A 2272 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 46|
19. November 2010SELTENE ERKRANKUNGEN
Hilfe steuern und strukturieren
Es gibt 5 000 bis 8 000 seltene Erkrankungen in Deutschland. Kein Arzt kann sie alle kennen. Nun soll ein nationaler Aktionsplan Ärzte bei der Diagnostik und Therapie unterstützen.
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ie Diagnose von seltenen Er- krankungen ist im hektischen Praxisalltag häufig eine große Herausforderung. Um die Versor- gung der betroffenen Patienten zu verbessern, hat der Rat der Europä - ischen Union (EU) im vergangenen Jahr den EU-Mitgliedstaaten emp- fohlen, „vorzugsweise bis 2013 ei- nen Plan auszuarbeiten, der die auf dem Gebiet seltener Krankheiten getroffenen Maßnahmen steuert und strukturiert“.Im November hat das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) die Arbeit an einem nationalen Ak- tionsplan aufgenommen. Beteiligt sind unter anderem das Bundesmi- nisterium für Gesundheit (BMG), das Bundesforschungsministerium und die Allianz Chronischer Selte- ner Erkrankungen (ACHSE). Vier Arbeitsgruppen sollen bis spätes- tens 2013 Strategien entwickeln, um die Diagnose seltener Erkran- kungen zu beschleunigen, Experten zu vernetzen, Fachzentren zu schaf- fen und die Forschung zu verbes- sern. Einzelheiten erläuterte Dr.
Volker Grigutsch vom BMG auf der Nationalen Konferenz für Seltene Erkrankungen, die ACHSE im Ok- tober in Berlin veranstaltete.
Gut erreichbare Fachzentren
Das Grundproblem sei, „dass es den Ärzten unmöglich ist, alle sel- tenen Krankheiten zu kennen“, sagte der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller (CSU). Umso wichtiger sei es da- her, dass sie bei der Diagnose eine seltene Krankheit in Betracht zögen und die Patienten gegebenenfalls an Spezialisten überwiesen.Um dies zu erreichen, erläuterte Grigutsch, müsse medizinisches, therapeutisches und pflegerisches
Personal besser informiert wer - den – besonders darüber, wo sie Hilfe von Spezialisten finden könnten. Auch sei es wichtig, die Aus-, Weiter- und Fortbildung in diesem Bereich zu verbessern.
Grigutsch verwies auf eine Studie der Leibniz-Universität Hannover aus dem letzten Jahr, in deren Rah men betroffene Patienten nach wichtigen Versorgungsaspekten be - fragt worden waren. Von größter Relevanz für die Patienten ist demnach eine hohe Kompetenz der Ärzte. Die wohnortnahe Ver- sorgung wurde dagegen nachran- gig eingestuft.
Um die gewünschte hohe Kom- petenz zu erreichen, müssten Fach- zentren mit angegliederten For- schungseinrichtungen gebaut wer- den, erklärte Grigutsch. Diese soll- ten in gut erreichbaren Orten in Deutschland liegen.
Auch die Erforschung neuer Me- dikamente für seltene Erkrankun- gen, sogenannter Orphan Drugs, soll im Rahmen der Umsetzung des Na- tionalplans verbessert werden. Zu- dem will NAMSE die Versorgung mit zugelassenen und Off-label-use- Arzneimitteln optimieren.
Im Zuge des Gesetzgebungs - verfahrens zum Arzneimittelmarkt - neuordnungsgesetz sorgten Orphan Drugs wochenlang für Diskus - sionen. Denn die Fraktionen von
CDU/CSU und FDP hatten einen Änderungsantrag erfolgreich einge- bracht, demzufolge Orphan Drugs von der frühen Nutzenbewertung ausgenommen werden sollten, da davon auszugehen sei, dass es für sie keine therapeutisch gleichwerti- ge Alternative gebe. ACHSE hatte den Antrag ebenfalls befürwortet.
Bei ihrer Zulassung durch die Eu - ropä ische Arzneimittelbehörde hät- ten Orphan Drugs bereits belegt, dass sie einen Zusatznutzen zur be- stehenden Therapie hätten.
Nicht konsequent geprüft
Experten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Ge- sundheitswesen sowie der Arznei- mittelkommission der deutschen Ärzteschaft hatten im Deutschen Ärzteblatt hingegen darauf hinge- wiesen, dass der Nutzen von Arz- neimitteln zur Therapie seltener Erkrankungen längst nicht so kon- sequent geprüft werde, wie es nach den entsprechenden EU- Sonderregeln aus dem Jahr 1999 den Anschein habe (DÄ, Heft 42/2010). Sie befürchteten zu- dem, dass Pharmafirmen zunächst eine Zulassung ihrer Medikamen- te als Orphan Drugs anstreben könnten, nur um danach „eine schleichende Indikationsauswei- tung“ voranzutreiben. ■ Rasmus CloesIn der Europäischen Union gilt eine Er- krankung als selten, wenn maximal fünf von 10 000 Menschen betroffen sind. Viele dieser Krankheiten treten aber noch weit seltener auf. Da es je- doch 5 000 bis 8 000 solcher Erkran-
kungen gibt, sind trotzdem viele Men- schen von ihnen betroffen – nach Schätzungen der Europäischen Union europaweit zwischen 27 und 36 Mil- lionen. In Deutschland geht man etwa von vier Millionen Betroffenen aus.