Der
Sozialismus
und die Seele
des Menschen
Oscar Wilde,
3i?artiarti (College iLtbraru
IROM THE
l'kicK
<;ri-:k\li-:.\ffund
Residuarylegneynf $711,563fromE. Pricc Grcenlenf,
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VERSCHOLLENE MEISTER DER LITERATUR V
IL OSCAR WILDE. DREI ESSAYS
BERLIN
1904KARL SCHNABEL
AXEL JUNCKERS BUCHHANDLUNG
OSCAR WILDE:
DER SOZIALISMUS UND
DIESEELE DES MENSCHEN AUS DEM ZUCHTHAUS ZU READING
AESTHETISCHES MANIFEST
ÜEBERSETZT
VON
HEDWIG LACHMANN UND GUSTAV
LANDAUER
BERLIN
1904KARL SCHNABEL
AXEL JUNCKERS BUCHHANDLUNG
Alle Rechte vorbehalten.
VORBEMERKUNG
Der
erstederdreiEssaysdiesesBuches erschien unterdem
Titel„The
soulofman
under sorialism"
im
Februar 1891im
„Fortnighthly Review".
— Man
wird nun,wo
dieser verschollene Essay wieder ans Lichtkommt,
verstehen,warum
die eng- lische Gesellschaft diesen genialenMann,
der einst ihr verhätschelter Liebling war, solangeseineschönheitshungrige Seele mit ihnen zu spielen schien, später so tötlich hassteund
so infam ins Elend stiess. DieRache
der Sklaven ist schrecklich; die Rancune der Herren aber ist unsäglich.Eine Einsicht, die
einem
oft verwandtenZweitens folgt ein offener Brief, den
Wilde im
Jahre 1897, bald nach seiner Entlassung ausdem
Zuchthause zu Rea- ding,an
den Herausgeber des „Daily Chronicle" richtete. Sein Inhalt berührt sich mit bestimmten Stellen des vorher-gehenden
Essays, sodass erhieran
seinem Platze schien. Die Uebersetzung erschien zuerst 1897.Der
dritte Essay entstammt einem 1882 in Philadelphia erschienenen Ge- dichtebuch: Rose-leafand
Apple-leaf von RenneilRodd.
O.W.
schrieb unterdem
Titel L'Envoi (Zueignung) dazu eine Ein- führung.
Da
siehierselbständig erscheintund
die Kunstauffassung Wildeszum
erstenmal
und
in entscheidenderForm
ausspricht, schien der von uns gewählte Titel
—
der also nicht vonWilde stammt
—
angemessen.G. L.
6
1
DER SOZIALISMUS
UND
DIESEELE DES MENSCHEN
ergrössteNutzen, dendie Einführung des Sozialis-
mus
brächte, liegt ohne Zweifel darin, dass der Sozialismus uns von der schmutzigen Not- wendigkeit, für andere zu leben, befreite, die beim jetzigen Stand derDinge
so schwerauf fast allenMenschen
lastet. entgeht ihr in der Tat fast niemand.Hie
und da
istim
Lauf des Jahr- hundertsein grosserForscher wie Darwin, ein grosser Dichter wie Keats, ein schar- fer kritischerKopf
wie Renan, ein un- gemeiner Künstler wie Flaubert imstande gewesen, sich abzusondern, sich vorden
lärmendenAnsprüchen
der andern zu retten,„im
Schutz derMauer
zu stehen", wie Plato sichausdrückt,und
sozuseinem eigenen unvergleichlichenGewinn und
zum
unvergleichlichenund
bleibenden Ge-winn
der ganzenWelt
die Vollendung dessenzu erreichen,was
inihm
war.Das
sind aberAusnahmen.
Die meistenMen-
schen verderben ihrLeben
mit einem heillosen, übertriebenenAltruismus—
sie sind geradezu gezwungen, es zu tun. Sie sehen sichvon
scheusslicher Armut, scheusslicher Hässlichkeit, scheusslichem Hungerlebenumgeben. Es
ist unvermeid-lich, dass ihr Gefühl durch all das stark erregt wird. Die Gefühle des
Menschen bäumen
sich schneller auf als sein Ver- stand;und —
wie ich vor einiger Zeit in einem Aufsatz über dasWesen
der Kritikgesagthabe —
Mitgefühlund
Liebe zu Leidenden istbequemer
als Liebezum
Denken.Daher machen
sie sich mit be- wundernswertem, obschon falschgerichte-tem
Eifer sehr ernsthaftund
sehr gefühl- vollan
die Arbeit, die Uebel, die sie sehen,zu kurieren.Aber
ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht: sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stückder Krankheit.Sie suchen etwa das
Problem
der Ar-mut
dadurchzulösen, dasssie denArmen
10
am Leben
halten; oder—
das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung—
dadurch, dass sie für seine Unterhaltung sorgen.
Aber
das ist keine Lösung: das Uebel wird schlimmer dadurch.Das
eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesell- schaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht.Und
die altruistischenTugenden haben
tatsächlich die Errei-chung
dieses Ziels verhindert.Gerade
wie die schlimmsten Sklavenhalter die waren, die ihre Sklaven gut behandeltenund
so verhinderten, dass die Grässlichkeit der Einrichtung sich denen aufdrängte, die unter ihr litten,und
von denen gewahrt wurde, die Zuschauer waren, so sind inden
Zuständen unsererGegenwart
dieMenschen
die verderblichsten, dieam
meisten Gutes tun wollen;
und
wirhaben
es schliesslicherlebt, dass Männer,die das
Problem
wirklich studierthaben und
dasLeben kennen —
gebildete Männer, dieim Londoner
Eastend leben—
auftretenund
die Gemeinschaft anflehen, ihre al- truistischen Gefühleund
ihr Mitleid, ihreWohltätigkeit
und
dergleichen einschrän-ken
zu wollen.Das
tun sie mit der Be- gründung, dass solchesWohltun
herab- würdigtund
entsittlicht. Siehaben
völlig recht. Mitleid schafft eine grosse Zahl Sünden.Auch
dasmuss noch
gesagt werden.Es
ist unsittlich, das Privateigentum dazu zu benutzen, die schrecklichen Uebel zu lindern,die die Institution des Privateigen- tums erzeugt hat.Es
ist unsittlichund
nicht loyal.
Im
Sozialismus wird natürlich all das geändert sein.Es
wird keineMenschen
geben, die in stinkendenHöhlen und
stin-kenden Lumpen
lebenund
kranke Kinder in unmöglicherund
widerwärtigerUm- gebung
aufziehen. Die Sicherheit der Ge- sellschaft wird nicht wie heutevon
der Witterung abhängen.Wenn
Kälte ein- setzt, wird es nicht hunderttausend Ar- beitslose geben, die in ekelhaftem Elend die Strassen ablaufen oder ihren Mitmen- schen etwas vorweinen, bis sie ein Al-mosen
kriegen, oder sich vordem Tor
eines abscheulichen Asyls für Obdachlose
12
drängen,
um
ein Stück Brotund
ein un- sauberes Nachtquartier zuergattern.Jedes Mitglied der Gesellschaft wird an der all-gemeinen Wohlfahrt
und dem
Gedeihen der Gesellschaft teilhaben,und wenn
die Kältekommt,
wirddarum
in der Tat nie-mand im
geringsten schlechter gestellt sein.Andrerseits ist der Sozialismus ledig- lichdarumvonWert, weil er
zum
Individualis-mus
fuhrtDer
Sozialismus,Kommunismus,
oder wieimmer man
den Zustandnennen
will, gibt dadurch, dass er das Privateigentum ineine öffentlich-rechtliche Institution ver- wandeltund
die Genossenschaftan
die Stelle der Konkurrenz setzt, der Gesell- schaft ihren eigentlichen Charakter,den
eines
durchweg
gesunden Organismus, zurückund
sichertjedem
Glied der Ge- meinschaft das materielle Wohlergehen.Er
gibt inderTatdem Leben
seinerechte Grundlageund
seine rechteUmgebung.
Aber
für die volle Entfaltung des Lebenszum
höchstenGrad
seiner Vollendungtutnoch
etwasmehr
not.Was
not tut, istder Individualismus.
Wenn
der Sozialis-mus
autoritär ist:wenn
es inihm
Regie- rungengibt,die mitökonomischer Gewalt bewaffnet sind, wie jetzt mit politischer:wenn
wir mit einemWort den
Zustand der industriellen Tyrannishaben
werden:dann
wird die letzte Stufe desMenschen
schlimmer sein als die erste. Jetzt sind infolge des Vorhandenseins von Privat- eigentum sehr vieleMenschen
imstande, einen gewissen, recht beschränktenGrad
des Invidualismus zu erreichen.Entweder
stehen sie nicht unterdem
Zwange, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, odersie sind imstande, ein Tätigkeitsfeld zu wählen,das ihnenwahrhaftentspricht
und
ihnen Freude macht.Das
sind die Dich- ter, die Philosophen, die Forscher, die Geistmenschen—
miteinem
Wort, die wirklichen Menschen, die Menschen, die sich selbstverwirklichthaben und
indenen
die ganze Menschheit eine teilweise Ver- wirklichung findet. Andrerseits gibt es sehr viele Menschen, die nicht
im
Besitzvon
Privateigentumund immer
in Gefahr sind, inNot und Hunger
zu sinken; so14
sind sie
gezwungen
die Arbeit von Last- tierenzutun, Arbeit zutun, die ihnenganzund
gar nicht entspricht, zu der sie aber durchdieunerbittliche,unvernünftige, ent- würdigende Tyrannei derNot gezwungen
werden.Das
sind dieArmen, und
bei ihnen gibt es keine Grazie, keineAnmut
derRede, keine Bildung oderKulturoder Verfeinerung der Genüsse, keine Lebens- freude.
Aus
ihrer Gesamtkraft zieht die Menschheit viel materiellen Wohlstand.Aber
nur dieses materielle Ergebnis istder Gewinn,
und
derArme an
sich ist völlig wertlos.Er
ist nur das winzigsteAtom
einer Kraft, die, soweit er in Be- trachtkommt,
ihnvernichtet, der es sogar lieberist,wenn
er vernichtet ist, da er in diesem Fall willigerist.Natürlich könnte
man
sagen, der In- dividualismus, wie er unterden
Bedin-gungen
des Privateigentums entsteht, sei nicht immer, nicht einmal in der Regelvon
edlerund
erfreulicher Art,und
dieArmen
hätten,wenn
ihnenauch
Kulturund
Grazie abgingen,doch
viele Tugen- den. BeideBehauptungen wären
ganz15
richtig.
Der
Besitzvon
Privateigentumist sehr oft äusserst entsittlichend,
und
dasistnatürlicheinederUrsachen,warum
der Sozialismus die Einrichtung abschaf- fenwill.
Das Eigentum
istwirklichin derTat
eine Last.Vor
einigenJahrenreisten etlicheim Lande herum und
verkündeten, dasEigentum habe
Pflichten. Sie sagten es so oftund
sozum
Ueberdruss, dass schliesslich die Kirche angefangen hat, dasselbe zu sagen.Man
hört es jetztvon
jeder Kanzel herab.Es
ist völlig richtig.Das Eigentum
hat nichtnurPflichten, son- dern so viele Pflichten, dass es eine Lastist, viel
davon
zu besitzen. Fortwährendmuss man
aufs Geschäft achten, fort-während werden Ansprüche
geltend ge- macht, fortwährend wirdman
behelligt. vWenn
dasEigentum
nur Annehmlich- keiten brächte, könnten wir es aushalten;aber seine Pflichten
machen
es unerträg lieh.Im
Interesse der Reichenmüssen
wir es abschaffen. DieTugenden
derArmen können
bereitwillig zugegebenwerden und
sind sehr zu bedauern.Man
sagt uns oft, die
Armen
seien fürWohl-
16
taten dankbar. Einige von ihnen sind es
ohne
Frage; aber die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind un- dankbar, unzufrieden, unbotmässigund
aufsässig. Sie
haben
ganz recht, so zu sein. Sie fühlen, dass die Wohltätigkeit eine lächerlichungenügende
ArtderRück- erstattung ist, oder eine gefühlvolle Spende, die gewöhnlichvon einem
unver- schämten Versuch seitens des Gefühl- vollen begleitet ist, in ihrPrivatleben ein- zugreifen.Warum
sollten sie für die Bro-samen
dankbar sein, dievom
Tische des reichenMannes
fallen? Sie sollten mitan der Tafel sitzenund
fangen an, es zu wissen.Was
die Unzufriedenheit angeht, so wäre ein Mensch, dermit solcherUm- gebung und
so einer niedrigen Lebenshal- tung nicht unzufrieden sein wollte, ein vollkommenes Vieh. Unbotmässigkeit istfür jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche
Tugend
des Menschen.Durch
die Unbotmässigkeit ist der Fort- schrittgekommen,
durch Unbotmässigkeitund
Aufsässigkeit.Manchmal
lobtman
die
Armen wegen
ihrerSparsamkeit.Aber
17
den Armen
Sparsamkeit zu empfehlen, istebenso grotesk wie beleidigend.
Es
istdasselbe, als wollte
man einem
Halbver- hungerten empfehlen, weniger zu essen.Von einem
Stadt- oder Landarbeiterwäre es unmoralisch, sparen zu wollen. Nie-mand
sollte gewilltsein, zuzeigen, dass er wie ein schlecht gefüttertes Stück Vieh leben kann. Viele lehnenesdenn
auchab,und
ziehen es vor, zu stehlen oder aber insArmenhaus
zu gehen, wasmanche
für eineForm
des Stehlens halten.Was
das Bettelnangeht, soistessicherer,zubetteln als zunehmen,
aber es ist vornehmer, zunehmen
als zu betteln. Wirklich: einarmer Mann,
der undankbar, unsparsam, unzufriedenund
aufsässig ist, istvielleicht eine wirkliche Persönlichkeitund
hat viel insich. Injedem
Fallistereinheilsamer Protest.Was
dietugendhaftenArmen
an- geht, sokann man
sie natürlich bemit- leiden, aber es fällt schwer, sie zu respek- tieren. Siehaben
sich mitdem
Feind in Unterhandlungen eingelassenund
ihre Erstgeburt für eine Bettelsuppe verkauft.Sie
müssen auch
aussergewöhnlichdumm
18
sein. Ich
kann
völlig verstehen, dass einMann
Gesetze akzeptiert, die das Privat- eigenrum schützenund
erlauben, es auf- zuhäufen, solange er selbst unter diesenBedingungen
imstandeist,sichirgend eineForm
schönenund
geistigen Lebens zu schaffen.Aber
es ist fürmich
fast un- glaublich,wiejemand, dessenLeben
durch solche Gesetze verstümmeltund
besudeltworden
ist,ihre Fortdauer zuertragenver-mag.
Indessen ist die Erklärung in Wirk- lichkeit nicht schwer zu finden. Sie lautet einfach so.
Elend und Armut
sind so völlig entwürdigend,und
üben eine solähmende Wirkung
auf die menschliche Natur aus, dass eine Klasse sich ihres eigenen Leidensniemals wirklichselbstbe- wusst wird.Es muss
ihnen von andernMenschen
gesagtwerden,und
sieglauben ihnenhäufigdurchaus nicht.Was manche
grosseUnternehmer gegen
die Agitatoren sagen, istohne
Frage wahr. Agitatoren sind eine Art zudringlicher Störenfriede, die sich in eine völlig zufriedene Schicht derBevölkerungbegeben und
dieSaatder19
Unzufriedenheit unter sie säen.
Das
ist der Grund,warum
Agitatoren so absolut notwendigsind.Ohne
siegäbe
es inunse-rem unvollkommenen Gemeinwesen
kei- nerleiAnnäherung
an die Kultur. Als die Sklaverei inAmerika
unterdrückt wurde,, geschahes nicht infolge irgendeinesVor- gehensvon
seiten der Sklaven, nicht ein-mal
infolge einer ausgesprochenen Sehn- sucht ihrerseits, frei zu sein. Siewurde
lediglich durch das gröblich ungesetzliche
Vorgehen
gewisser Agitatoren in Bostonund
andern Orten unterdrückt, die nicht selbst Sklaven oder Sklavenhalterwaren und
in Wirklichkeit mit der Frage gar nichts zu tun hatten.Ohne
Zweifelwaren
es die Abolitionisten, die die Fackel ent- zündeten, die die ganze Sache anfingen.
Und
es ist seltsam zu sehen, dass sie bei den Sklaven selbst nicht nur wenig Bei- stand, sondern sogarkaum
Sympathien fanden;und
als die Sklavenam Ende
des Kriegesvor derFreiheitstanden,und
zwar vor einer so vollständigen Freiheit, dass sie die Freiheit hatten, zu verhungern,da
tat vielen unter ihnen der neue Stand der
20
Dinge
bitterleid.Für denkende Menschen
istdas tragischste Ereignis in der ganzen französischen Revolution nicht die Hin- richtung Marie Antoinettes, die getötet wurde, weil sie eine Königin war, son- dernderAufstand derausgesogenen Bau- ernderVend£e,die sichfreiwilligerhoben,
um
für die schmachvolle Sache des Feu- dalismus zu sterben.Es
istalso klar,dass esmitdem
auto- ritären Sozialismusnicht geht. Unterdem
jetzigen
System kann
wenigstenseinerecht grosse ZahlMenschen
einLeben
führen,<ias eine gewisse
Summe
Freiheitund
Mächtigkeitund
Glück aufweist, aber unter einem Industriekasernensystem oder einem System wirtschaftlicherTyran- nei wäreniemand
imstande, überhaupt ir-gend
solcheFreiheitzuhaben.Es
istsehr schlimm, dass ein Teil unserer Gemein- schaft sich tatsächlich in Sklaverei befin- det, aber der Vorschlag, dasProblem
so zulösen,dassman
dieganze Gemeinschaft versklavt, ist kindisch.Jedem muss
völlig dieFreiheit gelassen sein, sich selbst seine Arbeit auszusuchen. KeineForm
desZwangs
darf ausgeübt werden.Wenn Zwang
herrscht,dann
wird seine Arbeit nicht gut fürden
Arbeitenden seinund
nichtgiltfür dieandern. UnterArbeitver- steheich lediglichirgend eine Betätigung.
Ich glaube
kaum,
dass irgend ein So- zialist heutzutageim
Ernst vorschlagen könnte, ein Inspektor solle jedenMorgen
jedes
Haus
visitieren,um
nachzusehen,ob
jederBürger aufgestanden istund
sich an seine achtstündige körperliche Arbeit ge-macht
hat. Die Menschheit ist über diese Stufehinausgekommen und
überlässtdiese ArtLeben den
Menschen, diesie sehr un- vernünftigerWeise
Verbrecher zunennen
beliebt.
Aber
ichgestehe,viele sozialistische Anschauungen, denen ich begegnet bin, scheinenmirmit unsaubern Vorstellungen von autoritärer Gewalt,wenn
nicht tat-sächlichem
Zwang
behaftet zu sein. Auto- ritäre Gewaltund Zwang können
natürlich nichtin Fragekommen.
AlleVereinigungmuss
ganz freiwillig sein.Nur
in freiwilli- gen Vereinigungen ist der Mensch schön.Aber
eskann
gefragtwerden, wieder Individualismus, derjetzt zu seiner Entfal-22
tung
mehr
oder weniger die Existenz des Privateigentums braucht,aus derAbschaf- fungdieses Privateigentums Nutzenziehensoll. Die Antwort ist sehr einfach. Aller- dings
haben
unterden
bestehenden Ver- hältnissen ein paarMänner,
dieim
Be-sitz von Privatmitteln waren, wie Byron, Shelley, Browning, Victor
Hugo,
Baude-laire
und
andere, ihre Persönlichkeitmehr
oder weniger vollständig verwirklichen können. Keinervon diesenMännern
tatje ein einzigesTagewerk um
desLohnes
willen. Sie
waren
derArmut
ledig. Sie hatten einen ungeheuren Vorteil. Die Frage ist,ob
esdem
Individualismus zu- gutekäme,wenn
ein so grosserVorteilab- geschafft würde.Nehmen
wir an, er sei abgeschafft.Was
wirddann
ausdem
In- dividualismus?Welchen
Nutzenhater da- von?Der
Nutzen wird so beschaffen sein.Unter den neuen
Umständen
wird der In- dividualismus viel freier, viel schönerund
vielintensiver sein als heutigen Tags. Ich spreche nicht
von
der grossen Phantasie- wirklichkeit der Individualität bei solchenDichtern, wie ich sie eben genannt habe, sondern von der grossen tatsächlich wirk- lichen Individualität, die in der Mensch- heit
im
allgemeinen latentund
bereit ist.Denn
dieAnerkennung
des Privateigen-tums
hat in der Tatden
Individualismus geschädigtund
verdunkelt,indem
es denMenschen
verwechselte mit dem,was
er besitzt.Es
hat den Individualismusvöllig in die Irre geführt.Es
hatihm
Gewinn, nichtWachstum zum
Ziel gemacht.So
dass derMensch
dachte, die Hauptsachesei zu haben,
und
nicht wusste, dass es die Hauptsache ist, zu sein. Die wahreVoll- kommenheit des Menschen liegtnicht in dem, was er hat, sondern in dem, was er ist.Das
Privateigentumhatden wahren
Individua- lismus vernichtetund
einen falschen hin- gestellt.Durch Aushungern
hat eseinem
Teilder Gemeinschaft dieMöglich- keitbenommen,
individuell zu sein.Es
hatdem
andernTeilderGemeinschaft die Möglichkeit, individuell zu sein,benom- men, indem
es ihn aufden
falschenWeg
brachte
und
ihn überbürdete. In der Tatist die Persönlichkeit des
Menschen
so24
völlig
von
seinem Besitz aufgesogen worden, dass das englische Gesetz stets einen Angriffgegen
dasEigentum
einesMenschen
weit strenger behandelt hat alsgegen
seine Person;und
einguterBürger wirdimmer noch
daran erkannt, dass erEigentum
hat. Die Betriebsamkeit, diezum
Geldverdienen erforderlich ist, ist gleichfalls sehr demoralisierend. In einer Gemeinschaft wie der unsern,wo
dasEigentum Rang,
gesellschaftliche Stellung, Ehre,Würde,
Titelund
andereangenehme Dinge
der Art verleiht,macht
es der Mensch,ehrgeizigwie ervon
Naturwegen
ist,zu seinem Ziel, solches
Eigentum
anzu- häufen,und
fährt damit bis zurErmü- dung und zum
Ueberdruss fort,auchwenn
er weitmehr
aufgehäufthat,alser braucht oder benutzenkann,jasogar mehr, als ihn erfreutUnd
mehr,alserweiss.Der Mensch
arbeitet sich zu Tode,
um Eigentum
zu erlangen,und wenn man
freilich die un- geheurenVorteile sieht, diedasEigentum
mit sich führt, ist es nichtzum Verwun-
dern.
Bedauern muss man,
dass die Ge- sellschaft so aufgebaut ist, dass derMensch
in eineGrube
gezwängtist,wo
er nichtsvon dem
frei zur Entfaltungkommen
lassen kann,was
Schönesund Bannendes und
Köstliches inihm
ist—
wo
er tatsächlich diewähre
Lustund
diewahre
Freudeam Leben
entbehrt.Auch
lebt er unter
den
gegenwärtigenUmstän- den
sehrunsicher.Ein
ungeheuerreicherKaufmann kann
injedem
Augenblick seines Lebens aufGnade und Ungnade Dingen
überliefert sein—
ist es oft—
,
auf dieerkeinen Einflusshat.
Der Sturm
wütet ein bisschenmehr
als sonstoder so ähnlich,oderdas Wetter ändertsichplötz- lich, oder irgend eine triviale Sache tritt ein,und
sein Schiff geht unter, seine Spe- kulationengehen
schief, er ist einarmer Mann und
seine gesellschaftliche Stellungistverloren.
Nun,
nichts sollte einenMen-
schen schädigen können, es seidenn
er selbst. Nichts überhaupt sollte einenMen-
schenärmermachen
können.Was
inihm
ist, das hat der
Mensch
wirklich.Was
draussen ist, sollte
ohne Bedeutung
sein.Nach
der Abschaffung des Privat- eigentumswerden
wir alsoden
wahren,26
schönen,gesunden Individualismus haben.
Niemand
wird seinLeben
damit vergeu- den, dass erSachen und
Sachwerte an- häuft.Man
wird leben.Leben —
es gibt nichts Selteneres inder Welt. Diemeisten Leute existieren, weiter nichts.Es
ist die Frage,ob
wir jemals eine Persönlichkeit sich völlighaben
ausleben sehen,es seidenn
in der Phantasiesphäre der Kunst. In der Wirklichkeithaben
wir esniegesehen. Cäsar, so sagtunsMomm-
sen,
war
dervollkommene und
vollendete Mensch.Aber
wie tragisch unsicherwar
Cäsars Existenz! Immer,wenn
es einenMann
gibt, derMacht
ausübt,gibt es auch einenMann,
der derMacht
widersteht.Cäsar
war
sehr vollkommen, aber seine Vollkommenheit ging einen zu gefähr- lichenWeg. Marc
Aurelwar
der vollkom-mene
Mensch, sagt Renan. Ja; der grosse Kaiserwar
ein vollkommener Mensch.Aber
wie unerträglichwaren
die ewigen Forderungen, diean
ihn gestellt wurden!Er
taumelte unter der Last desRömischen
Reiches.Er war
sich bewusst, wie wider- sinnig es war, dass ein einzelnerMensch
27
die Last dieses titanischen, ungeheuren Reiches tragen sollte. Unter
einem
voll-kommenen Menschen
verstehe ich einen, der sich untervollkommenen
Zuständen ausleben kann; einen, der nicht verwun- det oder zerbissen oder verkrüppelt oder in ewiger Gefahr ist. Die meisten Persön- lichkeiten waren genötigt, Empörer zu sein.Ihre halbe Kraft hat die Reibung mit der Aussenwelt verbraucht. Byrons Persönlich- keit
zum
Beispielwurde
in ihremKampf
mitder
Dummheit und
Heucheleiund
Phi- listerhaftigkeit der Engländer schrecklichmitgenommen.
SolcheKämpfe machen
die Kraftnichtimmer
intensiver:oftlassensie dieSchwäche
insUngemessene
wachsen.Byron
hatuns niemalsgeben
können,was
er uns hättegeben
können. Shelleykam
besser davon. Gleich
Byron
verliess erEngland
sobald als möglich.Aber
erwar
nicht so bekannt.Wenn
die Engländer eineAhnung
gehabt hätten,was
für ein grosserDichter erinWirklichkeitgewesenist, sie
wären
über ihn hergefallenund
hättenihm
seinLeben
so unerträglich ge- macht, wie sie irgend konnten.Aber
er28
spielte in der Gesellschaft keine grosse Rolle
und
entrann daher bis zu gewissem Grad.Aber
auch inShelleyistdieNuance
derEmpörung manchmal noch
zu stark.Die
Nuance
dervollkommenen
Persönlich- keit ist nichtEmpörung,
sondern Friede.Sie wird etwas
Wunderbares
sein—
die eigentliche Persönlichkeit des
Men-
schen— wenn
sie sich uns zeigen wird.Sie wird in natürlicher
und
einfacher Art wachsen, wie eine Blume, oder wie einBaum
wächst. Sie wird nichtim
Streit liegen. Sie wird nie argumentieren oder disputieren. Siewirdnichts inderWelt
be- weisen. Sie wird alles wissen.Und doch
keinen Wissenschaftsbetrieb kennen. Sie wird weise sein. IhrWert
wird nicht mit materiellenDingen
messbar sein. Siewird nichtshaben.Und
wirddoch
alleshaben,und
sovielman
ihr auch nimmt, sie hat noch immer, so reich istsie. Sie wirdsich nichtimmer um
anderekümmern
oder von ihnenverlangen,siesolltenebensosein wie sie selbst. Sie wird sie lieben, weil sie anders sind.Und
doch,während
sie sichum
andre nichtkümmert,
wird sieallen helfen, wie etwas Schönes uns hilft,
indem
es ist, wie es ist. Die Persönlich- keit desMenschen
wird sehr wundervollsein. Siewird so wundervoll sein, wie die Persönlichkeit eines Kindes.
In ihrer Entfaltung wird sie
vom
Christentum gefördert werden,
wenn
dieMenschen
das lieben;wenn
sie es aber nicht lieben, wird sie sich auch so mit Sicherheit entfalten.Denn
sie wird sich nichtum
Vergangenes zerreissenund
wird sich's nichtkümmern
lassen,ob
sich etwas ereignet hat odernicht ereignethat.Auch
wird sie keine Gesetze anerkennen als ihre eigenen;und
keine Autorität als ihre eigene.Doch
lieben wird sie die, die ihre Mächtigkeit vorbereitet haben,und
wird oftvon
ihnen sprechen.Und
derer einerwar
Christus.„Erkenne
dichselbst/*standüberdem
Portal der antiken
Welt
zu lesen.Ueber dem
Portal der neuenWelt
wird stehen:„Sei
du
selbst.4'Und
die BotschaftChristian den Menschen
lautete einfach: „Seidu
selbst."
Das
ist das Geheimnis Christi.30
Wenn
Jesus vondenArmen spricht,meint er einfach Persönlichkeiten, gerade wie er,wennervon denReichenspricht,einfach Leute meint, die ihre Persönlichkeit nicht ausge- bildet haben. Jesus lebte in einer Gemein- schaft, die gerade wie unsere die
Anhäu-
fung vonPrivateigentumerlaubte,und
das Evangelium, das er predigte, hiess nicht, es sei in einer solchen Gemeinschaft von Vorteil,von
karger, verdorbenerNah-
rungzuleben,zerlumpte,beschmutzteKlei- derzutragen, in entsetzlichen,ungesunden
Wohnungen
zu hausen,und
es sei von Nachteil,ingesunden,erfreulichenund
ge- ziemenden Verhältnissen zu leben. Solch ein Standpunkt wäre damalsund
in Pa- lästina falsch gewesen,und
wäre natürlich heuteund
inunserm
Himmelsstrich noch falscher;denn
je weiter derMensch
nachNorden
rückt,um
so lebenentscheidender wird die materielle Notdurft,und
unsere Gesellschaft ist unendlich komplizierterund
weist weit stärkere Gegensätze vonLuxus und Armut
auf als irgend eine Ge- sellschaft der antiken Welt.Was
Jesus gemeint hat, ist folgendes.Er
sagtedem
Menschen
:„Du
hast eine wundervollePer- sönlichkeit. Bilde sie aus. Seidu
selbst.Wähne
nicht, deine Vollkommenheit liege darin, äussereDinge
aufzuhäufen oder zu besitzen. Deine Vollkommenheit istin dir.Wenn du
die nur verwirklichen könntest,dann
brauchtestdu
nicht reich zu sein.Der
gemeineReichtum kann einem Men-
schen gestohlen werden.Der
wirklicheReichtum
nicht. In derSchatzkammer
deiner Seele gibt es unendlich wertvolle Dinge, die dir nichtgenommen werden
können.Und
also, suche deinLeben
so zugestalten, dass äussereDinge
dich nicht kranken können.Und
sucheauch
dasper- sönlicheEigentum
loszuwerden.Es
führt niedriges Gebaren, endlose Angst, ewiges Unrecht mit sich. PersönlichesEigentum hemmt
die Individualität beijedem
Schritt."
Es
ist zu beachten, dass Jesus nie sagt,arme
Leute seiennotwendiggut, oderreiche Leutenotwendigschlecht.Das wäre
nichtwahr
gewesen. ReicheMen-
schensindals Klasse besseralsarme,mo-
ralischer, geistiger, gesitteter.
Es
gibt nur eine Klasse in der Gemeinschaft, die mehr32
ans Geld denkt, als die Reichen, und das sind die Armen. Die
Armen können
an nichtsanderes denken.Das
istderJammer
der Armut. Jesus also sagt, dass der
Mensch
seine Vollendung erreicht: nicht durch das,was
er hat, nicht einmal durch das,was
ertut, sondern ganzund
gardurch das,was
er ist.Daher
also ist der reiche Jüngling, der zu Jesuskommt,
als durch- aus guter Bürger hingestellt, der kein Staatsgesetz, kein Gebot seiner Religion verletzt hat.Er
ist ganz respektabel,im
gewöhnlichen Sinn dieses ungewöhnlichen Wortes. Jesus sagt zu ihm:„Du
solltest das Privateigentum aufgeben.Es
hindert dich an der Verwirklichung deiner Voll- kommenheit.Es
ist eine Fessel für dich.Es
ist eine Last. Deine Persönlichkeit braucht es nicht. In dir selbst, nicht draussen findest du, wasdu
wirklich bistund was du
wirklich brauchst." Seinen Jüngern sagt er dasselbe.Er
fordert sie auf,sieselbstzu seinund
sich nichtimmer
um
andereDinge
zu ängstigen.Was
be- deuten andereDinge? Der Mensch
ist in sich vollendet.Wenn
sie in die Welt 333
gehen, wird die
Welt
sich ihnen wider- setzen.Das
ist unvermeidlich. DieWelt
hasst die Individualität.
Aber
das soll sie nichtkümmern.
Sie sollen stillund
insich gekehrt sein.Wenn jemand
ihnen den Mantel nimmt, sollen sieihm
denRock
noch dazu geben, ebenum
zuzeigen, dass materielleDinge
keineBedeutung
haben.Wenn
die Leute sie beschimpfen, sollen sie nicht antworten.Was
liegt daran?Was
dieLeute voneinemMenschen
sagen, ändert denMenschen
nicht.Er
ist,was
erist. Die öffentliche
Meinung
hat keiner- lei Wert. Selbstwenn
die Leute Gewalt anwenden, sollen sie sich nicht zurWehr
setzen.
Damit
sänken sie auf dieselbenie- drige Stufe.Und
schliesslichkann
einMensch
selbstim
Gefängnis völlig frei sein. Seine Seelekann
frei sein. Seine Persönlichkeitkann unbekümmert
sein.Friede
kann
inihm
sein.Und
vor allem sollensiesichnichtinandrerLeute Sachen einmischen odersie irgendwierichten.Um
die Persönlichkeit ist es etwas sehr Ge- heimnisvolles. Ein
Mensch kann
nichtimmer
nach dem,was
ertut, beurteiltwer-34
den.
Er kann
das Gesetz haltenund
doch nichtswürdig sein.Er kann
das Gesetz brechenund
doch edel sein.Er kann
schlecht sein,ohne
je etwas Schlechtes zu tun.Er kann
eineSünde
gegendie Gesell- schaft begehen,und doch
durch dieseSünde
seinewahre
Vollkommenheit er- reichen.Es war da
eine Frau, diebeim
Ehe- bruch ergriffenworden
war.Man
be-richtetunsnichtsüberdieGeschichteihrer Liebe, aber diese Liebe
muss
sehr grossgewesen
sein;denn
Jesus sagte, ihreSünden
seien ihr vergeben, nicht weil sie bereute, sondern weil ihre Liebe so starkund wunderbar
war. Später, kurze Zeit vor seinem Tode, als erbeim Mahle
sass,kam
dasWeib
hereinund
goss kostbareWohlgerüche
auf sein Haar. SeineJünger wollten siedavon
abhaltenund
sagten, es sei eine Verschwendung,und
das Geld, das dieses köstlicheWasser
wertsei, hättemögen
für wohltätige Zwecke, fürarme
Leute oderdergleichen verwendet werden.Jesus trat
dem
nicht bei.Er
betonte, die leiblichen Bedürfnisse desMenschen
seien35
3*
gross
und immerwährend,
aber die geisti-gen
Bedürfnisse seiennoch
grösser,und
in einem einzigen göttlichen
Moment,
in einer Ausdrucksform, die sie selbst be- stimmt,könne
eine Persönlichkeit ihre Vollkommenheit erlangen. DieWelt
ver- ehrt dasWeib noch
heute als Heilige.Wahrlich, es ist viel Wundervolles
im
Individualismus.Der
Sozialismuszum
Bei- spiel vernichtet das Familienleben. Mit der Abschaffung des Privateigentumsmuss
dieEhe
in ihrer bisherigenForm
verschwinden.
Das
ist ein Teil des Pro-gramms. Der
Individualismusnimmt
das aufund
verwandelt es in Schönheit.Er macht
aus der Abschaffung gesetzlichenZwanges
eineForm
der Freiheit, die die volle Entfaltung der Persönlichkeit för-dernwird,
und
die Liebe desMannes und
derFrau
wunderbarer, schönerund
edler macht. Jesus wusste das.Er
wies die An- sprüche des Familienlebens zurück, ob- wohlsie in seiner Zeitund
seiner Gemein- schaft in sehr ausgeprägterForm
bestan- den.„Wer
ist meine Mutter?Wer
sind meine Brüder?" fragte er, alsman ihm
36
sagte, dass sie ihn zusprechen wünschten.
Als einer seiner Jünger
um
Urlaub bat,um
seinen Vater zu beerdigen,war
seine schreckliche Antwort: „Lass dieToten
ihre
Toten
begraben/'Er
wollte nicht dulden, dass irgend einAnspruch
an die Persönlichkeit herantrat.So
alsoistder, derein christusgleichesLeben
führen will,vollkommen und
voll- ständig er selbst.Er mag
ein grosser Dichter sein oder ein grosser Forscher;einjunger Student oder ein Schafhirt auf der Heide; ein Dramatiker wie Shake- speareoderein gottdenkender
Mensch
wie Spinoza; ein spielendesKind im
Garten oder ein Fischer, der seine Netze aus- wirft.Es kommt
nicht darauf an,was
erist, solange er die Vollkommenheit der Seele verwirklicht, die in
ihm
ist. AlleNachahmung
in moralischenDingen und im Leben
ist von Uebel.Durch
die Strassen Jerusalems schleppt sichheutigenTages
einWahnsinniger, dereinhölzernes Kreuz aufden
Schultern trägt.Er
ist einSymbol
der Leben, die dieNachahmung
verkrüppelt hat. Vater
Damien war
christusgleich, als er hinausging
und
mitden
Aussätzigen lebte, weil er in diesem Dienst völlig verwirklichte,was
Bestes inihm
war.Aber
erwar
nichtmehr
christus- gleich alsWagner,
der seine Seele in derMusik
verwirklichte, oder als Shelley, der die Verwirklichung seiner Seeleim
Liede fand.Es
gibt nicht nur einenTypus
des Menschen.Es
gibt so vieleVollendungen,alses
unvollkommene Menschen
gibt.Den
Anforderungen des Mitleidskann
einMann nachgeben und
doch frei sein; denAnsprüchen
aber, die alle gleichmachen
wollen,
kann niemand nachgeben und
da- bei frei bleiben.Zum
Individualismus alsowerden
wir durchden
Sozialismuskommen. Es
liegt in der Natur der Sache, dass der Staat das Regieren ganzund
gar sein lassen muss.Er muss
es sein lassen; denn, wie ein weiserMann
einst viele Jahrhunderte vor Christus gesagt hat, so etwas,wie die Menschheit inRuhe
lassen, gibt es; aber so etwas, wie die Menschheit regieren, gibt es nicht. Alle Arten, regieren zu wollen, sind verkehrt.Der
Despotismus ist unge-38
recht
gegen
jedermann,den
Despoten in- begriffen, der wahrscheinlich fürBesseres bestimmt war. Oligarchien sind unge- rechtgegen
die vielen,und
Ochlokratien sind ungerechtgegendiewenigen. GrosseHoffnungen
setzteman
einst auf die De- mokratie;aberDemokratie bedeutetledig- lich, dass dasVolk
durch dasVolk
für dasVolk
niedergeknüppelt wird.Man
istdahinter
gekommen.
Ichmuss
sagen, dass eshohe
Zeit war,denn
jede autoritäreGe- walt ist ganz entwürdigend. Sie entwür- digtdie, die sie ausüben,und
ebenso die,über die sie ausgeübt wird.
Wenn
sie ge- walttätig,rohund grausam
verfährt,bringt sie eine guteWirkung
hervor,indem
siedenGeistder Rebellion
und
des Individua- lismus erzeugt oder wenigstens hervor- ruft, der ihreinEnde machen
wird.Wenn
sie in einer gewissen freundlichen
Weise
verfährtund Belohnungen und
Preisever- leiht, ist sie schrecklich entsiit'ichend. DieMenschen merken dann
den schrecklichen Druck, der auf ihnen lastet, wenigerund
gehen
in einer Art gemeinenBehagens
durchsLeben und
wie gehätschelte Haus-tiere,
und
siemerken
nie,dass sie anderer LeuteGedanken
denken, dass sie nach anderer LeuteNormen
leben, dass sie wahrhaftig anderer Leute abgelegte Klei- der tragenund
nie einen einzigenAugen-
blick lang sie selbst sind.
„Wer
frei sein will/4sagteingrosserDenker,„muss
Dissi- dent sein." Die Autorität aber, die dieMenschen
dazu bringt, sich zu nivellierenund
anzupassen, erzeugt unter uns eine sehr rohe Art satter Barbarei.Mit der autoritären Gewalt wird die Justiz verschwinden.
Das
wird ein grosserGewinn
sein—
einGewinn
von wahrhaftunberechenbarem
Wert.Wenn man
die Geschichte erforscht, nicht in den ge- reinigten Ausgaben, die für Volksschülerund
Gymnasiasten veranstaltet sind, son- derninden echten Quellen aus derjeweili-gen
Zeit,dann
wirdman
völligvon Ekelerfüllt, nicht
wegen
der Taten der Ver- brecher, sondernwegen
der Strafen, die dieGuten
auferlegt haben; und eine Ge- meinschaft wird unendlich mehr durch das gewohnheitsmässige Verhängen von Strafen verroht als durch das gelegentliche Vorkom-mt)
men von Verbrechen. Daraus ergibt sichvon
selbst, dass je
mehr
Strafenverhängtwer- den,um
somehr
Verbrechen hervorgerufen werden,und
die meisten Gesetzgebungen unserer Zeithaben
dies durchaus aner- kanntund
es sich zurAufgabe
gemacht, die Strafen, soweit sie es für angängig hielten, einzuschränken.U
eberall,wo
sie wirklich eingeschränkt wurden,waren
die Ergebnisseäusserst gut. JewenigerStrafe,um
soweniger Verbrechen.Wenn
esüber- haupt keine Strafemehr
gibt, hört das Verbrechen entweder auf, oder, falls es noch vorkommt, wird es als eine sehr be- dauerlicheForm
desWahnsinns,diedurch Pflegeund
Güte zu heilenist,von Aerzten behandelt werden.Denn was man
heut- zutage Verbrecher nennt, sind überhaupt keine Verbrecher. Entbehrung, nichtSünde
ist die Mutter des Verbrechens unsererZeit.Das
istinderTatderGrund,warum
unsere Verbrecher als Klassevon
einem irgend psychologischen Standpunkt aus so völlig uninteressant sind. Sie sind keine erstaunlichenMacbeths und
schreck- lichen Vautrins. Sie sind lediglich das,was
gewöhnliche respektable Dutzend-menschen
wären,wenn
sie nichtgenug
zu essen hätten.Wenn
das Privateigentum abgeschafft ist, wird es keine Notwendig- keitund
keinen Bedarf für Verbrechen geben; siewerden
verschwinden. Natür- lichsindnichtalleVerbrechen Verbrechengegen
das Eigentum, obwohl dasdie Ver- brechen sind, die das englische Gesetz, dasdem, was
einMensch
hat,mehr Wert
beimisstals dem,was
erist, mit der grau- samstenund
fürchterlichsten Strenge be- straft, wofern wirvom Mord
absehenund den Tod
für ebenso schlimm halten wie das Zuchthaus, worüber unsere Ver- brecher,glaubeich,andererMeinung
sind.Aber wenn
auch ein Verbrechen nichtgegen
dasEigentum
gerichtet ist,kann
es
doch
ausdem
Elendund
derWut und
der Erniedrigung entstehen, die unsere verkehrte Privateigentumswirtschaft her- vorbringen,und
wird so nach derAb-
schaffung dieses Systems verschwinden.Wenn
jedes Glied der Gemeinschaft so- viel hat, als es brauchtund von
seinenMitmenschen
nicht behelligt wird, hat es42
kein Interesse daran, andern lästig zu werden.
Der
Neid,dem im Leben
unserer Zeit ausserordentlichvieleVerbrechenent- springen, ist ein Gefühl, das mit unseren Eigentumsbegriffeneng
verbundenist;im
Reiche des Sozialismusund
Individualis-mus
wird er verschwinden.Es
ist bemer- kenswert, dass derNeid
bei kommunisti- schenStämmen
völlig unbekannt ist.Wenn nun
der Staat nicht zu regieren hat,kann
gefragt werden, was er zu tun hat.Der
Staat wird eine freiwillige Ver- einigung sein, die die Arbeit organisiertund
der Fabrikantund
Verteiler der not- wendigen Güterist. DerStaathatdas Nütz- lichezu tun.Das
Individuumhatdas Schöne zu tun.Und
da ich dasWort
Arbeit ge- braucht habe, will ichnichtunterlassen zu bemerken, dass heutzutage sehr vielUn-
sinnüber dieWürde
der körperlichen Ar- beit geschriebenund
gesprochenwird.An
der körperlichen Arbeit ist ganz
und
gar nichts notwendig Würdevolles,und
meistens ist sie ganzund
gar entwürdi- gend.Es
ist geistigund
moralisch ge-nommen
schimpflich für den Menschen,irgend etwas zu tun,
was ihm
keineFreude macht,und
vieleFormen
der Arbeit sind ganz freudlose Beschäftigungenund
soll-tendafürgehalten werden. Einenkotigen Strassenübergang bei scharfem Ostwind acht Stunden
im Tag
zu fegen ist eine widerwärtige Beschäftigung. Ihn mit geistiger, moralischer oder körperlicherWürde
zu fegen, scheint mir unmöglich.Ihn freudig zu fegen, wäre schauderhaft.
Der Mensch
ist zu etwas Besserem da, alsSchmutz
zu entfernen. Alle Arbeit dieserArt müsste von einer Maschine be- sorgt werden.Und
ich zweifle nicht, dass es sokommen
wird. Bis jetztwar
derMensch
bis zu gewissem
Grade
der Sklave der Maschine,und
es liegt etwas Tragisches in der Tatsache, dass der Mensch, sowie er eine Maschine erfunden hatte, dieihm
seine Arbeit
abnahm, Not
zu leiden be- gann.Das kommt
indessen natürlichvon unserer Eigentums-und
Konkurrenzwirt-sehen sind infolgedessen beschäftigungs- los;
und da man
ihreArbeit nicht braucht, sind siedem Hunger
preisgegebenund
legen sich aufden
Diebstahl.Der
Ein- zelneeignetsichdasProduktderMaschine anund
behält esund
hat fünfhundertmalsoviel,als er
haben
sollte,und
wahrschein- lich,was
viel wichtiger ist, bedeutend mehr, als er tatsächlich braucht.Wäre
diese Maschine das
Eigentum
aller, so hätte jedermann Nutzen davon. Sie wäre der Gemeinschaft von grösstem Vorteil.Jederein mechanische, jede eintönige
und dumpfe
Arbeit, jede Arbeit, diemit wider- lichenDingen
zu tun hatund
denMen-
schen in abstossende Situationen zwingt,muss
von derMaschine getanwerden. Die Maschinemuss
für uns inden
Kohlen- gruben arbeitenund
gewisse hygienische Dienste tunund
Schiffsheizer seinund
die Strassen reinigenund
anRegentagen
Botendienste tunund muss
alles tun,was unangenehm
ist. Jetzt verdrängt dieMa-
schine den Menschen. Unter richtigen Zu- ständen wirdsieihm dienen.
Es
istdurchaus kein Zweifel, dass das die Zukunft der45
Maschine ist,
und
ebenso wie dieBäume
wachsen,während
der Landwirtschläft, so wird die Maschine,während
die Mensch- heit sich der Freude oder edlerMüsse
hingibt—
Müsse, nicht Arbeit,istdas Ziel desMenschen —
oder schöneDinge
schafft oder schöne
Dinge
liest, oder ein- fach dieWelt
mitbewundernden und
ge- niessenden Blicken umfängt, alle notwen- digeund unangenehme
Arbeit verrichten.Es
steht so, dass die Kultur Sklaven braucht. Darin hatten die Griechen ganz recht.Wenn
es keine Sklaven gibt, die die widerwärtige, abstossendeund
lang- weilige Arbeitverrichten, wird Kulturund
Beschaulichkeit fast unmöglich. Die Skla- vereivonMenschen
istungerecht, unsicherund
entsittlichend.Von
mechanischen Sklaven, von der Sklaverei der Maschine hängtdieZukunft derWelt
ab.Und wenn
gebildeteund
gelehrteMänner
es nicht länger nötig haben, in ein fürchterliches Armenviertel hinabzusteigenund
schlech-wundervolle
und
herrlicheDinge
zu ihrer eigenenund
aller andern Freude zu er- sinnen.Es
wird grosse Kraftstationen für jedeStadtund,wenn
nötig,fürjedesHaus
geben,und
diese Kraft wird derMensch
je nach Bedarf in
Wärme,
Licht oder Be-wegung
verwandeln. Ist dies utopisch?Eine Weltkarte, in der das
Land
Utopia nichtverzeichnetist,verdientkeinenBlick,denn
sie lässt die eine Küste aus,wo
die Menschheit ewig landen wird.Und wenn
die Menschheit
da
angelangt ist, hält sieUmschau
nach einem bessernLand und
richtetseine Segel dahin.
Der
Fortschritt ist die Verwirklichungvon
Utopien.Ichhabe alsogesagt:dieGemeinschaft sorgt mit Hilfe der Organisation der
Ma-
schinenarbeitfür dienützlichenDinge,und
die schönen
Dinge werden vom
Indivi-duum
hergestellt.Das
ist nicht bloss not- wendig,sondernder einzigmöglicheWeg, um
das eine wie das andere zu erreichen.Ein Individuum, das
Dinge
für den Ge- brauch anderer zumachen und
auf ihre Bedürfnisseund Wünsche
Rücksicht zunehmen
hat, arbeitet nicht mit Interesseund kann
also in seinWerk
nicht das Beste hineinlegen, das er in sich hat.Ueberall andrerseits,
wo
eine Gemein- schaft oder eine mächtige Gesellschafts- schicht oder irgend eine Regierung den Versuch macht,dem
Künstler vorzu- schreiben,was
er tun soll, geht die Kunst entweder völlig zugrunde oder wird ste- reotypoder verfällt zu einerniedrigenund gemeinen Form
desHandwerks.
Ein Kunstwerk ist ein einziges Ergebnis eines einzigen Temperamentes. Seine Schönheit ent- springt der Tatsache, dass der Künstler ist,was er ist.
Es
hat nichts mit der Tatsache zu tun, dass andere brauchen, was sie brauchen. In der Tat hört ein Künstler indem
Augenblick,wo
er den Bedürfnissen andererBeachtung
schenktund
den Be- darfzu befriedigensucht, auf ein Künstler zu seinund
wird ein trauriger oder amü- santer Handwerker, ein ehrbarer oderun- ehrlicherHandelsmann. Er
hatkeinenAn- spruchmehr
darauf,alsKünstler zugelten.Die Kunst ist die intensivste Art Indi- vidualismus, die die Welt kennt. Ich bin ge- neigtzu sagen,sie seidie einzige wirkliche
48
Art Individualismus, die die
Welt
kennt.Das
Verbrechen, das unter bestimmtenUmständen den
Individualismus zu erzeu-gen
scheinenkann,muss
von andernMen-
schen Kenntnisnehmen und
sichum
siekümmern. Es
gehörtzum
Bereich des Handelns.Aber
der Künstlerkann
allein,ohne
sichum
seineMitmenschen
zuküm- mern und ohne
jedeEinmischung
etwas Schönes gestalten;und wenn
er es nicht lediglich zu seinereigenen Lust tut, ist er überhaupt kein Künstler.Und
es ist zu beachten, dass gerade die Tatsache, dass die Kunst eine so in- tensiveForm
des Individualismus ist, dasPublikum
zudem
Versuch bringt, übersie eine Autorität auszuüben, die ebenso unmoralischwielächerlich
und
ebensokor- rumpierendwie verächtlichist.Es
istnicht ganz seine Schuld.Das Publikum
istimmer, zu allen Zeiten, schlecht erzogen worden. Sie verlangen fortwährend, die Kunst solle populär sein, solle ihrer Ge- schmacklosigkeit gefallen, ihrer törichten Eitelkeit schmeicheln, ihnen sagen,
was
ihnen früher gesagt wurde, ihnen zeigen,49
was
siemüde
sein sollten zu sehen, sie amüsieren,wenn
sienach
zu reichlichem Essen schwermütiggeworden
sind,und
ihre
Gedanken
zerstreuen,wenn
sie ihrer eigenenDummheit
überdrüssig sind. Die Kunst aber durfte nie populär sein wollen.Das
Publikum musste versuchen, künstlerisch zu werden.Das
ist einsehr grosser Unter- schied.Wenn man
einem Forschersagte, die Ergebnisse seiner Experimente,und
dieSchlüsse, zu
denen
ergelangte,müssten dergestaltsein, dass sie diehergebrachten populären Vorstellungen über den Gegen- stand nicht umstürzten, oder das populäre Vorurteil nicht verwirrten, oder dieEmp-
findlichkeitenvon Leutennichtstörten,die nichts
von
der Wissenschaft verstehen:wenn man
einem Philosophen sagte, er habeeinvollkommenesRecht,inden
höch- stenSphären desDenkens
zu spekulieren, vorausgesetzt, dass er zu denselben Schlüssen käme, wie sie bei denen in Gel- tungsind,dieüberhaupt niemalsinirgend einer Sphäre gedachthaben —
nun, heut- zutagewürde
der Forscherund
der Philo- sophbeträchtlich darüberlachen.Aber
es60
ist in der Tat nur sehr wenige Jahre her, dass Philosophie wie Wissenschaft der rohenVolksherrschaft
und
inWirklichkeit der Autorität unterworfenwaren —
ent-weder
der Autorität der in der Gemein- schaft herrschenden allgemeinenUn-
wissenheit oder der Schreckensherrschaftund
der Machtgier einer kirchlichen oder Regierungsgewalt.Nun
sind wir zwar bis zu sehrhohem Grade
alle Versuche von Seiten der Gemeinschaft oder der Kirche oderder Regierung,sich inden Individua- lismus des spekulativenDenkens
einzu- mischen, losgeworden, aber das Unter- fangen, sich in den Individualismus der Phantasieund
der Kunst einzumischen,istimmer
nocham
Leben.Oder
vielmehr:es lebt noch sehr lebhaft: esist aggressiv, gewalttätig
und
brutal.In England sind die Künste
am
besten daran,an denen das Publikum kein Interesse nimmt. Die Lyrik ist ein Beispiel für das,was
ichmeine.Wir haben
inEngland
eine Lyrikvoller Schönheit haben können,weil dasPublikum
sie nicht liestund
daher auchnicht beeinflusst.Das Publikum
liebt51
4*
es, die Poeten zu beschimpfen,weil siein- dividuell sind; aber
nachdem
das erledigtist, lässt es sie inRuhe.
Im
Fall des Ro-mans und
desDramas,
an welchen Künsten dasPublikum
Interesse nimmt,war
das ErgebnisderAusübung
derVolksautorität absolut lächerlich. KeinLand
liefert so jämmerlich geschriebene Belletristik, so widerwärtige gemeine Arbeit inRoman-
form, so alberne, pöbelhafte Stücke wie England.
Es
ist Notwendigkeit, dassessoist.
Der
Massstab des Volkes ist so be- schaffen, dass kein Künstlerihm
ent- sprechen kann.Es
ist beides: zu leichtund
zu schwer, ein populärerRoman-
schreiberzu sein.Es
istzu leicht,weil die Anforderungen des Publikums, soweit Fabel, Stil, Psychologie,Behandlung
des Lebensund
der Literatur in Fragekom- men, von
derkleinstenBegabung und dem
ungebildetsten Geist erfüllt
werden
können.Es
istzu schwer, weil der Künst-ler,
um
solchen Anforderungen zu ent- sprechen, seinemTemperament
Gewalt antun müsste, nichtum
der künstlerischen Freudeam
Schreiben willen arbeitendürfte, sondern zu
dem
Zweck, schlecht- erzogene Leute zuamüsieren,und
so seine Individualität unterdrücken, seine Kultur vergessen, seinen Stil austilgenund
alles Wertvolle in sich vernichten müsste. Mitdem Drama
steht es ein bisschen besser:das Theaterpublikum liebt allerdings das Alltägliche, aber es liebt nicht das Lang- weilige;
und
die burleskeKomödie und
die Posse, die beiden populärsten
Formen,
sind ausgesprocheneFormen
der Kunst.Entzückende Sachen
können
inForm
der Burleskeund
der Posse geschrieben wer- den,und
beiArbeitendieserArt sinddem
Künstlerin
England
grosse Freiheitener- laubt., Erstwenn man
zuden
höherenFormen
desDramas kommt,
ist das Re- sultat der Volksherrschaft zu sehen.Was dem Publikum am
meisten missfällt, istNeuheit. Jeder Versuch, das Stoffgebiet derKunst zu erweitern, ist
dem Publikum
äusserst zuwider;
und
doch hängtLeben und
Fortschritt derKunst inhohem Masse
von der fortwährenden Erweiterung des Stoffgebietes ab.Dem Publikum
missfällt die Neuheit, weil es Angst davorhat. Sie53
stellt
ihm
eine Art Individualismus vor, eineBehauptung
von selten des Künstlers, dass erseinen eigenen Stoffwähltund
ihn behandelt, wie es ihn gut dünkt.Das Publikum
hat mit seiner Haltung ganz recht. Die Kunst ist Individualismus,und
der Individualismus ist eine zerstörendeund
zersetzende Kraft. Darin liegt seine ungeheure Bedeutung.Denn was
er zu zerstören sucht, ist die Eintönigkeit des Typus, die Sklaverei der Gewohnheit, die Tyrannei der Sitteund
die Erniedrigung desMenschen
auf die Stufe einerMa-
schine. In der Kunst lässt sich das Publi-
kum
gefallen,was
gewesen ist, weil sie es nicht ändern können, nicht weilsie Ge-schmack
daran finden. Sie verschlucken ihre Klassiker mitHaut und Haar und
sieschmecken
ihnen nie. Sie ertragen sie als das Unvermeidliche,und da
sie sie nicht vernichten können, schwatzen sie über sieund
ziehen wichtige Gesichter dazu. Son- derbar genug, oder auch nicht sonderbar—
jenachdem man
einen Standpunkt ein-nimmt —
dieseAnerkennung
der Klassi- ker tu*, grossen Schaden. Die unkritische54