F
ür Zuckerkranke gibt es den Dia- betes-Bund, für Hypertoniker die Hochdruck-Liga und für Magen- kranke die Gastro-Liga. Diese Volks- krankheiten stellen einen erheblichen wirtschaftlichen Faktor dar und haben mächtige Interessenvertretungen, so- wohl aufseiten der Ärzte und Wissen- schaftler wie auch aufseiten der Patien- ten und der Pharmaindustrie.Anders sieht es bei seltenen Erkran- kungen aus, die in ihrer Gesamtheit zwar auch ein erhebliches Potenzial dar- stellen, sich aber auf eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Krankheiten vertei- len. Auf europäischer Ebene widmet sich seit vier Jahren die European Plat- form for Patient Organization, Science and Industry (Epposi) diesen seltenen Erkrankungen, angestoßen von einer europäischen Gesetzesinitiative, die da- zu dienen sollte, Forschung und Ent- wicklung von Arzneimitteln zur Be- handlung seltener Erkrankungen (or- phan drugs) zu fördern. Bei ihrem er- sten Treffen Ende letzten Jahres hat Epposi begonnen, mit Blick auf Infor- mationsstrategien, Diagnostik und The- rapie ein Netzwerk aufzubauen, das Partner aus der Industrie einbindet.
Auch auf politischer Ebene sind erste Schritte getan. Der EU-Kommission zufolge werden 20 Prozent der Mittel des 4. Rahmenprogramms der EU-För- derung bereits für seltene Erkrankun- gen ausgegeben. Das 5. Rahmenpro- gramm soll diese Quote halten. Inzwi- schen sei außerdem ein spezielles Pro- gramm für die Behandlung seltener Er- krankungen aufgelegt worden. Auch das Europa-Parlament hat den Willen bekräftigt, die Situation der Patienten, die an seltenen Krankheiten leiden, zu verbessern.
Auf die Frage nach der Definition seltener Erkrankungen gibt es unter- schiedliche Antworten. In der EU gilt eine Prävalenz von weniger als einer Erkrankung je 2 000 Einwohner als sel- ten. Aus Sicht der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) kommt eine „Orphan-Drug-Zulassung“
nur bei weniger als 200 000 Betroffenen
infrage, was bei 280 Millionen Ameri- kanern auf eine Prävalenz von weni- ger als 1/1 000 hinausläuft. Marlene E.
Haffner, Leiterin der Orphan-Drug- Abteilung der FDA, berichtet, dass ihre Behörde rund 5 000 genetisch determi- nierte seltene Erkrankungen dokumen- tiert hat. Nach dem Orphan-Drug-Ge- setz seien zurzeit zwölf Medikamente zugelassen, mit denen potenziell zwei Millionen Erkrankte behandelt werden könnten. Der Unterstützung von Ta- gungen, die auch Patientenorganisatio- nen einbeziehen, widmet sich das Office of Rare Diseases der nationalen ameri- kanischen Gesundheitsbehörde (NIH).
Deren Homepage (http://rarediseases.
info.nih.gov/) listet seltene Krankheiten und verweist auf weitere Internetseiten zu den einzelnen Erkrankungen, Fach- gesellschaften und Patientenorganisa- tionen. Die Listen werden ständig ak- tualisiert. Im Vergleich zur EU gibt es allerdings Diskrepanzen bei der Li- stung seltener Erkrankungen. Eine Auf- gabe von Epposi wird es sein, hier eine internationale Harmonisierung herbei- zuführen.
Für die Pharmaindustrie und Bio- technologiefirmen sind rare diseasesal- lerdings nur dann wirtschaftlich interes- sant, wenn beispielsweise ein für seltene Erkrankungen entwickeltes Medika- ment auch bei anderen Indikationen eingesetzt wird oder ein bereits ent- wickeltes Präparat mit neuer Indikation verwendet werden kann. Dass sich aber auch Innovationen lohnen können, die ausschließlich der Therapie einer selte- nen Erkrankung dienen, davon ist Erik Tambuyzer von der Genzyme Corpora- tion überzeugt. Der Erfolg der Firma gründet sich auf die Herstellung einer rekombinanten Glukocerbrosidase zur Behandlung des M. Gaucher (Typ 1). Jos Peeters von der Risikokapitalgesell- schaft Capricorn Venture Partners un- terstützt diesen Optimismus. Kapital sei von verschiedenen Seiten zu erwar- ten. So habe der ehemalige Eigentümer des Pharmakonzerns Boehringer-Mann- heim, Curt Engelhorn, eine Stiftung ge- gründet, die Forschung und Entwick- lung von Medikamenten für seltene Er- krankungen sponsere.
Prof. Dr. med. Matthias Löhr Prof. Dr. med. Wolfgang Stremmel T H E M E N D E R Z E I T
A
A3024 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 46½½½½16. November 2001
Seltene Erkrankungen
Austausch
über Grenzen hinweg
Die European Platform for Patient Organization, Science and Industry will die Entwicklung
von Medikamenten gegen seltene Krankheiten fördern.
An Epposi Interessierte können sich wenden an: Prof. Dr. med. J.-Matthias Löhr, Medizinische Klinik II, Fakultät für Klinische Medizin Mannheim, Universität Heidelberg, Theodor-Kut- zer-Ufer 1–3, 68135 Mannheim, Tele- fon: 06 21/3 83-29 00, Fax: 3 83-19 86, E-Mail: matthias.loehr@med.ma.uni- heidelberg.de. Weitere Informationen im Internet unter www.epposi.org.
Sogar Hollywood beschäftigte sich 1993 mit dem Thema „Seltene Erkrankungen“. Im Film „Loren- zos Öl“ suchen Eltern ein Mittel gegen die geneti- sche Erkrankung ihres Sohnes. Ungewöhnliche Duplizität der Ereignisse: Kurz nach dem Filmstart im Januar entdeckten Forscher das verursachende
ALD-Gen. Foto: Archiv