verständnis fremd" (selbst M. ist
dies nicht entgangen), wer endlich meine sonstigen nicht
wenigen Äußerungen über Tschu Hi und sein Werk (z. B.
III, 113f., 124, 227f., 242 und anderwärts) beachtet hat, dem
wird M.s Einwand ebenso unbegreiflich erscheinen wie mir.
M. hat es sogar für notwendig gehalten, auf die parteiische
Art von Tschu Hi hinzuweisen, die "lies in orthodox-konfu¬
zianischem Sinne zuspitze, zu diesem Zweck sogar die Tat¬
sachen ändere, jedenfalls durch die BehandlungdesTextes ihnen
eine Auslegung gebe, die den Geist der Vergangenheit fälsche.
Hätte M. von meiner eben erwähnten Abhandlung Kennt¬
nis genommen, so würde er gesehen haben, daß ich das alles
vor ihm viel ausführlicher gesagt und mit Belegen versehen
habe (vgl. auch III, 124). Ich habe Tschu Hi immer mit
seiner willkürlichen Textauslegung und seiner hochmütigen
Unduldsamkeit für den eigentlichen Schöpfer des konfuziani¬
schen Dogmas, damit aber für den Urheber der geistigen Er¬
starrung Chinas erklärt (vgl. auch Vorwort S. XXI und II, 8),
die schließlich für den Untergang des Staates zunächst ver¬
antwortlich wurde. Es ist ein starkes Stück, mir nachzusagen,
ich hätte — ausgerechnet! — diesen Mann und sein Werk
zur Grundlage meiner Darstellung gemacht !
O. Fbanke, ,, Geschichte des chinesischen Reiches" 501
Aber M. hält es für geraten, nach einer kleinen Milderung
seines Vorwurfs der Abhängigkeit von Tschu Hi zu suchen.
Ich hätte mich bemüht, sagt er, den Mängeln des T'ung-kien
kang-mu etwas abzuhelfen, indem ich „auf die dynastischen
Geschichtswerke zurückgegriffen hätte"; zum Beweise dessen
hat er sich die, wie mir scheint, gänzlich zwecklose Mühe
gemacht, die Stellen zusammenzustellen, wo diese Werke zi¬
tiert werden. (In Wirklichkeit sind es viel mehr und außerdem
zahlreiche andere Werke, aus denen geschöpft ist). Aber auch
in dieser Hinsicht stellt er — eine neue Überraschung! — so¬
gleich wieder meine Unselbständigkeit fest, indem er erklärt,
daß „für solche Auszüge aus den dynastischen Geschichts¬
werken" der Pater Wieger das Vorbild abgegeben habe. Ich
habe Wieger's ,, Histoire des Croyances religieuses" und „La
Chine ä travers les äges" gelegentlich herangezogen und dies
auch in meinem Vorwort (S. XXIV) vermerkt, aber in diesen
Werken finden sich keine Auszüge aus dynastischen Ge¬
schichtswerken. Ich will den rastlosen Fleiß des Verfassers
gewiß nicht verkleinern, aber das Werk, das M. vermutlich
im Sinne hat, die ,, Textes historiques", muß mit ganz be¬
sonderer Vorsicht benutzt werden. Wohl habe ich es öfters
zitiert, aber eigentlich nur, um auf seine Irrtümer und Ent¬
stellungen hinzuweisen (vgl. z. B. III, 138, 141, 160, 185,
231, 237, 248, 306, 419 u. a.). Genau wie Tschu Hi ist Wieger
von einer dogmatischen Engherzigkeit, die ihn ebenso wie
jenen allzu oft an der geschichtlichen Wahrheit vorbeisehen
läßt. Dazu kommt noch sein fanatischer Haß gegen alles
Chinesische, der ihn oftmals zu hämischen und gehässigen
Bemerkungen veranlaßt, wo sie durchaus nicht am Platze
sind (vgl. z. B. III, 342, 356 u. a.). Übrigens kann M. die
,, Textes historiques" kaum jemals vor Augen gehabt haben,
denn dann würde er gesehen haben, daß sie nicht einen ein¬
zigen ,, Auszug aus dynastischen Geschichtswerken" ent¬
halten, sondern nur Inhaltsangaben aus dem Text des Kang-
kien yi-tschi lu und, für die Neuzeit, aus einigen anderen Über¬
sichten. Die kurzen Fassungen aber haben den Verf asser mehr¬
fach den Zusammenhang verkennen lassen. Ich schätze den
502 0. Fbankb, „Geschichte des chinesischen Reiches"
Pater Wieger genau so hoch ein wie den Historiker Tschu Hil
M. wandelt auf Irrwegen, wenn er meint, der eine oder der
andere hätte mir als Vorbild oder als Grundlage gedient: sie
würden beide die letzten sein, die ich dafür erwählte. ,, Trotz
des löblichen Bemühens", fährt M. fort (das Kang-mu mit
den dynastischen Geschichtswerken zu berichtigen), ,,der Rah¬
men bleibt immer der von Tschu Hi. Es sind eben nicht ein
paar Einzelheiten, die abgeändert, berichtigt, ergänzt werden
müssen, sondern es ist der Geist selbst in dem Werke des
Philosophen der Sung, den man umbilden muß, um ibn
unseren Begriffen von Geschichte anzupassen." Was meint
M. mit „Rahmen" (cadre)? Da ich eine im wesentlichen poli¬
tische Geschichte schreibe, so muß ich mich an den chrono¬
logischen Verlauf der Entwicklung halten, dieser aber wird
bestimmt durch die Aufeinanderfolge und das Schicksal der
Dynastien. Das ist der Rahmen, in den ich meine Darstellung
spanne. Ich weiß keinen anderen, M. wahrscheinlich auch
nicht. Und wo steckt der Geist Tschu Hi's in meiner Dar¬
stellung. Wie ich über die Geschichtsauslegung des „Philo¬
sophen der Sung" denke, ist oben und auf der bereits erwähn¬
ten S. XXI des Vorwortes gesagt worden. Will man seinen
Geist aber in aller Klarheit erkennen, so tut man am besten,
sich an das, zwar nicht von Tschu Hi selbst, wohl aber auf
seine Anregung, in seinem Sinne und nach seiner Methode
nicht lange nach seinem Tode veröffentlichte Kommentar¬
werk TsS-tschi tung-kien kang-mu fa-ming und an das ähn¬
liche, den gleichen Geist atmende T'ung-kien kang-mu schu-fa
aus der ersten Hälfte des 14. Jahrh. zu halten. Ich habe beide
Werke oft zitiert, aber lediglich zu dem Zwecke, um die Auf¬
fassungen zu kennzeichnen, die das orthodoxe Literatentum
zur Sung-Zeit und später von gewissen Ereignissen oder Per¬
sönlichkeiten hatte, zugleich um die Absurditäten darzutun,
zu denen es dabei gelangen konnte (vgl. z. B. I, 277 f.; II, 52,
166; III, 124,356). Wie ich im allgemeinen zu den chinesischen
Quellen stehe, ist auf S. XXIII des Vorwortes gesagt. Ich
weiß nicht, wo M. den Geist Tschu Hi's noch sonst bei mir
entdeckt hat. Wer so schwere Vorwürfe erhebt, der muß kon-
O. Franke, „Geschichte des chinesischen Reiches" 503
kretere Beweise dafür bringen, so allgemeine Redewendungen
wie die obigen reichen dafür nicht aus.
Endlich rügt M. — und damit kommen wir zu greifbarerem
Stoffe —, daß ich Dinge übergangen oder nur flüchtig erwähnt
habe, die hätten herangezogen oder ausführlicher behandelt
werden müssen. Das ist ein Tadel, auf den ich gefaßt sein
mußte und der vielleicht auch später noch von anderen aus¬
gesprochen wird. Ich weiß darauf allgemein nichts anderes zu
erwidern, als was ich auf S. XX f. des Vorwortes gesagt habe,
ich wiederhole es deshalb hier. „Schon mit Rücksicht auf den
zur Verfügung stehenden Raum war ich gezwungen, nicht
bloß alles das fortzulassen, was, so bedeutungsvoll an sich
es sein mochte, zu meiner Aufgabe in keiner unmittelbaren
Beziehung stand, sondern auch vieles von dem, was sicherlich
für die Beleuchtung des geschichtlichen Entwicklungsganges
von Wert gewesen wäre, aber nicht durchaus notwendig und
darum entbehrlich schien. Manches mag mir auch entgangen
sein, was tatsächlich wichtiger war als das von mir Heran¬
gezogene. Die Auswahl im Stoff ist die entscheidende, aber
auch schwierigste Tätigkeit des Historikers, eine Verstümme¬
lung der Wirklichkeit bleibt sie immer. Der Leser, der ent¬
täuscht ist, nicht jede Frage und nicht jedes Gebiet gleich
eingehend, manches sogar gar nicht behandelt zu sehen, mag
sich diese erzwungenen Einschränkungen vor Augen halten.
Nur einiges von dem, was er nicht erwarten darf, will ich
nennen. Volkskunde, Religion, Literatur, Kunst, Wirtschaft
sind nicht annähernd nach ihrer Bedeutung an sich zur Gel¬
tung gekommen, obwohl vieles davon Wesen und Fortschritt
in der staatlichen Gemeinschaft anschaulich gemacht haben
würde, aber das Politische mußte in jedem Falle den Vorrang
haben, und manches, das zu eingehender Behandlung lockte
und sie auch wert war, ist erbarmungslos den Notwendig¬
keiten geopfert worden."
„Der Haupt Vorwurf", den er mir zu machen hat, sagt M.,
ist der, daß ich den ,, hochgradig {intensement) religiösen"
Charakter des Zeitalters der „Sechs Dynastien" nicht erkannt
hätte. Er gibt dann eine sachkundige, aber nicht besonders
504 O. Franke, „Geschichte des chinesischen Reiches'*
klare Darstellung von der Wandlung des Taoismus aus einer
Philosophie in eine Religion, d. h. in ,,ein Suchen nach dem
ewigen Leben" durch die Askese u. a., er weist darauf hin,
daß zu jener Zeit noch kein tiefer Gegensatz zwischen Taois¬
mus und Konfuzianismus bestand, daß zahlreiche Literaten
sowohl vom Taoismus wie vom Buddhismus die eine oder
andere Lehre unbedenkhch übernahmen und daß die Schei¬
dung erst eintrat, als zur T'ang-Zeit „die Lehreinheit des Kon¬
fuzianismus wiederhergestellt war"(?) usw. Ich will auf die
Frage der Richtigkeit von M.s Auffassungen hier nicht ein¬
gehen, es mag auch sein, daß es besser gewesen wäre, wenn
ich das Verhältnis der „drei Lehren" zueinander vor und
während der T'ang-Zeit im Zusammenhang behandelt hätte.
Einspruch erheben aber muß ich gegen die Art, wie M. mich
hier abzutun für gut befindet. „Was den Taoismus anlangt",
erklärt er, ,,8o erledigt ihn Fr. summarisch (V execute som-
mairement), indem er ihm den Namen ,Magiertum' anheftet,
danach ist, abgesehen von der Erwähnung einiger Aufstände
und einiger hervorspringender Tatsachen der Hof geschichte
fast niemals mehr die Rede von ihm." Wer sich die Mühe
macht, meine Ausführungen über Taoismus II, 273—275,
279—285, 590—594 nachzulesen, wo vieles von dem steht,
was M. darlegt, der wird erkennen, was von dem ,, summarisch
erledigen" M.s zu halten ist. Schlimmer noch ist aber das,
was M. am Ende seiner langen Belehrung zu bemerken hat.
,,Von allen diesen aufwallenden Lebenssphären, die von reli¬
giöser Leidenschaft kochen, sieht man in dem Buche von Fr.
nichts." Indessen mit herablassender Milde entschuldigt er
diese ,, Lücke": „Es ist eben der große Fehler des T'ung-kien
kang-mu, daß die religiösen Dinge darin sehr schlecht behan¬
delt werden, und dieser Fehler ist natürlich aus dem chinesi¬
schen Werke in das aller europäischen Geschichtschreiber
Chinas übergegangen, die beständig darauf fußen." Nach
dem, was oben gesagt ist, brauche ich über diese Art verirrter
Kritik kein Wort mehr zu verlieren.
Weiter nimmt M. daran Anstoß, daß ich den beiden großen
Dichtern Li Po und Tu Fu nur zwei Zeilen gewidmet hätte,
O. Fbanke, „Geschichte des chinesischen Reiches" 505
Goethe aber mit „seinen chinesischen Phantasien" ein Dut¬
zend. Ich habe versucht, die T'ang-Poesie mit wenigen Stri¬
chen zu kennzeichnen, dabei die Namen der wichtigsten
Dichter genannt und zur VeranschauHchung Goethe ange¬
führt, dessen Lyrik in einigen Kurzgedichten der der T'ang
verwandt ist. Entsprechend der von mir befolgten Methode
habe ich, wie überall, wo ich einen Gegenstand nicht ein¬
gehender behandeln konnte, so auch hier auf Literatur ver¬
wiesen, wo Näheres darüber zu fmden ist, in diesem Falle
(III, 443) auf Grube, „Geschichte der chinesischen Lite¬
ratur", S. 262 ff., wo weitere Quellen angegeben sind. Wenn
ich dabei Goethe zu Hilfe gerufen habe, so wird M. mir als
Deutschem diese Parallele schon erlauben müssen, weil ich
meinen deutschen Lesern damit die beste Anschauung zu ver¬
mitteln glaube.
Auch mit dem, was ich auf dem Gebiete der Wirtschaft
geboten habe, ist M. unzufrieden. Während die Darstellung
der Verfassung seinen Beilall findet, für die ich französische
Werke „weitgehend benutzt" hätte, {pleinement utilis^), er¬
scheint ihm die Wirtschaft „weniger glücklich". St. BalAzs'
„Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte der T'ang-Zeit" hätten
mir eine Übersicht über wichtige Agrarfragen bieten können,
die gänzlich mit Stillschweigen übergangen seien. Hier zeigt
sich besonders deutlich, wie wenig M. dem Beachtung ge¬
schenkt hat, was ich im Vorwort gesagt habe. In welchen
Grenzen ich die Abhandlungen von Des Retours benutzt
habe, ist III, 424 angegeben, über die Wirtschaft aber bin ich
gerade deshalb rascher hinweggegangen, weil eben in Ba-
Llzs' ausgezeichneter Arbeit bereits alles Notwendige gesagt
war und ich den Raum nicht aufwenden durfte, um alles
noch einmal zu wiederholen. Darüber, ob ich der Arbeit noch
Neues habe hinzufügen können, mag der Leser selbst urteilen.
Die Ansprüche, die M. als Religionsforscher auf stärkere
Berücksichtigung seines Faches stellt, können auch von dem
Volkskundler, dem Literatur- und Kunsthistoriker, dem Volks¬
wirtschaftler u. a. erhoben werden, was dem einen recht ist,
ist dem anderen billig. Alle diese Ansprüche mögen an sich
3
506 0. Fbanke, „Geschichte des chinesischen Reiches"
berechtigt sein, aber ihre Erfüllung scheitert einfach an den
harten Gegebenheiten von Raum und Zeit. Wenn diese Er¬
füllung jedoch als unerläßlich angesehen wird für eine ,, wirk¬
hche und vollständige Geschichte Chinas", dann werden aller¬
dings, wie M. meint, noch viele Jahrzehnte vergehen, bis
sie geschrieben werden kann, ja ich fürchte, daß sie nie¬
mals geschrieben werden wird. Aus wieviel Bänden sollte
dieser Koloß bestehen? Wie hoch soll das Lebensalter des
Verfassers werden? Welcher Verleger soll das Werk drucken?
und wie viele sollen es kaufen? Unter solchen Umständen
wäre zu erwägen, ob man nicht lieber eine Enzyklopädie der
Chinakunde schaffen sollte, nach dem Vorbilde der „Enzy¬
klopädie des Islam" oder der „Realenzyklopädie der klassi¬
schen Altertumskunde". Ein solches Unternehmen hätte
jedenfalls den Vorteil, daß alle Sinologen daran gleichzeitig
arbeiten könnten, während für die „wirkliche und vollstän¬
dige Geschichte", wenn sie ein einheitliches Werk werden soll,
eine solche Möglichkeit nicht besteht.
Inzwischen wird man mit meinem Versuche fürlieb nehmen
müssen. Die oben erwähnten Kritiken — zum Glück sind es
nicht die einzigen! — sind nicht eben ermutigend, zumal
wenn sie aus so groben Mißverständnissen hervorgehen ; trotz¬
dem reut es mich nicht, ihn unternommen zu haben. Niemand
kennt die Schwächen und Unzulänglichkeiten meiner Ge¬
schichte besser, niemand kann sie schmerzlicher empfinden
als ich, aber ihre Anlage und Methode für falsch zu halten,
haben mich auch meine Kritiker nicht veranlassen können.
Bestand und Benennung der Ras-Schamra-Texte Von Otto EiBfeldt
Der Ausbruch des gegenwärtigen Weltkrieges hat den
französischen Ausgrabungen, die 1929 auf den heute ras
eS-Samra „Fenchelhöhe" und minet el-bedä' „Weißer Hafen"
genannten nordsjTischen Nachbarfeldern, den Stätten einer
im 2. Jahrtausend v. Chr. blühenden, damals Ugarit heißen¬
den Stadt und ihres vielleicht in diesen Namen einbezogenen,
jedenfalls bisher eines Beleges für eine dem Namen Ugarit
gleichaltrige Benennung entbehrenden Halenvorortes'), be¬
gonnen worden sind, ein jähes Ende gemacht; die 10.
und 11. Kampagne von 1938/39 ist einstweilen leider die
letzte gewesen. Aber die Arbeit an den dem Boden abgewon¬
nenen Objekten, in erster Linie an den Texten, hat erfreu¬
licherweise trotz des Krieges ihren Fortgang genommen.
R. Dussaud konnte schon Anfang 1941 im Vorwort zur
zweiten Ausgabe seines Buches „Les Decouvertes de Ras
Shamra (Ugarit) et l'Ancien Testament" mitteilen, daß alle
Texte, einschließlich der 1938/39 zutage gekommenen, bald
veröffentlicht sein würden, und tatsächlich ist in den seitdem
verflossenen zwei Jahren das meiste davon vorgelegt worden.
Von den „großen"*), den „literarischen" Texten steht nur
1) Im folgenden wird der Name Ugarit von beiden Stätten ge¬
braucht und darüber hinaus, wie schon in der Überschrift geschehen,
auch der Name Ras Schamra auf minet el-be^ä' ausgedehnt.
2) Die Bezeichnung der einen Gruppe von Texten als ,, große"
oder ,, literarische" und der anderen als , .kleine", ,, unliterarische", ,, geschäftliche" ist nur ein Notbehelf, da jene keineswegs diese alle an
Umfang übertreffen noch bei ihnen bereits ausgemacht ist, welcher
Literaturgattung sie angehören ; denn auch ihre Benennung als ,,Epos",
die sich eingebürgert hat und auch hier gebraucht wird, stellt noch
nichts Endgültiges dar. So werden die Bezeichnungen „groß", „klein", ,, literarisch", „unliterarisch" usw. wenigstens bei ihrem ersten Vor¬
kommen in Anführungsstriche gesetzt.