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Archiv "Medizin in Entwicklungsländern" (15.04.1976)

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

BLICK ÜBER DIE GRENZEN

Wer als Arzt in Entwicklungslän- dern tätig sein will, wird sich früher oder später die Frage stellen, was er angesichts der schier ausweglo- sen Situation auf dem Gesund- heitssektor dort tun kann. Die Ant- wort wird je nach Übereinstim- mung oder Diskrepanz zwischen eigenem Rollenverständnis und Er- wartungshaltung der Mitwelt unter- schiedlich ausfallen.

Mit der Entscheidung, in Entwick- lungsländern tätig zu werden, tritt der Arzt persönlich in die Diskus- sion über Wert und Unwert der Entwicklungshilfe ein, und er wird sich in seiner Doppelrolle als Arzt und Entwicklungshelfer häufig in einem Entscheidungsdilemma be- finden. Er nimmt teil an dem Pro- zeß, der als Akkulturation zu be-.

zeichnen ist, bei aller Diskussions- würdigkeit oder Fragwürdigkeit, die diesem Begriff anhaftet, denn durch ihn findet ein Transfer von

„know-how", Technologie und Ideengut statt, was immer im ein- zelnen Fall darunter zu verstehen ist.

Jede Entscheidung, die der Arzt trifft, ist von entwicklungspoliti- scher Relevanz, selbst wenn er sich noch so sicher auf dem neu- tralen „wertfreien" Boden ärztli- cher Ethik zu befinden glaubt.

Wenn es auch in den eigenen Zivi- lisationsbreiten häufig schwerzu- fallen scheint, unter der Hybris der medizinischen Technologie noch das primäre soziale Mandat des

ärztlichen Berufs zu erkennen, im Entwicklungsland wird dies umge- hend und massiv bewußt.

Hiermit ist auch eine wichtige Komponente des Retransfers von Erfahrungen aus Entwicklungslän- dern durch den Arzt nach der Rückkehr angesprochen, aus der klar wird, daß Entwicklungshilfe auch geistig und im positiven Sin- ne ein Geben und Nehmen sein kann. Für den erstausreisenden Arzt stellt sich daher die sehr be- rechtigte Frage nach der Medizin in Entwicklungsländern — im Un- terschied zu Tropenmedizin im en- geren Sinn — und nach der Rolle des Arztes insbesondere des frem- den Arztes dort.

Zu einer Antwort auf diese Fragen versucht der seit 1974 zweimal jährlich stattfindende siebenwöchi- ge Kurs „Medizin in Entwicklungs- ländern" der Tropeninstitute Hei- delberg, Tübingen und Hamburg dem ausreisenden Kollegen zu ver- helfen.

Medizin in Entwicklungsländern Die 26. Vollversammlung der Welt- gesundheitsorganisation im Mai 1973 in Genf kam zu der abschlie- ßenden Feststellung, daß unter den Bevölkerungen sowohl der unter- entwickelten, wie auch der hochin- dustrialisierten Länder eine weit- verbreitete Unzufriedenheit mit der medizinischen Versorgung bestehe

und daß die Gesundheitsdienste mit den sich ändernden Erforder- nissen nicht Schritt hielten.

Die Kritik wurde folgendermaßen zusammengefaßt:

• mangelnde Berücksichtigung der Erwartungen der Bevölkerung,

• Unfähigkeit, eine angemessene Versorgung auf nationaler Ebene zu erreichen,

• eine tiefe Kluft zwischen dem Gesundheitsstatus verschiedener Länder und verschiedener Bevöl- kerungsgruppen innerhalb der Län- der,

• rapide wachsende Kosten ohne entsprechende Verbesserung der Dienste,

• ein Gefühl der Hilflosigkeit auf seiten der Konsumenten medizini- scher Leistungen.

Was ist geschehen, oder vielmehr was ist nicht geschehen? Gesund- heit und medizinische Versorgung durch die verschiedenen Gesund- heitsdienste sind eng verknüpft mit sozio-ökonomischen und politi- schen Bedingungen und ihrer Ent- wicklung. Nur wenige Entwick- lungspläne anerkennen ausdrück- lich die Notwendigkeit der Integra- tion der Gesundheitsdienste und ihrer Aufgaben in die Gesamtstra- tegie der Entwicklung eines Lan- des. Entwicklung ist aber, wie Gun- nar Myrdal es ausdrückt, nicht nur ein ökonomischer Prozeß, sondern die „Aufwärtsbewegung des ge- samten Sozialgefüges", und in die- sem Rahmen ist die Entwicklung der medizinischen Versorgung zu sehen.

Drei wichtige Faktoren beeinflus- sen die Verfügbarkeit medizini- scher Dienste:

• wirksam artikulierte Bedürfnis- se,

• Gesundheitsprogramme, die aus Planungs- und Entscheidungspro- zessen hervorgehen und

Medizin

in Entwicklungsländern

Gedanken zum neuen Postgraduierten-Kurs für Ärzte der Tropeninstitute in Heidelberg, Tübingen und Hamburg

H. J. Diesfeld

1118 Heft 16 vom 15. April 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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..,.. Gesundheitsdienste, das heißt die Technik und Strategie der Ver- teilung von medizinischen Dienst- leistungen zur Verwirklichung der Gesundheitsprogramme.

Die wirksam artikulierten Bedürf- nisse - zu unterscheiden von den tatsächlichen Bedürfnissen - spie- geln weitgehend die Fähigkeit von einflußreichen Gruppen wider, Prioritäten zu setzen und die Mit- telverteilung zu steuern. Ob hier- durch auch den Bedürfnissen der weniger einflußreichen, in der Re- gel zahlreicheren und weniger ge- sunden entsprochen wird, hängt weitgehend von der Qualität der Entscheidungsprozesse ab. Hierbei kommt es zu horizontalen und ver- tikalen Disparitäten innerhalb der sozialen und regionalen Gruppie- rungen.

Im Vergleich zur städtischen Be- völkerung, die in erster Linie vom Entwicklungsprozeß profitiert, ist es die ländliche Bevölkerung, die in vielen Bereichen des täglichen Lebens, besonders aber im Ge- sundheitssektor, unterprivilegiert ist und durch zunehmende Wachs- tumsraten, Isolation, niedrigen Hy- giene-, Lebens- und Bildungsstan- dard sowie Traditionalismus cha- rakterisiert ist.

Wenn es auch großartige Demon- strationen der Wirksamkeit moder- ner Medizin gibt, so wird vom Me- diziner leicht übersehen, daß die allgemeine Entwicklung, die He- bung des Lebensstandards im wei- testen Sinne des Wortes, die Ver- besserung der Kommunikation in allen Lebensbereichen, die Hebung des Bildungsniveaus, der Transfer von Wissenschaft und Technologie ebenso zur Verbesserung der Ge- sundheit beitragen wie Bekämp- fungsprogramme gegen endemi- sche und epidemische Krankhei- ten. Medizin ist nur ein Teilaspekt und muß es sich daher gefallen lassen, im Prioritätenkatalog der Entwicklungsstrategien an nachge- ordneter Stelle zu stehen.

Im Zuge der politischen Emanzipa- tion der sogenannten Entwick-

lungsländer wurden in konsequen- ter Fortsetzung einer generatio- nenlang eng mit den ehemaligen Kolonialmächten verbundenen Bil- dungspolitik die schulmäßig eta- blierte naturwissenschaftlich-klini- sche Medizin übernommen, nur mit dem Unterschied, daß diese Form der Medizin noch weniger den tat- sächlichen Bedürfnissen nach me- dizinischer Versorgung gerecht wurde als die Massenmedizin zur Bekämpfung der großen Tropen- seuchen, wie erfolgreich diese auch immer gewesen sein mag.

Wir stehen in den Entwicklungslän- dern heute vor der Tatsache, daß den im Umbruch befindlichen tradi- tionellen Gesellschaften eine weit- gehend aus diesem naturwissen- schaftlichen Verständnis gespeiste Medizin aufgestülpt wird, die in dem Moment, wo es sich nicht um Mückenbekämpfung oder andere Massenkampagnen handelt, für den Gesundheitszustand und die gesundheitlichen Bedürfnisse der Bevölkerung nur von marginaler Bedeutung ist. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß der größte Teil der empfundenen Bedürfnisse in bezug auf körperliches, psychi- sches und soziales Wohlbefinden, wie die normative Definition von Gesundheit der WHO lautet, von der Bevölkerung im Bereich der traditionellen Medizin, der Volks- medizin und der sozialen Umwelt der Gruppe und nicht durch das importierte Medizinalsystem ge- sucht und gefunden wird.

Es bleibt eine vielgestaltige Kluft zwischen dem System naturwissen- schaftlich orientierter Medizin und der Bevölkerung in weiten Teilen der Entwicklungsländer. ln einer jüngsten Untersuchung von über 40 Entwicklungsländern wurde festge- stellt, daß das gegenwärtige Ge- sundheitsversorgungssystem nicht mehr als 20 Prozent der Bevölke- rung erreicht. Da die personellen, materiellen und finanziellen Mittel im Gesundheitswesen, zu 80 Pro- zent auf den urbanen Sektor kon- zentriert sind, in dem nur 20 Pro- zent der Bevölkerung leben, stehen den übrigen 80 Prozent der Bevöl-

Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen Medizin in Entwicklungsländern

Abbildung 1: Bevölkerungs- und Mittelverteilung im Gesundheits- wesen in Entwicklungsländern

kerung nur 20 Prozent der Mittel zur Verfügung (Abbildung 1).

Obwohl man sich allenthalben hier- über klar ist, ist kaum ein Ansatz zu erkennen, der dieses Ungleich- gewicht zu beseitigen verspricht.

Es gibt eine Reihe von Gründen, die diesen Tatbestand erklären:

..,.. der Umfang des Gesundheits- problems an sich,

..,.. die begrenzte Fähigkeit, ent- sprechende Gesundheitsversor- gungsprogramme zu entwerfen und durchzuführen,

..,.. Unzulänglichkeiten im Ausbil- dungsprogramm und in der Ver- wendung von FachpersonaL Über den Umfang von Gesund- heitsproblemen, ihre komplexen Ursachen und Auswirkungen auf die Gesellschaft weiß man zwar generell Bescheid, doch eine Ana- lyse, eine entsprechende Quantifi- zierung und daraufhin gerichtete

"Gesundheitsplanung" ist, abgese- hen von einigen punktuellen Ansät- zen oder isolierten Maßnahmen, kaum zu finden.

Derzeit sind die meisten Gesund- heitssysteme zu sehr um die kurati- ve Medizin und somit auf das Kran- kenhaus konzentriert, das selbst zur Gesundheitsförderung oder Krankheitsausrottung wenig beizu- tragen imstande ist.

Solange das Krankenhaus die zen- trale Position einnimmt, aus seiner Perspektive die gesundheitliche Si-

DEUTSCHES ARZTEBLA'IT

Heft 16 vom 15.April1976

1119

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Sekundäre medizinische

Versorgung (Distrikts- und 15%

andere Basiskrankenhäuser) Primäre medizinische 20%

Versorgung (Health Centre, 30%

Dispensaries usw.)

Traditionelle

Medizin und 50%

Selbstmedikation

Abbildung 2: Effektiver Bedarf an medizinischer Versorgung im Gesund- heitssektor in Entwicklungsländern

80%

5%

Derzeitige Mittelverteilung im Gesundheits- Tertiäre medizinische Versorgung

(Schwerpunktkrankenhäuser mit Fachabteilungen)

Spektrum der Woche Aufsätze Notizen

Medizin in Entwicklungsländern

tuation einer Bevölkerung betrach- tet wird, und seine Rolle nur die ei- ner mehr oder weniger effizienten Reparaturwerkstatt ist, stellen sich die Lösungen immer nur wieder als kurative Maßnahmen dar oder be- stenfalls als präventive, vom Kran- kenhaus in die Peripherie vorgetra- gene Impfkampagnen o. ä.

Solange das Krankenhaus haupt- sächliches Ziel und damit auch wichtigste Stätte medizinischer Ausbildung ist, so lange wird das hieraus hervorgehende medizini- sche Personal, einschließlich der Ärzte wieder nur für das Kranken- haus ausgebildet sein und weitge- hend in kurativen Kategorien den- ken. Dies hat zur Folge, daß Maß- nahmen zur Verbesserung der Ge- sundheit wiederum nur aus der gleichen Perspektive geplant und entschieden werden.

Die Analyse des Gesundheitspro- blems am Ursprungsort würde da- gegen in vielen Fällen erkennen lassen, daß mit den üblichen Mit- teln der Gesundheitsverbesserung, an obersten Stellen und schlimm- stenfalls dem Bau eines neuen Krankenhauses das Problem be- stimmt nicht gelöst werden kann.

Wenn das Krankheitsvorkommen rund um ein Krankenhaus unter- sucht würde, so würde festgestellt, daß der größte Teil der im Kran-

kenhaus vorgefundenen individuel- len Krankheiten letztlich Massen- krankheiten sind, die aus den Le- bensbedingungen resultieren, und daß ihre Ursachen nicht alleine mit den patho-physiologischen Katego- rien von Gesundheit und Krankheit im Sinn unserer medizinischen Ausbildung in Einklang zu bringen sind, sondern zusätzlich mit den ökologischen Bedingungen in Be- ziehung gesetzt werden müssen, wenn sie kausal behandelt werden sollen.

Es besteht auch kein Grund zur Annahme, daß die Bevölkerung ihre wahren Probleme mit „Krank- heit" und „Gesundheit" in unserem Sinn in Beziehung setzt. Unter die- sem Aspekt wird auch klar, warum in so vielen Ländern eine absolute oder relative Unterbenutzung der Gesundheitsdienste durch die Be- völkerung zu beobachten ist.

„Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt." Dieser Satz gilt nicht nur in der Individualmedi- zin, sondern auch in der Massen- medizin. Diagnose im Bereich der Massenmedizin ist nicht die Sum- me aller Individualdiagnosen, son- dern die Feststellung der ihnen zu- grunde liegenden gemeinsamen Ursache. Wenn diese „Community Diagnosis" erkennen läßt, daß die Ursachen der Krankheit außerhalb des medizinischen Sektors liegen

und sich diese nur mit nichtmedizi- nischen Maßnahmen beheben las- sen, dann ist dies für einen Medizi- ner, der auszog zu heilen, eine bit- tere Erkenntnis, sofern er nicht sei- ne Rolle im Gemeinwesen neu überdenkt.

So wie festgestellt werden kann, daß heute 80 Prozent der Gesund- heitsausgaben nur 20 Prozent der Bevölkerung und dann noch nicht einmal den am meisten Bedürftigen zugute kommen, so kann auch fest- gestellt werden, daß in der Tat die meisten Gesundheitsprobleme nicht nur im präventiven Bereich, sondern auch im kurativen in der Peripherie zu behandeln sind.

Selbstmedikation und traditionelle Medizin decken heute sicher 50 bis 60 Prozent der Bedürfnisse zum mindesten für die Betroffenen be- friedigend ab. Weitere 30 Prozent könnten sicher in den sogenannten primären medizinischen Versor- gungseinrichtungen, wie Erste-Hil- fe-Stationen, Dispensarien und Health-Centres effektiv gelöst wer- den. Nur 15 Prozent bedürfen der sekundären Zentren, das heißt der Distriktkrankenhäuser, und nur 5 Prozent der größeren Krankenhäu- ser (siehe Abbildung 2). Bei der derzeitigen Versorgung mit Kran- kenhäusern in Entwicklungslän- dern wäre also eine quantitative Vermehrung dieser Einrichtungen völlig überflüssig. Sie sind in sehr vielen Fällen, gemessen an den personellen und finanziellen Mög- lichkeiten, ausreichend vertreten.

Eine Planung des Gesundheitswe- sens in Richtung von unten nach oben dürfte mit Sicherheit bei glei- chem Mitteleinsatz einen weitaus größeren Effekt in bezug auf Ge- sundheit und Leistungsfähigkeit der Gesellschaft erbringen.

Wird fortgesetzt Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. H. J. Diesfeld Institut für Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen am Südasien-Institut der Universität Im Neuenheimer Feld 13

6900 Heidelberg

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