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Archiv "Seltene Erkrankungen: Voneinander lernen" (13.04.2012)

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A 742 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 15

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13. April 2012

SELTENE ERKRANKUNGEN

Voneinander lernen

Forscher untersuchten die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen. Ergebnis: Viele Ärzte haben keine Scheu, von ihren Patienten zu lernen.

D

ie Rollen sind klar verteilt:

Der Patient ist der Laie.

Wenn er krank ist, geht er zum Arzt, um beim Profi Diagnose und Thera- pie zu erhalten. Denn der Arzt kann erkennen, welche Erkrankung hin- ter den Symptomen steckt und wie man ihr begegnen kann.

Bei Patienten mit seltenen Er- krankungen verhält es sich jedoch häufig anders. Wie die Ergebnisse des Projekts „Entwicklung inno - vativer Versorgungskonzepte am Beispiel seltener Erkrankungen“

(EiVE) zeigen, erstellen bei diesen Krankheiten Ärzte den Therapie- plan mehrheitlich zusammen mit ihren Patienten.

In dem Projekt wurden 107 Men- schen mit den Krankheitsbildern amyotrophe Lateralsklerose, Mus- keldystrophie des Typs Duchenne, Epidermolysis bullosa, Marfan- Syndrom, Neurodegeneration mit Eisenablagerungen im Gehirn und Morbus Wilson zu den Schwierig- keiten in der Arzt-Patienten-Kom- munikation befragt. Die Mehrheit der Patienten ist demnach mit ihrer Versorgung insgesamt zufrieden.

Die Kompetenzzentren stellen für sie den wichtigsten Anlaufpunkt dar, und den dort arbeitenden Ärz- ten weisen sie eine große Expertise zu. Gleichzeitig erklärten die Be- fragten, zum Teil große Schwierig- keiten zu haben, einen Hausarzt oder einen niedergelassenen Fach- arzt zu finden, der über Erfahrun- gen mit ihrer Krankheit verfüge. In vielen Fällen gaben die Patienten an, selbst mehr über die Krankheit zu wissen als ihr Arzt.

„In der Behandlung von Patien- ten mit seltenen Erkrankungen se- hen wir nicht das klassische Bild einer arztgesteuerten Versorgung“, erklärte einer der Leiter der Pro- jekts, Prof. Dr. Carsten Schultz von

der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, bei der Präsentation der Er- gebnisse im März in Berlin. 54 Pro- zent der befragten Patienten hätten angegeben, ihre Behandlung finde kooperativ statt. In 36 Prozent der Fälle sei sie patientengesteuert, in sechs Prozent arztgesteuert und in vier Prozent der Fälle konfrontativ.

Die Mehrheit der Ärzte agiere als Partner der Patienten und erkenne die Rolle des Patienten als Experte seiner Krankheit an, heißt es in den Projektergebnissen. Nur eine kleine Anzahl der Ärzte zeige sich nicht bereit, sich neues Wissen anzueig- nen und auf die Belange der Patien- ten einzugehen.

Niedergelassene Ärzte gewährleisten Kontinuität „Sowohl Ärzte als auch Vertreter von Selbsthilfegruppen empfinden die Begegnung und die Möglich- keit, voneinander zu lernen, als sehr wertvoll“, erklärte der Vor stands - vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr.

med. Andreas Köhler. Kein Arzt scheue sich heute, von Selbsthilfe- gruppen zu lernen.

Für Menschen mit seltenen Er- krankungen seien niedergelassene Ärzte die ersten Ansprechpartner.

„Sie begleiten die Betroffenen und gewährleisten Kontinuität – viele Patienten ziehen den Arzt ihres Ver- trauens auch einem Kompetenzzen- trum vor“, sagte Köhler. Leider werde häufig unterstellt, dass die wahren Spezialisten nur in den Krankenhäusern zu finden seien.

Das sei so nicht richtig. Wichtig sei es allerdings, die niedergelassenen Ärzte entsprechend zu schulen.

Dass Kontinuität in der Betreu- ung bei Patienten mit seltenen Er- krankungen wichtig sein kann, zeigt ein anderes Ergebnis des

EiVE -Projekts. Denn die Wahr- scheinlichkeit einer frühzeitigen Diagnose des Marfan-Syndroms nimmt ab, je mehr Augenärzte, Hausärzte, Orthopäden, Kardiolo- gen und Angiologen in einer Regi- on niedergelassen sind, wie Prof.

Dr. Jonas Schreyögg von der Uni- versität Hamburg, ebenfalls Leiter des Projekts, ausführte. Insgesamt dauere es im Durchschnitt 607 Ta- ge, bis Betroffene eine gesicherte Diagnose erhielten.

Dieses Ergebnis könne die Kon- sequenz von strukturellen Merkma- len des deutschen Gesundheitssys- tems sein, heißt es in der Projektbro- schüre. So könne die Beteiligung verschiedener Ärzte die Diagnose- stellung durchaus verzögern, da kein standardisierter Wissensaustausch innerhalb des ambulanten Bereichs oder gar zwischen dem ambulanten und stationären Sektor vorgesehen werde. „Gerade bei der seltenen Erkrankung Marfan-Syndrom, die aufgrund der Vielzahl an betroffe- nen Organsystemen in hohem Maße komplex verläuft, wäre der Aus- tausch der behandelnden Ärzte un- tereinander besonders wichtig“, be- tonen die Wissenschaftler. Vor allem langfristige Arzt-Patienten-Bezie- hungen führten zu einer Verbesse- rung der individuellen Gesundheits- versorgung von Patienten. „Es kann also bei der Suche nach einer Dia - gnose sinnvoller sein, bei einem Arzt

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Das Marfan-Syn- drom tritt bei einem bis zwei von 10 000 Menschen auf – typisch ist die Arach- nodaktylie.

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13. April 2012 A 743 zu bleiben, statt die Ärzte häufig zu

wechseln“, resümierte Schreyögg.

Es fehle an einer Vernetzung zwischen den Versorgungsebenen, konstatierte auch KBV-Chef Köh- ler. Das führe dazu, dass viele Patienten von A nach B geschickt würden. „Ich sehe die ambulante spezialfachärztliche Versorgung als Chance, um die interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit sel- tenen Erkrankungen zu verbes- sern“, sagte er. Der Gesetzgeber ha- be seltene Erkrankungen auch ex- plizit als Schwerpunkt dieser neuen Versorgungsebene genannt. So könnten im Rahmen der ambulan- ten spezialfachärztlichen Versor- gung zum Beispiel innovative Be- handlungsformen erprobt werden, die bislang für die ambulante Ver- sorgung nicht zugelassen seien. Ei- ne Kooperationsverpflichtung zwi- schen ambulantem und stationärem Sektor gebe es allerdings nur für die Onkologie. „Wir fordern, dass die Kooperationserfordernis auch auf die seltenen Erkrankungen ausge- dehnt wird“, sagte Köhler.

Im Rahmen des EiVE-Projekts wurde auch untersucht, wie Versor- gerteams von Patienten mit seltenen Erkrankungen möglichst effizient zusammenarbeiten können. Dabei wurden 86 Teams betrachtet, in de- nen zwischen zwei und 14 Versor- gern arbeiteten – vor allem stationä- re und niedergelassene Fachärzte

sowie Hausärzte, Pflegekräfte und Therapeuten. „Die Stabilität in der Teamzusammensetzung ist essen- ziell, um bestmöglich von dem Wissen des Versorgungsteams zu profitieren“, erklärte Projektleiter Schultz. „In einem stabilen Team werden gemeinsame Ziele leichter akzeptiert und die Bereitschaft zur Kooperation innerhalb des Teams steigt.“ Die Initiative des Einzelnen werde dabei durch die Existenz von Leitlinien gefördert. Ein Mangel an standardisierten Abläufen hingegen wirke sich negativ aus.

„Durch eine stabile Teamzusam- mensetzung und Handlungsleitlini- en können Wissensdefizite ausgegli- chen werden“, erklärte Schultz. Wich- tig sei die Entwicklung von Shared- Care-Modellen, bei denen die Auf- gaben zwischen Primärversorgern und Referenzzentren arbeitsteilig koordiniert und dadurch Doppeltä- tigkeiten verhindert würden. Insbe- sondere die Wissensakquise könne auf diese Weise erleichtert werden.

Bezüglich der Patientenmobilität hat EiVE gezeigt, dass sich etwa die Hälfte der Menschen mit seltenen Erkrankungen an ihrem Wohnort und nicht in zentralen Kompetenz- zentren behandeln lassen – und da-

mit nicht signifikant mehr als Pa- tienten, die aufgrund einer häufiger auftretenden Erkrankung behandelt werden. Dadurch hätten sie zwar den Vorteil, in ihrem gewohnten Umfeld versorgt zu werden und längere Reisen zu vermeiden, zu- gleich müssten sie jedoch auf die spezialisierten Kenntnisse der Kompetenzzentren verzichten, heißt es in den Projektergebnissen.

Internetplattform nach dem Vorbild von Amazon Als Lösung schlägt EiVE eine stär- kere Verzahnung von wohnortnaher Versorgung und Kompetenzzentren vor. So könnten Therapiepläne, die auch die Präferenzen der Patienten berücksichtigen, mit Hilfe der Kompetenzzentren individuell ver- einbart und wohnortnah umgesetzt werden. Auf der anderen Seite könnte durch den Aufbau von Pa- tientenregistern die Forschung in den Kompetenzzentren unterstützt werden, da Register es den Zentren ermöglichten, Patienten für klini- sche Studien zu rekrutieren.

Zur Vernetzung beitragen soll auch die Internetplattform „Ge- meinsam für die Seltenen“, die von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg entwickelt wur- de. Hier können sich betroffene und nichtbetroffene Patienten austau- schen. Die Nutzer sind dazu aufge- rufen, gemeinsam Konzepte für Pro- dukte und Dienstleistungen zu ent- wickeln, die Patienten bei der Be- wältigung ihrer Probleme im Alltag helfen können. Die drei vielverspre- chendsten Lösungsansätze werden von der Nutzergemeinschaft zu kon- kreten Konzepten weiterentwickelt, die in der Praxis umgesetzt werden können. „Wenn ich ein seltenes Buch suche, nutzt es mir nichts, in eine große Buchhandlung zu ge- hen“, sagte die Initiatorin der Platt- form, Prof. Dr. Kathrin Möslein.

Stattdessen müsse man lange in kleinen Buchhandlungen suchen, bis man fündig werde. „Für Bücher ist die Lösung Amazon“, so Mös- lein. Und nach diesem Muster solle auch ihre Plattform für die seltenen Erkrankungen wirken – 220 000 Be- sucher hätten sie bereits genutzt.

Falk Osterloh Als selten gilt in Deutschland eine Erkrankung, wenn weni-

ger als fünf von 10 000 Menschen von ihr betroffen sind.

Mehr als 5 000 dieser Krankheiten sind bekannt – viele von ihnen werden durch einen genetischen Defekt ausge- löst. Etwa vier Millionen Menschen leiden in Deutschland unter einer seltenen Erkrankung.

Ziel die Projekts EiVE ist es, Menschen mit seltenen Er- krankungen sowie ihre Versorger und alle, die in diesem Bereich Entscheidungen fällen, zusammenzubringen. An dem vom Bundesforschungsministerium geförderten Pro- jekt waren über drei Jahre die Technische Universität Ber- lin, die Universität Hamburg, die Friedrich-Alexander-Uni- versität Erlangen-Nürnberg sowie die Deutsche Stiftung für chronisch Kranke, das Institut Arbeit und Technik und die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) betei- ligt. Evaluiert wurden Koordination und Innovationsverhalten bei 18 seltenen Erkrankungen, die sich in Prävalenz, Pro- gredienz und Versorgungskomplexität unterscheiden. Es wurden Daten von 202 Patienten, 186 Leistungserbringern und 80 Kompetenzzentren erhoben und durch Abrech- nungsdaten der Krankenkassen ergänzt.

EIVE: ZIEL DES PROJEKTS

P O L I T I K

Foto: CNRI-SPL-Agentur Focus

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