Cui bono?
Den Autoren gebührt Dank. Mit die- sem „update“ ist die Eisenmangeldia- gnostik im digitalen Zeitalter ange- kommen. Trotzdem muss gefragt wer- den, welchen Nutzen dieser angeblich
„neue Goldstandard“ in der Praxis bringt? Wir halten die alte Einteilung von Eisenmangel nach Heinrich und Hausmann unverändert für gültig, weil sie sich in der Praxis bewährt hat (1):
1. prälatenter Eisenmangel (Spei- chereisenmangel): Abfall Serum-Fer- ritin auf Werte < 30 µg/L, teilweise;
< 12 µg/L, komplett erschöpfte Eisen- speicher
2. latenter Eisenmangel (Beein- trächtigung des Transporteisenpools):
Abfall Serum-Eisen, Anstieg von TEBK und Transferrin
3. manifester Eisenmangel (Eisen- mangelanämie): Abfall von Hämoglo- bin.
Diese einfachen und kostengünsti- gen Parameter ermöglichen in fast allen Fällen eine Diagnose, und auch die Therapie kann hinreichend genau kontrolliert werden.
Auch der Eisenmangel, der in der Schwangerschaft auftreten kann, er- fordert keine zusätzliche Diagnostik.
Hier wäre es schon erfreulich, wenn Gynäkologen in der Praxis häufiger das Serum-Ferritin (statt Serum-Ei- sen) als Diagnostik einsetzen würden.
Tatsache ist, dass die stark einge- schränkten Eisenreserven bei vielen Frauen nicht ausreichen, um den Ei- senbedarf einer Schwangerschaft und
des Blutverlustes bei der Geburt zu decken. Wenn also in der Schwanger- schaft ein niedriger Hb-Wert oder ein niedriger Serum-Ferritin-Wert gemes- sen wird, sollte in jedem Fall eine ora- le Eisentherapie mit einmal 50 bis 100 mg/Tag über drei Monate empfohlen werden, um die verlorene Menge des essenziellen Spurenelementes Eisen zu ersetzen.
Ein Argument der Autoren ist das zeitnähere Erkennen eines funktio- nellen Eisenmangels. Es ist aber auch hier die Frage, wie relevant dies in der Praxis ist. Im Rahmen einer sich ent- wickelnden Blutungsymptomatik wür- de man anfangs den Abfall des Serum- Ferritins oder später des Hb-Wertes auch im Abstand von wenigen Tagen, mindestens in wöchentlichen Abstän- den, erkennen.
Bei der Behandlung einer Eisen- mangelanämie sollte man sich nicht nur nach der „Verschiebung von Da- tenpunkten in Quadranten“ ausrich- ten. Auch eine effiziente orale Eisen- therapie erfordert meist eine deutlich längere Zeit (etwa 90 Tage) als die von den Autoren angegebenen 20 bis 30 Tage, um normale Eisenreserven zu- rückzubringen.
Die hier vorgestellte Diagnostik hat also ihre engere Berechtigung nur in Fällen einer Anämie bei chronischer Erkrankung, bei denen unklar ist, ob zusätzlich auch ein Eisenmangel vor- liegt. Hier ist ein Eisenmangel in der Tat schwer zu diagnostizieren, und hier kann der Einsatz von löslichem Trans- ferrinrezeptor und Retikulozyten-Hb in manchen Fällen helfen. Trotzdem bleiben auch damit einige Fälle weiter unklar, und hier kann ein begrenzter Therapieversuch mit oralem Eisen zum Beispiel über vier Wochen sinn- voll sein.
Literatur
1. Hausmann K, Kuse R, Meinecke KH, Bartels H, Heinrich HC: Diagnostische Kriterien des prälatenten, latenten und manifesten Eisenmangels. Klin Wschr 1971; 49:
1164–74.
Priv.-Doz. Dr. med. Dr. rer. nat Peter Nielsen Institut für Biochemie und Molekularbiologie II Molekulare Zellbiologie
Zentrum für Experimentelle Medizin Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52
20246 Hamburg
Klinische Aspekte fehlen
Es ist verdienstvoll, auf moderne Para- meter zur besseren Diagnostik von Störungen des Eisenstoffwechsels hin- zuweisen. Allerdings dominieren in die- sem Beitrag die laborärztlichen Verfah- ren, während klinische Aspekte nur ge- legentlich am Rande erwähnt werden, obwohl zwei der Autoren als Kliniker ausgewiesen sind. So wird leider mit keinem Wort auf die wichtige Bedeu- tung von Anamnese und Differenzial- diagnostik eingegangen, die als geistige ärztliche Leistung vor der häufig unkri- tischen Anforderung zum Teil kosten- aufwendiger Laboruntersuchungen ste- hen sollten und diese teilweise überflüs- sig machen.
Die Autoren lassen auch offen, wann der funktionelle Eisenmangel von so großer klinischer Relevanz ist, dass auf- wendige Tests und Berechnungen (zum Beispiel sTfR/log Ferritin) zwingend gerechtfertigt sind. Dies mag auf die vergleichsweise kleine Gruppe von Pa- tienten unter r-HuEPO-Therapie bei chronischer Niereninsuffizienz bezie- hungsweise unter Dialyse zutreffen.
Nach eigener langjähriger klinischer Erfahrung lassen sich Patienten mit ver- schiedenen Schweregraden des Eisen- mangels oder mit Anämien infolge chronischer Erkrankungen in der Regel mit dem herkömmlichen Laborspek- trum (Blutbild, Retikulozyten, Ferritin, CRP) erkennen. Zugegebenermaßen können Mischbilder von Infekt-/Tumor- anämie und Eisenmangel diagnostisch schwierig sein und rechtfertigen gege- benenfalls die empfohlenen zusätzli- chen Tests.
Es wird auch nicht diskutiert, inwie- weit der funktionelle Eisenmangel bei ausreichendem Speichereisen (Qua- drant 4 der Grafik 2) überhaupt thera- piebedürftig ist, zumal viele Patienten an ihre Anämie adaptiert sind. Wenn es bei Patienten mit klassischem Eisen- mangel „im Mittel nach zehn Tagen ora- ler Eisentherapie zu einer Verschie- bung des Datenpunktes von Quadrant 3 in Quadrant 2 und nach 20 bis 30 Tagen in Quadrant 1“ der Grafik 3 kommt, weisen die Autoren leider nicht darauf hin, dass dies nur bei fehlender oder beseitigter Blutungsquelle (so ge- nannter nicht- und posthämorrhagi- M E D I Z I N
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 42⏐⏐21. Oktober 2005 AA2877
zu dem Beitrag
Neue Parameter zur Diagnostik von
Eisenmangelzuständen
von
Prof. Dr. med. Lothar Thomas Dr. med. Christian Thomas Prof. Dr. med. Hermann Heimpel
in Heft 9/2005
DISKUSSION
scher Eisenmangel) möglich ist. Bei Pa- tienten mit persistierender Blutung (so genannter chronisch-hämorrhagischer EM) ist dagegen eine wesentlich länger dauernde Therapie erforderlich. Aller- dings muss hier die Beseitigung oder Stillung der Blutungsquelle das erste Ziel sein. Insofern dürfte ein ergänzen- der Beitrag, der anhand verschiedener Patientengruppen die Überlegenheit der angeführten modernen Parameter in der Differenzialdiagnostik oder als therapeutische Verlaufskontrolle bei- spielhaft aufzeigt, wesentlich zur Ak- zeptanz und zum Einbau in die klini- sche Diagnostik beitragen.
Prof. Dr. med. Rolf Kuse Richterstraße 11 22085 Hamburg
Kritik am „funktionellen Eisenmangel“
Mit ihren neuen Blutparametern zur Diagnostik von Eisenmangelzuständen glauben die Autoren, bewährte diagno- stische Kriterien wie die Stadieneintei- lung des Eisenmangels nach Hausmann und Heinrich (1) zugunsten der höchst problematischen Neuschöpfung eines funktionellen Eisenmangels aufgeben zu können.
Was ist so neu und umwerfend an den Parametern? Das Retikulozyten- hämoglobin – präziser müsste es oh- nehin in Anlehnung an den mittleren zellulären Hämoglobingehalt (MCH) mittlerer retikulozytärer Hämoglobin- gehalt (MRH) heißen – ist lediglich ein zeitlicher Vorläufer des MHC, also kein grundsätzlich neues Kriterium. Wahr- scheinlich ist er nur von speziellem Wert bei therapeutischen Verlaufsbeobach- tungen wie bei einer Behandlung mit Erythropoetin und Eisen. Die Diagno- se eines bevorstehenden manifesten Eisenmangels, der sich laborchemisch durch einen erniedrigten MRH-Wert vorankündigt, gehört jedenfalls in den Bereich von Wunschvorstellungen. Die Autoren hätten gut daran getan, den re- tikulozytären Parameter beim latenten Eisenmangel auf seine diagnostische Wertigkeit zu prüfen.
Die Erhöhung des löslichen Trans- ferrinrezeptors (sTfR) als ein Erken-
nungszeichen für eine expandierte Erythropoese ist in der Tat ein diagno- stischer Gewinn, allerdings weniger für den Eisenmangel als vielmehr für den Formenkreis der Anämien mit ineffek- tiv gesteigerter Erythropoese, zu der die von den Autoren zitierte Thallasämie, aber auch bestimmte therapierefrak- täre Anämien mit Ringsideroblasten gehören. Als „iron-loading anaemias“
führen diese Anämieformen mit zu er- wartenden Höchstwerten von sTfR al- lerdings eher zu einer Eisenüberladung des Organismus.
Die Autoren diskreditieren den Aus- sagewert eines erniedrigten Serum- eisenspiegels, obwohl er das alleinige Merkmal ihres fragwürdigen Begriffes eines funktionellen Eisenmangels ist.
Unter diesem werden fatalerweise so unterschiedliche Entitäten wie der ma- nifeste Eisenmangel (Eisenmangelanä- mie) und die Anämie bei chronisch ent- zündlicher Erkrankung/Tumor subsu- miert. Letztere ist eine Utilisations- störung des Speichereisens, also keine Eisenmangelsituation des Körpers. Ei- senmangel und auch Eisenüberladung waren bislang ganzheitliche, auf den Körper bezogene Bilanzstörungen des Eisenstoffwechsels und sollten es auch bleiben.
Die Autoren betonen den „Goldstan- dard zur Messung des Speichereisens“, die Berliner-Blau-Färbung von Kno- chenmarkgewebe. Dieses gilt nicht nur für das Speichereisen, sondern auch für die Beurteilung seiner Utilisation durch die Erythropoese. Die Verfügbarkeit des Speichereisens wird sichtbar durch den Nachweis von Erythroblasten mit feinen, eisenpositiven Granula. Die Zahl dieser so genannten Sideroblasten korreliert positiv mit dem Serumeisen- spiegel. Das Fehlen von Sideroblasten, trotz vorhandenen Speichereisens in den Makrophagen, stellt das überzeu- gendste Kriterium für die Anämie bei chronisch entzündlicher Erkrankung oder einem Tumor dar.
Literatur
1. Hausmann K, Kuse R, Meinecke KH, Bartels H, Heinrich HC: Diagnostische Kriterien des prälatenten, latenten und manifesten Eisenmangels. Klin Wschr 1971; 49:
1164–74.
Prof. Dr. med. Jochen Düllmann Klinken 7, 23843 Rümpel
Schlusswort
Zielsetzung der Publikation war die ra- tionale Verwendung und Interpretation der neuen Marker Retikulozytenhämo- globin (Ret-Hb) und löslicher Transfer- rinrezeptor (sTfR) zur Beurteilung des Eisenstoffwechsels. Der Schwerpunkt lag auf der Labordiagnostik der Eisen- stoffwechselstörungen, basierend auf der Erfahrung, dass die Tests zuneh- mend mit klarer Indikationsstellung an- gefordert werden. Die Kosten von sTfR und Ret-Hb sind nur unwesentlich höher als die totale Eisenbindungska- pazität (TEBK) und die Transferrinsät- tigung (TfS). Ferritin ist bei Verdacht auf Eisenmangel immer zu bestimmen.
Die von Herrn Nielsen zitierte Un- terteilung der Speichereisenverminde- rung in eine prälatente und eine latente Phase war nicht Gegenstand unserer Arbeit und ist bei komplexen Eisen- stoffwechselstörungen bedeutungslos.
Die Einteilung von Hausmann und Heinrich ist für klinische Entscheidun- gen nicht relevant und wird in keiner der anerkannten Übersichtsarbeiten der vergangenen 20 Jahre erwähnt.
TEBK und TfS, mit deren Hilfe diese Einteilung in Kombination mit dem Ferritinwert erfolgt, sind unzuverlässig, abgesehen von schweren Mangelzu- ständen des Quadranten 3 in unserem diagnostischen Diagramm, bei denen man sie nicht benötigt. TEBK und TfS sind bei Anämie chronischer Erkran- kungen (ACD) nicht repräsentativ für den Funktionseisenpool, weil Transfer- rin ein negatives Akute-Phase-Protein ist. sTfR und Ret-Hb geben demge- genüber den Eisenbedarf der Erythro- poese unbeeinflusst von einer Akute- Phase-Reaktion wieder. Die Relevanz eines funktionellen Eisenmangels für die Eisentherapie besteht in der früh- zeitigen Erkennung des Ansprechens.
Unter oraler Eisentherapie kann an- hand des diagnostischen Diagramms der pathophysiologische Ablauf von Vorgängen im Eisenstoffwechsel ver- folgt werden. Das ist wichtig bei Patien- ten, die keine adäquate Antwort auf ei- ne orale Eisentherapie zeigen. So ist die Zunahme des Ret-Hb > 28 pg innerhalb von Tagen ein zeitgerechtes Signal, dass die rote Blutzelle mit einem normalen Hb-Gehalt ausgestattet wird, während M E D I Z I N
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A2878 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 42⏐⏐21. Oktober 2005