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Ein Jahr und seine Phasen

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Academic year: 2022

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EDITORIAL

ARS MEDICI 24 | 2020

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Ja, es ist nervtötend, belastend und verunsichernd, das Dauer- thema Corona. Und doch kann sich glücklich schätzen, wer mit Attributen wie diesen auskommt, um seine Betroffenheit von einer Krise zu umschreiben, der sich 2020 niemand entziehen konnte. So führt auch für den Editorialisten dieser letzten ARS MEDICI im zu Ende gehenden Jahr kein Weg daran vorbei – wie schon zu Beginn der Pandemie, als in Heft 4/2020 an dieser Stelle von der medialen Coronahysterie, aber auch von jährlich 1500 Grippetoten in der Schweiz zu lesen war. Nicht jeder Ge- danke von damals würde aus heutiger Perspektive nochmal so gedacht und aufgeschrieben werden, was – hoffentlich – eine Entwicklung und bestenfalls einen Lernprozess bezeugt, denen in den vergangenen knapp 12 Monaten wohl ebenfalls jeder unterworfen war.

Diese Entwicklung angesichts der Krise, quasi das Reifen einer nicht nur persönlichen, sondern auch sozial kompatiblen Co- ping-Strategie, vollzieht sich, wie im Jahreslauf deutlich und schmerzhaft zu spüren war, individuell unterschiedlich, lässt aber allgemeingültige psychologische Muster erkennen. Zu deren Veranschaulichung wird gelegentlich das Phasenmodell der Schweizer Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross herangezo- gen, das Ende der 1960er-Jahre auf der Basis zahlreicher Ge- spräche mit Todkranken entstand und den Prozess der Trauer von Patienten mit infauster Prognose skizziert (1). Die fünf Phasen dieses Modells finden sich auch in der Reaktion auf SARS-CoV-2 wieder (2), und zwar bezogen nicht auf eine mani- feste eigene Infektion oder gar COVID-19-Erkrankung, sondern auf die mehr oder weniger abstrakten Bedrohungen (z. B. Ver- lust der Gesundheit, der «Grundrechte» oder schlicht der lieb- gewonnenen Gewohnheiten), als die das Virus und seine Be- gleitumstände jeweils erlebt werden.

Laut Kübler-Ross sind auf dem Weg, an dessen Ende einzig die Akzeptanz (Phase 5) des Problems (Er-)Lösung verspricht,

mehrere Etappen zu überwinden – eine des Leugnens (Phase 1), eine des Zorns beziehungsweise Neids (Phase 2), eine des teils kindlichen Verhandelns (oder Feilschens, mit dem Schicksal, mit «höheren Mächten»; Phase 3) sowie eine von Depression und Leid geprägte (Phase 4). Die Phasen sind weder gleich lang noch laufen sie in gleicher Reihenfolge ab, einzelne können übersprungen oder müssen wiederholt werden. Herunterge- brochen auf SARS-CoV-2, hiesse dies: Alle befinden sich mit- einander auf gleichem Weg, nicht aber auf derselben Etappe.

Manche bleiben gar mittendrin stecken – mitgenommen wer- den wollen auch sie.

Der Beginn der Pandemie kam auch im hochtechnisierten Mitteleuropa einem Tritt in den Ameisenhaufen gleich: Nach hektischem Hin und Her bildeten sich rasch und nachhaltig tragfähige, an die veränderte Situation angepasste Strukturen heraus. In realitas waren aber eben keine Insekten, sondern Menschen mit ihren diversen Lebenssituationen, Bedürfnissen und Widersprüchen involviert, was solidarische Prozesse nicht vereinfacht. Dennoch sind diese weitgehend gelungen – trotz zusätzlicher Störungen durch vermehrt narzisstische Tenden- zen (3), einen Trend zu in der Kakophonie sozialer Medien ver- schwimmenden Fakten und durch populistische Rattenfänger, die stets aus Krisen Kapital zu schlagen trachten.

Zwar ist mancher Diskurs, etwa zur Ambivalenz zwischen Frei- heit und Sicherheit oder darüber, warum die Krise einmal mehr besonders die Frauen trifft (4), unbedingt zu führen – aufschie- bende Wirkung auf die Notwendigkeit, die Gegebenheiten zu akzeptieren und das Verhalten dem anzupassen, hat das jedoch nicht. Denn, und das scheint noch immer nicht allenthalben verinnerlicht, SARS-CoV-2 verbreitet sich exponentiell und brächte, liesse man dies ungebremst laufen, die Gesundheits- systeme innerhalb kürzester Zeit zum Kollabieren. So bleibt bis zum erhofften Impfschutz nur die unsichere Fahrt auf Sicht zwischen Skylla (medizinische Katastrophe) und Charybdis (wirtschaftliche Not). Die bevorstehenden Feiertage, um de- rentwillen sich grosse Teile in Gesellschaft und Politik ja schon wieder in Lockerungsübungen ergehen, böten vielleicht auch Gelegenheit, sich einmal mehr dieser Zusammenhänge und der Tatsache zu besinnen, dass wir nur gemeinsam glimpflich aus dem Theater herauskommen – unabhängig davon, in welchem Akt des Dramas wir uns gerade persönlich befinden. s

Ralf Behrens

1. Kübler-Ross E: Interviews mit Sterbenden. Kreuz-Verlag, Stuttgart 1972.

2. Loeb P: In Zeiten von Corona: Antizipatorische Trauer. Prim Hosp Care Allg Inn Med 2020; 20(06): 211–212.

3. https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/buch-ueber-narziss- mus-gute-zeiten-fuer-narzissten

4. UN Women: From insight to action: gender equality in the wake of COVID-19. https://www.unwomen.de/fileadmin/user_upload/Corona/

gender-equality-in-the-wake-of-covid-19-en.pdf

Ein Jahr und seine Phasen

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