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Archiv "Antidepressive Psychopharmakotherapie" (17.02.1995)

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Academic year: 2022

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(1)

Siegfried Kasper

1

Hansjürgen Möller

2

A

ls Antidepressiva bezeichnet man Substanzen, die die Sym- ptomatik depressiver Erkran- kungen reduzieren, die also insbesondere stimmungsaufuellend wirken. Nach der pharmakologischen Struktur können diese Substanzen in mehrere Gruppen unterteilt werden, unter anderem Trizyklika, Tetrazykli- ka sowie Hemmer der Monoaminoxi- dase (MAO-Hemmer, ältere irrever- sible sowie neuere reversible und spe- zifische = RIMA). Weiterhin wurde die Einteilung nach solchen Substan- zen getroffen, die eher oder aus- schließlich auf das noradrenerge Sy- stem (Noradrenalin-Wiederaufnah- mehemmer), und solchen, die eher oder ausschließlich auf das seroton- erge System (Serotonin-Wiederauf- nahmehemmer) wirken. Als relevan- tes Wirkprinzip wurde traditioneller- weise die Anreicherung von Norad- renalin beziehungsweise Serotonin im synaptischen Spalt erklärt. Neben diesem Hauptangriffspunkt ist die un- terschiedliche Einflußnahme auf an- dere zentralnerväse Transmitter (zum Beispiel Blockade cholinerger und histaminerger Rezeptoren) für das Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil

ZUR FORTBILDUNG

Antidepressive

Psychopharmakotherapie

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) als neues Wirkprinzip

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer gehören zu der Gruppe der neue- ren Antidepressiva, die im Vergleich zu den älteren (tri- und tetrazyklischen An- tidepressiva) ein insgesamt günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweisen und hin- sichtlich der anlidepressiven Wirksamkeit keinen Unterschied zu diesen erkennen lassen. Dies wird pharmakologisch dadurch erreicht, daß die SSRI initial nur se- lektiv auf ein Neurotransmittersystem, das serotonerge, wirken, während die äl- teren Antidepressiva bereits am Anfang mehrere Neuronenverbände gleichzeitig beeinflussen. Erste Untersuchungen weisen darauf hin, daß SSRI auch bei schwe- ren Depressionen eingesetzt werden können und daß eine bestehende Suizidalität keine Kontraindikation darstellt.

der einzelnen Substanzen von Bedeu- tung. Die antidepressive Wirkung der Trizyklika, ausgehend von den Erfah- rungen mit Imipramin im Jahre 1957, ist inzwischen durch über 100 plaze- bokontrollierte Studien nachgewie-

sen, wobei sich im Durchschnitt etwa

70 Prozent der meist endogen depres- siven Patienten unter Trizyklika und etwa 35 Prozent unter Plazebo ausrei- chend besserten.

Bei der Entwicklung von neue- ren Antidepressiva, wie die der se- lektiven Serotonin-Wiederaufnahme- hemmer (Selective Serotonin Reup- take Inhibitors, SSRI), war es eines der Ziele, Substanzen zu finden, die im Vergleich zu trizyklischen und te- trazyklischen Antidepressiva weniger Nebenwirkungen aufweisen oder Komplikationen hervorrufen. Um dies zu erreichen, wurden Antide-

, Klinische Abteilung für Ailgemeine Psychia- trie ILeiter' 0. Univ.-Prof. Siegfried Kasper), Universilälsklinik für Psychiatrie. Allgemeines Krankenhaus. Wien

2 Psychialrische Klinik IDirektor Prof Dr.

med. Hans:Jürgen Möller), Zentrum für Ner- venheilkunde. Rheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn

pressiva entwickelt, die nur auf be- stimmte Neuronenverbände (zum Beispiel das serotonerge) wirken und nicht, wie es etwa für die Trizyklika charakteristisch ist, mehrere Neuro- nensysteme gleichzeitig beeinflussen (Tabelle 1).

Zur Zeit sind fünf. SSRI in Deutschland und in den europäischen Nachbarländern in therapeutischer Anwendung (Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin und Citalopram).

Obwohl alle SSRI den Hauptwirkme- chanismus der Serotonin- Wiederauf- nahmehemmung aufweisen, gibt es klinische Charakteristika, die für de- ren Anwendung von Bedeutung sind (Tabelle 2). Das wahrscheinlich kli- nisch bedeutsamste Charakteristikum ist die Eliminationshalbwertszeit der Substanzen und deren aktiver Meta- boliten. Diese beträgt zum Beispiel für Fluoxetin und dessen aktiven Me- taboliten Norfluoxetin nahezu 330 Stunden, während sie für die anderen Serotonin- Wiederaufnahmehemmer in dem Bereich zwischen 15 und 30 Stunden liegt. Die Kenntnis der Halb- wertszeit ist dann von Bedeutung, wenn bei Patienten eine Medikamen- tenumsteilung erforderlich ist. Von A-428 (38) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 7, 17. Februar 1995

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Doogan und Montgomery und Montgomery und Montgomery at al

Plazebo Fluoxetin Plazebo Sertralin Plazebo Citalopram Plazebo Paroxetin

(1988) Calliard (1992) Rasmussen (1992) Dunbar (1991) 50

40

30

20

10

0

Prozent Rückfälle 60

Abbildung: Rückfall-/Wiederauftretensraten in vier plazebokontrollierten Studien, in denen verschiedene se- lektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) mit Plazebo verglichen wurden. Alle Studien wurden über die Dauer von zwölf Monaten durchgeführt, außer der Studie mit Citalopram (sechs Monate). Dadurch erklärt sich auch die geringere Plazeborückfallrate von 31 Prozent in der Citalopram-Studie. Die durchschnittlichen Rückfallraten innerhalb eines Jahres liegen unter Plazebo bei 45 Prozent und unter der aktiven Behandlung mit SSRI bei 16 Prozent (Literatur in: Kasper, 19930).

Tabelle 1: Selektive Serotanin-Wiederaufnahmehennmer (SSRI)

Chemische Bezeichnung

Handelsname Verfügbarkeit in

Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Citalopram Sertralin

Fluctin®

Fevarin®

Seroxat®, Tagonis ® Seropram®

Zocloft®

Deutschland, Österreich, Schweiz Deutschland, Österreich, Schweiz Deutschland, Österreich, Schweiz Österreich, Schweiz

USA, England MEDIZIN

praktisch klinischer Relevanz sind auch die gastrointestinalen Nebenwir- kungen (Nausea und/oder Erbre- chen), die bei 20 bis 37 Prozent der mit SSRI behandelten Patienten, abhän- gig von der Dosierung, auftreten (11).

Pharmakologie

Die meisten Medikamente, die in der Depressionsbehandlung verwen- det werden, hemmen die Aufnahme (Wiederaufnahme) von monoaminer- gen Neurotransmittern (zum Beispiel Noradrenalin oder Serotonin), von den Synapsen in das präsynaptische Neuron und verlängern somit deren Effekt an den Rezeptoren. Wie der Name besagt, hemmen SSRI selektiv die Wiederaufnahme von Serotonin.

Im Gegensatz dazu hemmen trizykli- sche Antidepressiva (wie Amitripty- lin, Clomipramin, Imipramin) die Wiederaufnahme von sowohl Seroto- nin als auch Noradrenalin. Mianserin und Trazodon, die mit den trizykli- schen Medikamenten verwandt sind, entfalten über andere Nervenverbän- de zusätzlich weitere Effekte.

ZUR FORTBILDUNG

Die antidepressive Effektivität der SSRI

Die SSRI wurden in zahlreichen kontrollierten Studien sowohl ge- genüber Standardantidepressiva (Amitryptylin, Imipramin) als auch gegenüber weiteren Antidepressiva (Mianserin, Maprotilin) bei sta- tionären und ambulanten psychiatri- schen Patienten und auch bei Patien- ten in der allgemeinmedizinischen Praxis untersucht. Bei den vorliegen- den Studien wurde als diagnostisches Kriterium meist das der „Major-De- pression" (die weitgehend der endo- genen Depression nach ICD-9 ent-

spricht) verwendet und zur Beurtei- lung der Depressivität meistens der Hamilton-Depressions-Score heran- gezogen. Ein Großteil der Studien wurde über den Zeitraum von sechs Wochen durchgeführt. Mit nur einer Ausnahme wurde durchwegs eine bessere Effektivität der SSRI im Ver- gleich zu Plazebo und kein Unter- schied zu den Standardantidepressiva gefunden (3).

Bei der Beurteilung der antide- pressiven Effektivität müssen jedoch verschiedene Richtlinien beachtet werden. Wenn zum Beispiel eine Stu- die nicht plazebokontrolliert ist, benötigt man eine große Anzahl von Patienten, um einen Unterschied zwi- schen einem neuen und einem als Re- ferenz angesehenen Medikament zu erhalten. Eine Zusammenführung dieser Studien durch eine Metaanaly- se wurde von verschiedenen Gruppen unternommen und dabei eine durch- aus vergleichbare Effektivität der SSRI mit trizyklischen Antidepressi- va gefunden (8). Die Ergebnisse von Metaanalysen müssen allerdings kri- tisch betrachtet werden, da zum Teil nur wenige Studien in Metaanalysen eingehen und da zum Teil aufgrund methodologischer Probleme bei SSRI eine zu hohe Dosierung verwendet wurde, die möglicherweise die Ne- benwirkungsrate ungünstig beein- flußt hatte.

Da bei Depressionen Rückfälle sehr häufig vorkommen und nicht die Ausnahme darstellen, sollte bei der Akutbehandlung auch bereits an die Langzeitbehandlung gedacht werden.

Da SSRI ein insgesamt günstiges Ne- benwirkungsprofil aufweisen, kann man davon ausgehen, daß bei deren Verordnung eine hohe Compliance vorliegt und damit die zur Rückfall- verhinderung notwendige Langzeit-

(3)

20- 60 50-200

20 21 66

Citalopram Sertralin

33 25

nein ja Medikament Halbwerts-

zeit

(h)

Aktiver Metabolit

Aktiver Metabolit Eliminations- Halbwertszeit (h)

Tägliche Dosisl

(mg)

Nausea2 und/oder Erbrechen ( % ) Fluoxetin

Fluvoxamin Paroxetin

20 100-200 10- 50

25 37 (15,7)3

29 70

15 12-20

ja nein nein

330

Tabelle 2: Pharmakokinetik, Dosierung und Nebenwirkungen der SSRI

1 Bei der Behandlung depressiver Erkrankungen

2 Zahlen entnommen aus: Rickels & Schweizer (1990) und Milne & Goa (1991)

3 Die Angabe von 37 Prozent Nausea ist der Publikation von Rickels & Schweizer (1990) entnommen, die sich auf die Analyse von frühen Studien mit Fluvoxamin bezieht, bei de- nen höhere Dosen von Fluvoxamin (bis 300 mg) eingesetzt wurden. Die Angabe von 15,7 Prozent ist der Arbeit von Wagner et al. (1992) entnommen, die sich auf die Datenbasis von 24 624 Patienten bezieht und bei der niedrigere Dosen Fluvoxamin (100-150 mg) eingesetzt wurden.

SSRI: Selective-Serotonin-Reuptake-Inhibitors (Selektive Serotonin-Wiederaufnähme- hemmer)

MEDIZIN

behandlung eingehalten wird. Die wenigen bis jetzt vorliegenden Lang- zeituntersuchungen zur therapeuti- schen Effektivität der SSRI im Ver- lauf der Depression geben Hinweise für eine vergleichbare Effektivität der SSRI und der Trizyklika (4). Die vor- liegenden Studien zum Langzeitver- lauf depressiver Erkrankungen unter SSRI-Gabe wurden maximal über die Zeitdauer von einem Jahr durchge- führt (Abbildung). Aus methodischen Gründen sind daher längerdauernde Studien wünschenswert, die jedoch auch für Trizyklika nur bei Imipramin über die Dauer von drei beziehungs- weise fünf Jahren vorliegen.

Nebenwirkungen

Der Wirkmechanismus der ver- schiedenen Antidepressiva ist inso- fern von klinischer Bedeutung, da daraus auch das zu erwartende Ne- benwirkungsprofil abgelesen werden kann. Man kann daher das Nebenwir- kungsprofil der Antidepressiva be- reits voraussagen, wenn man die Art der spezifischen Wiederaufnahme- hemmung oder Rezeptorblockade kennt. Antidepressiva mit einem an- ticholinergen Wirkprofil weisen als Nebenwirkungen unter anderem Mundtrockenheit und Obstipation auf, die zwar medizinisch nicht ge- fährlich, hinsichtlich der Compliance aber durchaus klinisch relevant sind.

Schwere Nebenwirkungen können beim Gebrauch von Medikamenten mit einem anticholinergen Wirkprofil dann auftreten, wenn als Begleiter- krankung ein Glaukom, eine Prosta- tahypertrophie oder eine Schädigung des Herzreizleitungssystems vorliegt.

Antidepressiva mit einer anti- histaminergen Wirkung haben als Ne- benwirkung Sedierung, Benommen- heit und Gewichtszunahme. Diese Ef- fekte können die Compliance redu- zieren und dazu führen, daß die Pati- enten die Medikamente nicht einneh- men. Die Wirkung von Antidepressi- va auf die a-1-Adreno-Rezeptoren kann bewirken, daß bei Patienten ei- ne orthostatische Hypotension oder Schwindelgefühle auftreten, beides ein unerwünschtes Problem etwa bei psychogeriatrischen Patienten. Im Gegensatz zu trizyklischen Antide- pressiva wirken die SSRI kaum auf

ZUR FORTBILDUNG

die cholinergen oder histaminergen Neuronenverbände und auch nur ge- ring auf die a-1-Adreno-Rezeptoren und haben insbesondere eine zu ver- nachlässigende Kardiotoxizität, was unter dem Aspekt suizidaler Intoxi- kationen von großer Relevanz ist.

Als Hauptnebenwirkung ist bei den SSRI mit einer Nausea durch Rei- zung der Area postrema im Hypotha- lamus zu rechnen. Diese tritt bei SSRI signifikant häufiger als bei trizykli- schen Antidepressiva auf, jedoch vor- wiegend am Anfang einer Behand- lung, und läßt nach spätestens vier Wochen wieder nach (zum Beispiel 10). Meist kann dieses Symptom durch Dosisreduktion wieder zum Abklingen gebracht werden.

Weitere ZNS-Nebenwirkungen unter der Behandlung mit SSRI sind Schlafstörungen, die bei 15 Prozent der Patienten unter Fluoxetin-, Par- oxetin- oder Sertralinbehandlung und nur bei fünf Prozent unter Fluvox- aminbehandlung beobachtet worden.

Angst- und Unruhezustände sind häufiger mit Fluoxetin (15 Prozent) als mit anderen SSRI (1 bis 8 Prozent) aufgetreten. Unter der Behandlung mit Sertralin ist bei 17 Prozent eine se- xuelle Dysfunktion (verzögerte Eja- kulation) aufgetreten, die unter Paro- xetinbehandlung nur bei 3 Prozent zu beobachten war. Selten wird auch

eine Sedierung berichtet, die am wenigsten häufig bei Fluoxetin (7 Prozent) und am häufigsten bei Par- oxetin (21 Prozent) zur Beobachtung kam.

Insgesamt kann das Nebenwir- kungsprofil der SSRI als günstiger als das der tri- und tetrazyklischen An- tidepressiva angesehen werden. Dies zeigt sich zum Beispiel in einer Ver- gleichsuntersuchung, bei der entwe- der Sertralin, Amitriptylin oder Pla- zebo verwendet wurde (10). Zwar war die Summe der Nebenwirkungen während der ersten zwei bis drei Wo- chen in dieser Untersuchung für Ser- tralin und Amitriptylin gleich, jedoch die Nebenwirkungen ließen im Ver- lauf der Therapie mit Sertralin wieder nach, während sie unter Therapie mit Amitriptylin in dem gleichen Prozent- satz weiter bestanden. Man kann da- von ausgehen, daß die Nebenwirkun- gen, die während der Medikation mit Sertralin beobachtet wurden, vorwie- gend auf Nausea zurückzuführen wa- ren. Da Medikamente aus der Grup- pe der SSRI also insgesamt ein günsti- ges Nebenwirkungsprofil zeigen, kön- nen sie unter dem Aspekt einer „ne- benwirkungsgeleiteten Indikations- stellung" bei gleicher antidepressiver Effektivität gegenüber den tri- und te- trazyklischen Antidepressiva emp- fohlen werden. Wegen des günstigen

A-432 (42) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 7, 17. Februar 1995

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Nebenwirkungsprofils scheinen sie auch deshalb gerade bei psychoger- iatrischen Patienten von Vorteil zu sein.

Klinische Effektivität bei diagnostischen Untergruppierungen

Einige Autoren haben darauf hingewiesen, daß das geringere Ne- benwirkungsprofil der SSRI eventuell mit einer geringeren antidepressiven Wirkung im Vergleich zu den trizykli- schen Antidepressiva einhergehen könnte. In jüngster Zeit haben jedoch verschiedene Studien erkennen las- sen, daß sowohl Paroxetin, Fluvoxa- min und Fluoxetin auch bei schweren Depressionen eingesetzt werden kön- nen und eine hohe, den Trizyklika vergleichbare antidepressive Wirk- samkeit aufweisen (5, 9). In zwei die- ser Multicenter-Studien, bei denen Fluvoxamin und Paroxetin mit Imi- pramin und Plazebo verglichen wur- den, zeigte sich auch, daß die SSRI und nicht das Trizyklikum Imipramin bei schweren Depressionen erfolg- reich eingesetzt werden konnte. Dies entspricht auch unserer klinischen Er- fahrung. Da SSRI jedoch keine sedie- rende Komponente aufweisen, kann es anfänglich notwendig sein, zusätz- lich ein sedierendes Medikament (Phenothiazin, Benzodiazepin oder ein sedierendes Antidepressivum, al- lerdings in einer niedrigeren Dosie- rung) vorübergehend anzuwenden.

Bei depressiven Patienten muß das Suizidrisiko als bis zu 30mal höher als in der Allgemeinbevölkerung ein- geschätzt werden. Etwa 15 Prozent der depressiven Patienten suizidieren sich, und meist wird als Suizidmetho- de die Tablettenintoxikation (bei et- wa der Hälfte der Frauen und etwa ei- nem Viertel der Männer) gewählt. In diesem Zusammenhang sind für den Einsatz der neuen Substanzklasse der SSRI zwei Fragen von besonderer praktischer Bedeutung: <D Können Antidepressiva und im speziellen SSRI eine Suizidalität provozieren?

C2l Wie kann das Ausmaß der Toxizität von Antidepressiva bei einer Überdo- sierung eingeschätzt werden?

Aufsehen erregten die Fallbe- richte von Teicher (12), der beschrieb,

ZUR FORTBILDUNG

Tabelle 3: Vor- und Nachteile der trizyklischen Antidepressiva (TCA) und der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)

TCA SSRI

.,. Vorteile

- seit vielen Jahren bewährt - k_eine schwerwiegenden Nebenwirkungen - Oberdosierung nicht gefährlich

(zum Beispiel Suizidversuch) .,. Nachteile

- eventuell schwerwiegende - eventuell Auftreten von Nausea

~ebenwirkungen - zum Teil erst seit kurzem auf - Oberdosierung gefährlich dem Markt

(zum Beispiel Suizidversuch) - verzögerter Wirkbeginn - verzögerter Wirkbeginn

daß sechs Patienten unter der Be- handlung mit Fluoxetin eine mit Ge- walttätigkeit einhergehende Suizida- lität entwickelten. Bei einer gerraue- ren Analyse der von Teicher publi- zierten Krankengeschichten muß je- doch bemerkt werden, daß die Patien- ten bereits vor der Medikation mit Fluoxetin als suizidal eingeschätzt wurden und daß drei von diesen Pati- enten bereits einen Suizidversuch hin- ter sich hatten. Weiterhin wurden alle Patienten gleichzeitig zu Fluoxetin mit anderen Medikamenten behan- delt.

Im Gegensatz dazu steht die Un- tersuchung von Beasley et al. (1), der aufgrund einer Metaanalyse von 17 Doppelblindstudien an insgesamt 1 999 Patienten zeigen konnte, daß unter Fluoxetin-Behandlung signifi- kant weniger Patienten suizidal wur- den als unter Plazebobehandlung oder unter der Behandlung mit Trizyklika.

Auch für Fluvoxamin und Paroxetin liegen vergleichbare Daten vor, die keinen Anhalt ergeben, daß durch die Behandlung mit diesen Substanzen das Auftreten einer Suizidalität begün- stigt werden würde. Aus den zur Zeit verfügbaren Langzeitstudien zu SSRI ergibt sich kein Hinweis, daß diese ei- ne Suizidalität auslösen können.

Im Zusammenhang mit der Suizi- dalität kommt der akuten Toxizität ei- nes Antidepressivums eine bedeutsa- me Rolle zu. In einer groß angelegten englischen Studie berechnete die Gruppe um Henry (2) den sogenann-

ten "Fatal-Toxicity-Index". Diese

Verhältniszahl bezieht sich auf die

Anzahl der Todesfälle während eines bestimmten Zeitraumes im Verhältnis zu den Verschreibungen (in Millio- nen) dieses Medikamentes während derselben Zeitperiode. Dabei ergibt sich natürlich die Problematik, daß trizyklische Antidepressiva, wahr- scheinlich aufgrund der zur Zeit be- stehenden therapeutischen Gepflo- genheiten, häufiger bei Patienten mit einer schwereren Suizidalität ver- schrieben werden, als Medikamente der Gruppe der neueren Antidepres- siva. In dieser Untersuchung zeigte sich jedoch deutlich, daß der "Fatal- Toxicity-Index" bei den älteren, trizy- klischen Antidepressiva signifikant höher war als bei den neueren Anti- depressiva. Die SSRI lagen bei dieser Untersuchung, wie zum Beispiel auch Mianserin, im deutlich niedrigeren Bereich. Aus diesen Daten und auch aus der klinischen Praxis kann man entnehmen, daß trotz der oben ange- gebenen methodischen Einschrän- kungen die SSRI nur ein zu vernach- lässigendes Ausmaß an Toxizität bei einer Überdosierung aufweisen.

Schlußbetrachtung

Aufgrund der derzeitigen Daten- lage kann man schlußfolgern, daß die SSRI eine effektive und sichere Be- handlungsmethode für die Therapie depressiver Syndrome unterschiedli- cher Schweregrade darstellen. Was die weitere Verbreitung dieser Medi- kamente zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich hemmt, ist, daß sie

(5)

MEDIZIN

aufgrund der bestehenden Patent- rechte deutlich teurer, bis zu zehnmal, als die klassischen Antidepressiva sind. Dies ist eventuell einer der Gründe, warum Psychiater und prak- tische Ärzte in Deutschland aufgrund der bestehenden Gesetzeslage und insbesondere der zur Zeit eingeführ- ten Spargesetze im Gesundheitssy- stem nach wie vor zurückhaltend sind, diese Medikamente zu verschreiben.

Es soll jedoch hervorgehoben wer- den, daß bei den SSRI das Spektrum der unerwünschten Nebenwirkungen deutlich geringer ist als bei trizykli- schen Antidepressiva und daß sie bei verschiedenen Patienten oder Patien- tengruppen eingesetzt werden sollten, bei denen eine Sedierung und Ge- wichtszunahme unerwünscht ist. Wei- terhin sind SSRI indiziert, wenn anti- cholinerge Nebeneffekte nicht tole- riert werden können (zum Beispiel Glaukom, Herzreizleitungsstörun- gen, Prostatahypertrophie). Die Grup- pe der SSRI kann gegenüber den Tri- zyklika als sicher bei Überdosierung angesehen werden und scheint daher gerade bei suizidalen Patienten von Vorteil zu sein. In den Tagen der Be- handlungseinstellung ist jedoch auf- grund der fehlenden sedierenden Komponente eine sorgfältige Über- wachung angezeigt und bei bestehen- den Schlafstörungen eine sedierende Zusatzmedikation vorübergehend zu verabreichen.

Bei der Auswahl des Antidepres- sivums zu Beginn einer Depressions- behandlung ist auch daran zu denken, daß eine erhöhte Erfolgswahrschein- lichkeit für ein Präparat dann besteht, wenn es bereits in früheren Phasen er- folgreich eingesetzt wurde. Allerdings bleibt dabei zu bedenken, ob nicht eventuell störende Nebenwirkungen zum Absetzen der Medikation und damit zum erneuten Rückfall geführt haben. Bei therapieresistenten De- pressionen hat es sich bewährt, nach einem Behandlungsschema vorzuge- hen (siehe 7), das sowohl die ausrei- chende Dauer der Behandlung (drei bis vier Wochen) als auch die Dosie- rung (zum Beispiel 150 mg Amitripty- IM, für SSRI siehe Tabelle 2) berück- sichtigt. Danach sollte ein Wechsel des biochemischen Wirkungsschwer- punktes erfolgen, das heißt, wenn mit einem SSRI unter diesen Vorausset-

ZUR FORTBILDUNG / FUR SIE REFERIERT

zungen keine befriedigende Remissi- on der Symptomatologie erreicht wurde, sollte zum Beispiel auf ein Tri- oder Tetrazyklikum umgestellt wer- den. Auch der umgekehrte Weg, daß SSRI nach einem erfolglosen Thera- pieversuch mit Tri- oder Tetrazyklika eingesetzt werden können, hat sich als therapeutisch günstig erwiesen.

Weiterhin sollten antidepressive Zusatzmaßnahmen, die ihre Wirk- samkeit bereits unter Beweis gestellt haben (etwa therapeutischer Schlaf- entzug, Psychotherapie), systema- tisch und frühzeitig in den Behand- lungsplan mit einbezogen werden.

Als einen späteren Schritt kann auch an die Kombinationstherapie von Antidepressiva mit einem unter- schiedlichen Wirkmechanismus ge- dacht werden, wobei jedoch speziell darauf hingewiesen wird, daß die Kombination von SSRI und MAO- Hemmern (auch der neueren reversi-

Abnahme der

chronischen Gastritis in Finnland

Finnland gilt als eines der Länder, das schon vor 30 Jahren die ersten Ga- stritis-Studien durchgeführt hat, noch bevor die Möglichkeit zur endoskopi- schen Biopsie bestand.

Die Arbeitsgruppe um Siurala hat über viele Jahrzehnte freiwillige Probanden in ländlichen Regionen prospektiv untersucht und zeigen können, daß der Übergang einer Oberflächengastritis in eine chroni- sche atrophische Gastritis rund 20 Jahre in Anspruch nimmt

Seit der Wiederentdeckung von Helicobacter pylori und der durch diesen Keim hervorgerufenen chroni- schen Gastritis sind zahlreiche Unter- suchungen durchgeführt worden, bei denen serologisch die Prävalenz von Helicobacter pylori über einen länge- ren Zeitraum verfolgt wurde.

Sipponen konnte in seiner Studie das Kohortenphänomen eindrucks- voll bestätigen, daß nämlich die um die Jahrhundertwende Geborenen

blen, Moclobemid) wegen der Mög- lichkeit des Auftretens eines lebens- bedrohlichen „Serotoninsyndroms"

unterbleiben sollte.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1995; 92: A-428-434 [Heft 7]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.

Anschrift für die Verfassen

Prof. Dr. med. Siegfried Kasper Universitätsklinik für Psychiatrie Klinische Abteilung für

Allgemeine Psychiatrie Währinger Gürtel 18-20 A-1090 Wien

bereits in ihrer Kindheit zu 70 bis 80 Prozent mit Helicobacter pylori durchseucht waren und daß die Präva- lenz der Helicobacter-pylori-Infekti- on sich in derselben Kohorte in den vergangenen 15 Jahren nicht geändert hat.

Bei allen Personen, die später, insbesondere nach dem zweiten Welt- krieg zur Welt kamen, ist die Durch- seuchungsrate mit 40 bis 50 Prozent signifikant niedriger; was auf eine kontinuierliche Besserung der hygie- nischen Verhältnisse schließen läßt.

Zwischen 1977 und 1992 ist die Prävalenz der Helicobacter-pylori- Gastritis um 18 Prozent gesunken.

Dies erklärt auch die deutliche Abnahme der Prävalenz von Ulcera duodeni und Magenkarzinomen in den vergangenen 20 Jahren.

Sipponen P, T Helske, P Järvenen, H Hyvärinen, K Seppälä, M Siurala: Fall in the prevalence of chronic gastritis over 15 years: analysis of outpatient series in Finland from 1977, 1985 and 1992. Gut 1994; 35: 1167-1171

Departments of Pathology

Internal Medicine, and Surgery Jovi Hospital, Espoo, Finland

A-434 (44) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 7, 17. Februar 1995

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