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Aufsatz. Der Krieg der Invaliden. Helden-Bilder und Männlichkeitskonstruktionen nach dem Ersten Weltkrieg. Sabine Kienitz

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Sabine Kienitz

Der Krieg der Invaliden.

Helden-Bilder und Männlichkeitskonstruktionen nach dem Ersten Weltkrieg

»Was ich in den paar Jahren meiner Ehe mit meinem Mann durchgemacht habe, das kann ich in Worten nicht schildern1.« Fünf Jahre lang hatte Maria K. das Nerven- leiden ihres kriegsinvaliden Ehemannes stillschweigend mitgetragen. Doch nun, im Januar 1931, sah sie sich seelisch und körperlich mit ihren Kräften am Ende, eben- so wie mit ihren finanziellen Mitteln: Die Ersparnisse, die sie in die Ehe eingebracht hatte, waren aufgebraucht. Rat und Hilfe suchend, schrieb sich Maria K. in einem Brief an das badische Versorgungsgericht in Konstanz ihren lang aufgestauten Kummer von der Seele. Vier handschriftliche Seiten lang breitete sie vor den Behör- den die Leidensgeschichte ihrer Ehe mit einem Kriegsbeschädigten aus, die von Beginn an überschattet gewesen war von den Folgen des Großen Krieges.

1926 hatte Maria K. den 32jährigen Friedrich K. in Frankfurt geheiratet, nach nur fünfmonatiger Bekanntschaft, wie sie selbst in ihrem Brief kritisch kommen- tierte. Die Kriegsbeschädigung, in den Akten des zuständigen Versorgungsam tes als »traumatische Hysterie erheblichen Grades« mit einem Rentenanspruch von 30 Prozent vermerkt, sei ihr damals sowohl von ihrem Ehemann als auch von sei- nen Eltern verschwiegen worden. Da es allerdings schon bald zu Mißstimmigkei- ten zwischen den Eheleuten kam, ließ sich sein Nervenleiden nicht mehr länger verbergen. Auf den Rat der Ärzte hin zog Maria K. ein Jahr nach der Hochzeit 1927 mit ihrem Mann aufs Land, ins Badische. Das Paar, so hatte die junge Frau ent- schieden, sollte außerhalb des Dorfes wohnen, denn sie trug Sorge dafür, den kör- perlichen Zustand ihres Mannes vor den Nachbarn zu verbergen, »damit er nicht zum Gespött der Menschen fällt«. Dabei konnte sie aber nicht verhindern, daß die Dorfbewohner über die ortsfremden Eheleute tratschten und sich über den Außen- seiter am Rande des Dorfes das Maul zerrissen. Schon bald, so Maria K., habe es im Dorf geheißen: »der K. ist verrückt«. Die junge Ehefrau fühlte sich offensicht- lich isoliert und zum Schweigen verpflichtet2: Außer mit ihrer Schwiegermutter habe sie mit niemandem darüber sprechen können, wie sehr sie unter dem kör- perlichen Verfall und der Nervosität ihres Mannes litt, wie sehr sie sich vor seinen Gewalttätigkeiten und seinen plötzlichen Gefühlsausbrüchen fürchtete, wenn er

»wie blöd wurde, in einem fort weinte und nach seiner Mutter schrie«. Fünf Jahre

1 Brief der Maria K. vom 15.1.1931 an das Badische Versorgungsgericht Konstanz. Vgl. da- zu die Akten des Versorgungsgerichts Konstanz, Staatsarchiv Freiburg, Β 1086/1, Akte Friedrich Kölbl.

2 Ihren Angaben nach hatte Maria K. auch für den Antrag auf Weiterzahlung der Kriegs- rente und für den Briefverkehr mit den Behörden niemanden zu Rate ziehen können, da sie die Unterlagen nicht »um meinen Mann nicht zu blamieren jemand anders in die Hände geben« wollte. Brief der Maria Kölbl vom 26.5.1931 an das Versorgungsgericht Konstanz, Staatsarchiv Freiburg (wie Anm. 1).

Militärgeschichtliche Zeitschrift 60 (2001), S. 367-402 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

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lang habe sie mitangesehen, wie dieser erwachsene Mann immer mehr regredier- te und sich in seinen schlimmsten seelischen Zuständen immer wieder zu den El- tern nach Frankfurt flüchtete. Sie mußte feststellen, daß er den Erwartungen an ihn ebenso wie den Anforderungen eines normalen Arbeitsalltages nicht gewach- sen war und damit in ihren Augen auch als Mann nicht mehr >funktionierte<: Ih- rer Beschreibung nach konnte sich Friedrich K. die einfachsten Dinge nicht mehr merken, er malte Männchen aufs Papier statt die erforderlichen Briefe zu schreiben, schwitzte schon bei leichten körperlichen Anstrengungen, fiel häufig in Ohnmacht und versagte selbst bei einfachsten Arbeiten wie z.B. Botengängen. Ihrer Aussage nach trug Friedrich K. außer seiner Rente nichts zum Lebensunterhalt der Eheleute bei, im Gegenteil: In geschäftlichen Dingen, so ihre Einschätzung, erwies sich der eigene Ehemann nur als eine zusätzliche Belastung. Anfangs hatte Maria K. noch allein die Landwirtschaft besorgt, da er »auf dem Feld und im Garten [...] so viel wie nichts arbeiten« konnte. Dann habe sie in den Sommermonaten eine kleine Fremdenpension aufgemacht, aus der ihr Mann durch sein unbeherrschtes Auf- treten allerdings schnell die Gäste vergraulte.

Immer stand sie schützend an seiner Seite: Friedrich K. mußte ständig beauf- sichtigt werden, sonst konnte es passieren, daß er halbnackt in den Wald lief oder - wie im Sommer 1930 geschehen - in den Stall ging und einem Kalb den Kopf ab- schnitt. In seiner Unselbständigkeit brauchte er permanent ihre Hilfe: »Er ist ein ar- mes Kriegsopfer«, beurteilte Maria K. abschließend den Zustand ihres Mannes, und deshalb tue er ihr auch »unendlich leid«. Doch ihre Geduld und ihre Kraft sei- en nun erschöpft. Von daher appellierte sie an die Behörden, einzugreifen und ihrem ehelichen Elend ein Ende zu machen: »Es ist nicht mehr mit meinem Mann auszukommen, da das Leiden und [die] Anfälle von Jahr zu Jahr schlechter wer- den3.« Ganz direkt äußerte sie den Wunsch, man solle ihn von offizieller Seite »in ein Sanatorium zur Wiederherstellung seiner Gesundheit« einweisen. Unabhän- gig von seiner möglichen Genesung strebte sie allerdings die Scheidung an. Nach der Trennung wolle sie in ihrem Leben künftig allein zurecht kommen, denn es genüge ihr, was sie »bis jetzt erlebt habe«.

Kriegsfolgen und Geschlechterbeziehungen

Die Geschichte der Eheleute K. aus dem kleinen Weiler Ay bei Waldshut war si- cher kein Einzelfall. Die Zahl der Frauen, die während und nach dem Ersten Welt- krieg mit der für sie unerwarteten Tatsache zurechtkommen mußten, daß ihr Ehe- mann körperlich oder psychisch versehrt von der Front zurückkehrte bzw. die wie Maria K. einen Kriegsbeschädigten heirateten4 und an dieser Situation verzwei-

3 Brief der Maria Kölbl vom 26.5.1931 an das Versorgungsgericht Konstanz, Staatsarchiv Freiburg (wie Anm. 1).

4 Vereinzelt sind allerdings auch Hinweise - wie z.B. Heiratsgesuche und -annoncen von Frauen - zu finden, die vermuten lassen, daß Kriegsversehrte durchaus als begehrte Hei- ratskandidaten galten. So veröffentlichte die Wochenzeitung Der Kriegsbeschädigte in ihrer Ausgabe 11 vom 16.3.1918 den »aufrichtigen Herzenswunsch« einer 38jährigen Kaufmannstochter, die einem »ges., wenn auch schwer kriegsb. Herrn aus dem Mittelst.

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feiten, w a r v e r m u t l i c h relativ hoch5. Sie läßt sich allerdings e b e n s o w e n i g rekon- struieren w i e d i e Zahl der E h e s c h e i d u n g e n , d i e n a c h 1918 explizit auf d a s F a k t u m der K r i e g s b e s c h ä d i g u n g d e s M a n n e s z u r ü c k z u f ü h r e n waren6. Es ist j e d o c h a n z u - n e h m e n , d a ß sich d i e Frage der Trennung f ü r d i e m e i s t e n Frauen gar nicht erst ge- stellt hat. So informierte d i e W o c h e n z e i t u n g Das praktische Blatt i m Oktober 1919 ih- re Leserinnen u n d Leser darüber, d a ß körperliche S c h ä d e n u n d V e r s t ü m m e l u n - gen, a u c h eine Erblindung d e s E h e m a n n e s als S c h e i d u n g s g r u n d v o n d e n B e h ö r d e n nicht akzeptiert w ü r d e n . Selbst » h o c h g r a d i g e , n e r v ö s e Gereiztheit, w e l c h e bei d e n K r i e g s b e s c h ä d i g t e n sich nicht selten eingestellt hat«, g e l t e offiziell nicht als Gei- steskrankheit u n d k ö n n e d a m i t v o n d e n Frauen nicht als A r g u m e n t für e i n e A u f - l ö s u n g der Ehe i n s Feld g e f ü h r t werden7.

S c h o n w ä h r e n d d e s K r i e g e s s e t z t e der ö f f e n t l i c h e D i s k u r s t r e n n u n g s w i l l i g e Ehefrauen moralisch unter Druck, d i e sich d e m Leben mit e i n e m »Kriegskrüppel«

treue Lebensgefährtin« werden wollte. Sie selbst gab an, einen »kleinen Rückgratsfehler«

zu haben. Zur Frage der Verheiratung Kriegsbeschädigter vgl. auch die Angaben bei Jo- hannes Lange, Die Folgen der Entmannung Erwachsener. An der H a n d von Kriegser- fahrungen dargestellt, Leipzig 1934; Lange gibt an, daß nach d e m Kriege »nur wenige Ehen von Kastraten geschieden worden« seien bzw. »viele Kastrierte rasch nach dem Krie- ge heirateten«, u n d führt dies auf die Tatsache zurück, daß Kriegsversehrte als Renten- empfänger eine verläßliche Versorgung der Familie zu garantieren schienen; ebd., S. 88, 41. Zu den kriegsbedingten Beeinträchtigungen der sexuellen Beziehungen zwischen den Geschlechtern vgl. auch Sabine Kienitz, Die Kastrierten des Krieges. Körperbilder u n d Männlichkeitskonstruktionen im u n d nach d e m Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift f ü r Volks- kunde, 95 (1999), H. 1, S. 63-82. Der behördlich legitimierte Versuch in der amtlichen Mag- deburger Heiratsvermittlung, Kriegerwitwen u.a. auch mit Kriegsbeschädigten zu ver- heiraten u n d damit die als gesellschaftlich problematisch begriffene Situation dieser bei- den Kriegsopfergruppen auf einen Schlag zu beseitigen, w u r d e nach nur drei Jahren er- folgreicher Tätigkeit im Oktober 1919 aus moralischen G r ü n d e n eingestellt u n d nicht weiter verfolgt. Vgl. dazu Hans Harmsen, Die amtliche Magdeburger Heiratsvermittlung f ü r Kriegerwitwen. Ein Beitrag zur Frage der öffentlichen Eheberatung, in: Veröffent- lichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung, 22 (1926), H. 5, S. 57-75.

5 Verläßliche statistische Angaben über den Familienstand der Kriegsinvaliden vor ihrer Verwundung sind von den Behörden nicht erhoben worden. Lediglich f ü r die Gefalle- nen des Weltkriegs existieren solche Daten, die Richard Bessel zusammengestellt hat.

Danach waren 68,75 % der Weltkriegsopfer z u m Zeitpunkt ihres Todes ledig, 30,64 % waren verheiratet. Vgl. dazu Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 10.

6 In der Analyse der in den Jahren 1921 bis 1923 dramatisch erhöhten Scheidungsziffern (39 216 im Jahr 1921 gegenüber 14 793 im Jahr 1913) kommt das Statistische Reichsamt zu d e m Ergebnis, daß die während des Krieges geschlossenen Ehen a m häufigsten ge- schieden wurden. Allerdings ist in der Liste der G r ü n d e f ü r eine Ehescheidung weder der scheidungswillige Teil nach dem Geschlecht aufgeführt, noch ließe sich das Argument der Kriegsbeschädigung in den beiden Hauptrubriken »Ehebruch« sowie »Verletzung der ehelichen Pflichten u n d ehrloses Verhalten« explizit identifizieren. Vgl. d a z u Die Ehescheidungen im Deutschen Reich im Jahre 1923, in: Wirtschaft u n d Statistik, hrsg.

v o m Statistischen Reichsamt, Berlin 1925, S. 410 f. Die Studie von Ida Rost über Ehe- scheidungen in den prekären Nachkriegsjahren 1920 bis 1924 in Sachsen stellt zwar die These auf, »daß die H a u p t u r s a c h e f ü r die gesteigerte Scheidungshäufigkeit im Krieg selbst zu suchen« sei, geht aber n u r ganz summarisch auf die Frage nach möglichen Scheidungsgründen ein. Vgl. Ida Rost, Die Ehescheidungen der Jahre 1920-1924 von in Sachsen geschlossenen Ehen unter besonderer Berücksichtigung der Dauer der Ehe u n d des Heiratsalters der geschiedenen Ehegatten, Leipzig 1927, S. 35-37.

7 Uber Ehescheidungen, in: Das praktische Blatt. Unabhängige Wochenzeitung f ü r den Wiederaufbau deutscher Volkskraft, Nr. 96/97,19.10.1919.

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zu entziehen versuchten, und brandmarkte sie als oberflächlich, egoistisch und hartherzig. Sowohl in der Kriegsprosa8 als auch in den Kriegsbeschädigtenzeit- schriften9 der Nachkriegszeit findet sich eine Vielzahl von Geschichten, die die Ab- wendung der Ehefrau oder Verlobten vom kriegsversehrt heimkehrenden Mann the- matisierten und dieses Verhalten als unehrenhaft und einer treuen deutschen Frau unangemessen kritisierten. Diese Geschichten sind zugeschrieben auf den zentra- len Moment der Katharsis und der Umkehr, auf die Einsicht der Frau in ihre Eitelkeit und damit ihr falsches Bewußtsein< und die Konsequenz, daß echte Liebe auch körperliche Behinderung ertragen können müsse. Das Schicksal des Kriegsbe- schädigten wird hier zum Prüfstein für die >Echtheit< und Dauerhaftigkeit einer Beziehung und damit auch für die Ernsthaftigkeit weiblicher Gefühle.

Parallel dazu erschienen auch Geschichten, die Ängste und Zweifel der Män- ner thematisierten, als Kriegskrüppel bei der Heimkehr von der Angebeteten zurückgewiesen zu werden, und die unter Rückgriff auf Motive aus der Odyssee ein Lob auf die Beharrungskraft weiblicher Treue und deren Aufopferungswillen darstellten10. In Erich Sommers Erzählung Die Kriegsbraut von 1915 löst ein na- menloser junger Krieger nach der Armamputation noch im Lazarett die Verlobung mit seiner geliebten Anne-Marie, um sie - ganz selbstlos - vor einer Ehe mit einem Krüppel und damit einem als trostlos imaginierten Schicksal zu bewahren. Bei sei- ner Heimkehr aus dem Lazarett erwartet sie ihn im Haus der zukünftigen Schwie- germutter und beschämt ihn mit den Worten: »Kennst Du mich denn so wenig?

Und wenn Du zehnmal krank bist, so will ich Dich pflegen - Zeit Deines Lebens - denn Liebe ist stärker als alles Erdenleid11

Daß gerade junge Frauen von einem solchen Schicksal und den an sie ge- stellten Erwartungen überfordert sein könnten, hatte Alice Freifrau von Bissing, Gattin eines hochrangigen Militärs und aktive Mitarbeiterin des Reichsausschusses für Kriegsbeschädigtenfürsorge, sehr wohl gesehen. Die Zeitschrift Deutsche Krüp- pelhilfe druckte im Jahr 1917 drei ihrer Vorträge ab, in denen Alice von Bissing Ratschläge für die weibliche Kriegsversehrtenfürsorge erteilte. Dabei ging sie auch auf die schwierigen ehelichen Bedingungen vçn jungen Frauen ein, die

»vielleicht überhaupt noch nicht ein richtiges Eheleben« geführt, deshalb »die heilige Macht eines langjährigen Ehelebens« nicht erfahren hatten und dement-

8 Karin Michaelis Stangeland, Ihre Liebe, in: dies., Weiter leben! Kriegs-Schicksale, Mün- chen 1914, S. 45-62.

9 Vgl. dazu Leontine von Winterfeld-Platen, Blind, in: Für unsere Kriegsbeschädigten. Wo- chenschrift für Jedermann zur Unterstützung der Kriegsbeschädigten und Kriegshin- terbliebenen, 28 (1919), S. 3. In dieser Variante hatte die Frau die Beziehung schon vor sei- ner Erblindung gelöst, da der Mann ihre Schönheit nicht genügend gewürdigt hatte. Als sie erfährt, daß er im Krieg sein Augenlicht bei der Verteidigung des Vaterlands verlor, wird sie von Scham und Reue gepackt. Im Lazarett gesteht sie den Fehler ein: »Ich war schlecht und klein und eitel, Erich, - kannst du mir das verzeihen?«.

10 In ihrer Darstellung und Problematisierung eines Wandels der Geschlechterbeziehun- gen im bzw. nach dem Ersten Weltkrieg verweist Elisabeth Domansky darauf, daß der Topos des Versehrten Heimkehrers und seiner Angst vor Zurückweisung in »zahllosen Berichten und Briefen« aufzufinden sei. Allerdings liefert sie keine Belege dafür bzw.

umgeht sie die Frage nach der Bedeutung dieses Topos. Vgl. dies., Der Erste Weltkrieg, in: Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Frankfurt a.M. 1990, S. 285-319, hier: S. 316.

11 Vgl. dazu Erich Sommer, Die Kriegsbraut, in: Deutsche Blätter für Kriegsverletzte, Nr. 7 (1915), S. 30 f.

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sprechend nicht darauf vorbereitet waren, einen kriegsbeschädigten Mann an ih- rer Seite »nun ein ganzes Leben ertragen zu müssen«. Diese jungen Ehefrauen brauchten in besonderem Maß die Unterstützung der älteren, in ehelichen Problemen erfahrenen Frauen, die ihr Leid mittragen, ihnen von Zeit zu Zeit ei- nen Rat geben und »auch ihre Klagen« anhören sollten, »ohrie diese als lästiges Geklatsch zu bewerten«12. Nicht nur Hilfe, sondern vor allem tiefgründige und

»energische Belehrung« in Fragen der Familienplanung brauchten allerdings je- ne jungen Frauen, die dem »für unsere Volkswohlfahrt gefährlichen Aberglau- ben« anhingen, »daß eine zukünftige Mutter sich [an einem Kriegsbeschädigten, d.V.] >versehen<« und ein mißgebildetes Kind zur Welt bringen könne. Dieser Aberglaube sei »bis in die gebildetsten Kreise hinauf verbreiteter [...] als man«

glaube. Man müsse daher Frauen vor jenen »Versuchungen« bewahren, »welche darauf hinausgehen, Kindersegen in der Familie zu verhüten«. Medizinisch sei erwiesen, so versuchte Alice von Bissing diese Ängste wissenschaftlich zu wi- derlegen,

»daß bei dem erworbenen Krüppeltum keine Vererbung auf die zukünftigen Kinder zu befürchten ist, besonders dort nicht, wo ein gesunder Mann lediglich durch einen Unglücksfall des Krieges oder des Berufs ein Glied verloren hat13

Doch bei allem Verständnis für diese ehelichen Probleme galt es doch als eine Hauptaufgabe deutscher Frauen, sich für den körperlichen Einsatz ihres Man- nes im Krieg auf besondere Art und Weise erkenntlich zeigen. Die immer wieder beschworene Tatsache, daß die Männer im Krieg auch für sie gefochten hatten, verpflichtete die Frauen moralisch zu einer Gegenleistung. Dementsprechend forderte Alice von Bissing: »Ideal gedacht, muß jede Frau die Verwundung des Mannes, der für sein Vaterland und ihre Sicherheit gekämpft hat« lieben und ehren14.

Angesichts dieser moralischen Argumentation kann man davon ausgehen, daß sich für die Ängste, Zweifel und Belastungen der betroffenen Frauen sicher keine unvoreingenommene oder verständnisvolle Öffentlichkeit fand15. Ihr selbstloses Schweigen war vielmehr von nationalem Interesse, und von daher sind die Ver- änderungen, die Verschiebungen und Irritationen in den Geschlechterbeziehun- gen aufgrund einer Kriegsbeschädigung des Mannes nur selten in der Dichte und Detailliertheit thematisiert und belegt wie im Fall des Ehepaares Friedrich und Ma- ria K. Nur wenige Quellen dokumentieren so explizit die Perspektive der Frauen auf diese aus der Balance geratenen ehelichen Beziehungen. Folglich wissen wir über die subjektive Wahrnehmung der Ehefrauen, über die Deutung des kriegsver- sehrten Mannes an ihrer Seite, über ihre Enttäuschungen und ihre Auseinander-

12 Vgl. Alice Freifrau von Bissing, Die Frau in der Kriegsbeschädigtenfürsorge, in: Deut- sche Krüppelhilfe, Bd 4, Leipzig 1917, S. 5-38, hier: S. 17, 28. Diese Sonderausgabe der Zeitschrift vereinigt drei Vorträge, die sie im Jahr 1916 gehalten hatte.

13 Vgl. ebd., S. 17.

14 Vgl. ebd., S. 28.

15 Zu normativen Frauenbildern in der zeitgenössischen Kriegsprosa und den entspre- chenden Verhaltensanleitungen in den Situationen von Trauer, Pflege und Familienarbeit während des Krieges vgl. Angelika Tramitz, Vom Umgang mit Helden. Kriegs(vor)schrif- ten und Benimmregeln für deutsche Frauen im Ersten Weltkrieg, in: Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und der Frie- denserziehung, hrsg. von Peter Knoch, Stuttgart 1989, S. 84-113.

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Setzung mit den Auflösungserscheinungen scheinbar feststehender gesellschaftli- cher Vorstellungen von >Männ!ichkeit< bisher nur wenig16.

Die vorgestellte Quelle - es handelt sich um Akten des Versorgungsgerichtes Konstanz - macht noch etwas anderes deutlich: Sie zeigt, wie stark der Erste Welt- krieg noch lange nach seinem offiziellen Ende in die privaten Verhältnisse und in den Alltag der Menschen hineinwirkte. Eine solche Fallgeschichte erlaubt zwar keine Aussagen darüber, ob die Erfahrungen des Krieges tradierte Geschlechter- bilder und eine in sich scheinbar festverankerte symbolische Geschlechterordnung gesamtgesellschaftlich und dauerhaft in Frage stellten. Sie vermittelt jedoch einen Eindruck davon, wie sehr der Krieg im Horizont privater Lebenswelten Wahr- nehmungen, Verhaltensweisen und damit auch die Sicherheit gewohnter Deutun- gen durcheinanderwarf. Von daher läßt sich anhand der Quelle auch das Ausmaß ermessen, unter welchem enormen Druck, nach innen wie nach außen, diese Be- ziehungen in den Nachkriegsjahren standen.

Diese Mikro-Perspektive auf Geschlechterbeziehungen unterstreicht zum ei- nen die These aller Beiträge dieses Heftes, daß sich die Frage nach dem Beginn ei- ner eigentlichen »Nachkriegszeit« so einfach nicht beantworten läßt. Die Komple- xität der Situation wird gerade in jenen Familien- und Beziehungsformen deutlich, in denen sich über die Kriegsbeschädigung des Mannes und Familienvaters die Wirkungen des Krieges relativ ungebremst in die Sozialbeziehungen weitertrans- portierten17. Dazu zählten vor allem die konkreten körperlichen Beeinträchtigun- gen, die sich direkt oder indirekt auf das Zusammenleben auswirkten und die Paar- beziehung häufig in eine fürsorgerische Mutter-Kind-Pflegebeziehung mit einsei- tiger Abhängigkeit verwandelten. Die Doppelrolle als »Ehefrau«, aber auch als

»Mutter« und »Fürsorgerin« des Mannes wurde von verschiedenen Seiten immer wieder betont. Auch bei Alice von Bissing stand diese Perspektive im Vordergrund:

»Gerade Geist und Herz [der Kriegsbeschädigten, d.V.] müssen gewissermaßen mit Mutterarmen umfangen werden, damit der einem kranken Kinde gleichende

16 Vgl. dazu auch Domansky, Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 10), S. 316 f. Die dezidierte The- se Domanskys vom »Kollaps des alten Systems der Geschlechterbeziehungen«, von der grundlegenden Auflösung einer bürgerlichen Familienkonstellation und einer Militari- sierung der Geschlechterbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg ist umstritten. Vgl.

Elisabeth Domansky, Militarization and Reproduction in World War I in Germany, in:

Society, Culture, and the State in Germany, 1870-1930, ed. by Geoff Eley, Ann Arbor 1996, S. 427-463, hier: S. 435-437. Benjamin Ziemann warnt vor vorschnellen Verallgemeine- rungen, daß der Krieg traditionelle Rollenmodelle der Geschlechter zerstört habe, und verweist u.a. auf die je nach sozialer Schichtzugehörigkeit differierenden Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder. Seine Kritik am Entfremdungs-Topos in der historischen Ana- lyse der Geschlechterbeziehungen nach dem Krieg und sein Hinweis auf den von Frau- en geäußerten Wunsch nach psychischer und physischer Nähe im Kontext der Feld- postbriefe übersieht allerdings die aktuellen Scheidungsziffern jener Jahre (vgl. dazu Anm. 6). Benjamin Ziemann, Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in den Milieukul- turen der Weimarer Republik, in: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des

»modernen« Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, hrsg. von Thomas F. Schneider, Osnabrück 1999 (= Krieg und Literatur, 3.1997/4.1998), S. 249-270, hier:

S. 259 f.

17 Auch Michael Geyer argumentiert, daß gerade die Kriegsinvaliden als spezifischer Per- sonenkreis paradigmatisch für die Analyse der Frage nach der Kriegsfolgenbewältigung nach 1918 stehen. Michael Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopfer- versorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft, 9 (1983), S. 230-277, hier: S. 230.

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Krieger an dem mütterlichen Verständnis für seinen ganzen Seelenzustand, an der Kraft des Willens seiner Fürsorgerin vertrauensvoll wieder erstarkt18

Der Theologie-Professor Adolf Sellmann vertrat 1916 in der Schrift Das Seelenleben unserer Kriegsbeschädigten die These, daß »die deutsche Frau mit ihrer weichen See- le und ihrem warmen Herzen« ideale Voraussetzungen biete, um bei der Heilung der »Seelennot« der Kriegsbeschädigten mitzuwirken. Durch ihre fürsorgerische Tätigkeit könne sie im Interesse des ganzen Vaterlandes Großes leisten19. Seiner Meinung nach waren »die Frauen in ganz besonderer Weise mit dazu berufen, das Glück unserer Kriegsbeschädigten wieder aufzubauen, das der wilde Krieg nie- dergerissen hat«20. Allerdings sei diese fürsorgerische Beziehung eine fortwähren- de Gratwanderung: Die liebenden Frauen sollten den kriegsbeschädigten Gatten zwar versorgen, ihn aber nicht bemitleiden, verwöhnen oder gar verzärteln - ihm z.B. nicht immer sein Lieblingsessen kochen21 - und damit für seine Rolle als Ernäh- rer der Familie und als »Mann« untauglich machen. Den Ehefrauen käme eine ho- he Verantwortung dafür zu, daß der Kriegsbeschädigte der Gesellschaft »als freu- diger, tüchtiger Mann erhalten bleibt«22.

Zum anderen zeigt die Mikro-Perspektive, wie sich damit zugleich eine Wirt- schaftsform perpetuierte, die bereits während des Krieges vorgeherrscht hatte23: So waren Frauen der mittleren und unteren Schichten weiterhin für das Hauptein- kommen der Familie verantwortlich. Der Krieg wirkte damit auch im Frieden wei- ter und kehrte auch jetzt noch die Verhältnisse um: Frauen versorgten nicht nur emotional-pflegerisch ihre Männer, sie sahen sich darüber hinaus gezwungen, wei- terhin als Haushalts- und Familienvorstand zu agieren24. Dabei waren sie auch für die repräsentierenden Außenkontakte zuständig und mußten, wie im vorliegenden Fall der Familie K., in Stellvertretung für den Ehemann mit den Behörden verhan- deln und dabei seine rechtlichen Ansprüche als Kriegsopfer geltend machen25.

18 Vgl. Bissing, Die Frau (wie Anm. 12), S. 23 f. Zur Spezifik der Geschlechterbeziehungen zwischen pflegenden Frauen und verletzten Soldaten, einer Familialisierung und zu- gleich einer angeblichen Erotisierung dieses Verhältnisses vgl. auch Regina Schulte, Die Schwester des kranken Kriegers. Krankenpflege im Ersten Weltkrieg als Forschungs- problem, in: Bios, 7 (1994), H. 1, S. 83-100.

19 Vgl. Adolf Sellmann, Das Seelenleben unserer Kriegsbeschädigten, Witten 1916, S. 20.

20 Vgl. Adolf Sellmann, Die Frauen unserer Kriegsbeschädigten, in: Kriegsbeschädigten- Fürsorge in Niedersachsen, Nr. 36,4.11.1916, S. 261-263, hier: S. 263.

21 Willy Schlüter, Gewöhnung und Verwöhnung in der Kriegsbeschädigtenfürsorge. Ein Wort an die deutsche Frau, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge, 1916, S. 72-76, hier: S. 73.

22 Vgl. dazu Hermann Justus Haarmann, Wir und die Kriegsbeschädigten, Kassel 1916, S. 28.

23 Vgl. dazu Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpoütik und Geschlechterverhältnis- se im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995.

24 In Romanen der Nachkriegszeit wird diese Aufgabenstellung und Rollenverteilung zu- gespitzt in der Figur der herrischen Frau thematisiert, die während der kriegsbedingten Abwesenheit des Mannes das Regiment über Haus und Hof führte, dabei männlich-der- be Züge annahm und bei der Rückkehr des kriegsbeschädigten Mannes zu seiner Kon- kurrentin und letztlich zu seiner Gegnerin in der Wirtschaftsführung wurde. Vgl. dazu den Roman von Hans Heinz Hinzelmann, Der Freund und die Frau des Kriegsblinden Hinkeldey, Berlin 1930. Für diesen Hinweis danke ich Jörg Vollmer, Berlin.

25 So sei Friedrich K. nach einem Termin beim Versorgungsamt Waldshut völlig verwirrt nach Hause gekommen und habe sich erst Wochen später daran erinnert, welche Anga- ben er dort nachreichen sollte. Aufgrund dieser Verzögerung hatte sich die Entschei- dung über seinen Rentenantrag wiederum verschoben; und Maria K. mußte im weite- ren Verlauf seine Ansprüche schriftlich anmahnen. Vgl. den Brief von Maria K. ans Ver- sorgungsgericht Konstanz vom 15.1.1931, Staatsarchiv Freiburg (wie Anm. 1).

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»on profesor î>r. Bdolf ôcUmann

f a c t " φ. Híibuíe. b i t t e n a . d. K u b r

»Das Seelenleben unserer Kriegsbeschädigten. Titelblatt der Broschüre des Theologiepro- fessors· Adolf Seilmann, Witten a.d. Ruhr 1916«

Nimmt man den Ansatz einer Geschlechtergeschichte ernst, die angesichts der unterschiedlichen Lebensbedingungen an »Front« und »Heimatfront« während des Krieges gerade nach der Verwobenheit männlicher und weiblicher Perspekti-

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ven im Kontext der Bewältigung von Kriegsfolgen zu fragen hat, darin müssen die- se kriegsbedingten Familien- und Geschlechterverhältnisse auch aus der männli- chen Perspektive gegengelesen werden26. So war die Klassifizierung des Eheman- nes Friedrich K. als »armes Kriegsopfer« eine Formulierung, die speziell an die Verwaltungsbehörden gerichtet war und die dazu diente, über den zeitspezifischen

»Opferdiskurs«, auf den weiter unten noch eingegangen wird, den Anspruch auf staatliche Unterstützung einzuklagen. Eine solche funktionale Typisierung des dys- funktional gewordenen, >unmännlichen< Mannes soll aber nicht darüber hinweg- täuschen, welcher Druck auf den kriegsbeschädigten Männern lastete, den an sie gestellten Alltagsanforderungen in Beruf und Familie zu genügen. Als Versehrte Kriegsheimkehrer waren sie konfrontiert mit einer Vielzahl von hegemonialen Deu- tungsangeboten wehrhaft-kriegerischer Helden-Männlichkeit, die im Rückgriff auf die Erfahrungen vergangener Kriege Maßstäbe setzten und an die zugleich auch eine Reihe von Integrationsangeboten und -erwartungen geknüpft waren27. Darüber hinaus aber, und dies ist sicher ein Spezifikum des Ersten Weltkrieges, mußte das Verhältnis von männlich konnotiertem Heldenstatus und Invalidität nun, unter den veränderten Bedingungen eines industrialisierten Massenkrieges und vor al- lem später, im Anschluß an die militärische Niederlage, völlig neu verhandelt wer- den. So stellte sich angesichts der großen Zahl von rund 2,7 Millionen dauerhaft Ver- sehrten und kranken Kriegsteilnehmern28 die Frage, inwieweit der beschädigte Sol- dat in dieser Masse nach 1918 überhaupt noch als >Heldenvorbild< tauglich war und inwieweit die offizielle Anerkennung des Invalidenstatus nicht seine gesell-

26 Damit soll nicht der gängigen Gleichsetzüng von »Frauen« und »Heimatfront« das Wort geredet werden, sondern im Gegenteil der enge Bezug des dichotomischen Modells Front - Heimatfront und die gegenseitige Bedingtheit der Konstruktionen von militärischer Männlichkeit und ziviler Weiblichkeit betont werden. Vgl. dazu Christa Hämmerle, Von den Geschlechtern der Kriege und des Militärs. Forschungseinblicke und Bemerkungen zu einer neuen Debatte, in: Was ist Militärgeschichte?, hrsg. von Thomas Kühne und Benjamin Ziemann, Paderborn 2000, S. 229-262, hier: S. 250.

27 Vgl. dazu auch die Beiträge von Karen Hagemann und Jakob Vogel in diesem Heft.

28 Genaue Angaben über die Zahl der Versehrten Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges sind nicht zu ermitteln. Vgl. dazu Robert W. Whalen, Bitter Wounds. German Victims of the Great War, 1914-1939, Ithaca, London 1984, S. 55, 95. Die in den verschiedenen zeit- genössischen Publikationen angegebenen Kriegsbeschädigtenzahlen schwanken zwi- schen 720 931 als niedrigster Ziffer und rund 2,7 Millionen, die als vermutlich realistische Zahlenangabe von Whalen (S. 95) allerdings nur hochgerechnet werden können. Vgl.

dazu die vom Reichsarbeitsministerium veröffentlichte Statistik: Deutschlands Kriegs- beschädigte, Kriegshinterbliebene und sonstige Versorgungsberechtigte, Stand vom Ok- tober 1924; sowie Richard Bessel, Kriegserfahrungen und Kriegserinnerungen: Nach- wirkungen des Ersten Weltkrieges auf das politische und soziale Leben der Weimarer Republik, in: Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Stu- dien, hrsg. vön Marcel van der Linden und Gottfried Mergner, Berlin 1991, S. 125-140, hier: S. 133. Folgende Zahlen ermöglichen zwar keinen direkten Vergleich zwischen dem deutsch-französischen und dem Ersten Weltkrieg, da die Stärke der jeweils eingesetzten Armeen zu sehr differierte. Trotzdem wird deutlich, in welchem Ausmaß eine zivile Nachkriegsgesellschaft mit der Kriegsbeschädigtenproblematik konfrontiert war. Zum Vergleich: Nach einer offiziellen Statistik wurden bis Juni 1875 40 664 Mannschaftssol- daten, bis Ende 1884 in der gesamten deutschen Armee rund 70 000 Mann als Kriegsin- validen des Krieges von 1870/71 anerkannt. Vgl. dazu den Sanitäts-Bericht über die Deutschen Heere im Kriege gegen Frankreich 1870/71, hrsg. von der Militär-Medizinal- Abtheilung des Königlich Preussischen Kriegsministeriums, Bd 2, Berlin 1886, S. 165; so- wie ebd., Bd 3,1, Berlin 1888, S. 1.

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schaftliche Anerkennung als Mann und Kriegsheld weitgehend ausschloß. Neue, moralisch besetzte Konkurrenzen taten sich hier auf: Zu denken ist da vor allem an die soldatischen Männlichkeits-Konstruktionen jener nichtVersehrten Kriegs- heimkehrer, die unter der Perspektive des »Durchgehalten-Habens« und der Dolch- stoß-Legende ihre eigenen identitätsstiftenden Mythen und Heldengeschichten im Kampf um Anerkennung in die Gesellschaft einzubringen versuchten29. Zu denken ist aber auch an die jüngere, meist schon kriegsferne Generation, die in der Weimarer Republik mit einem Politikstil viriler, brutalisierter Männlichkeit Stärke zu de- monstrieren versuchte30. Im folgenden wird aus einer symboltheoretischen Per- spektive der Frage nachgegangen, welche hegemonialen Bild- und Deutungsan- gebote von Heldentum und Männlichkeit schon vor 1918 speziell für den Kriegs- beschädigten zur Integration nach dem Krieg bereit gehalten wurden. Diesen nor- mativen Diskursen und Entwürfen, die sich vor allem an einem Fundus national überhöhter, historischer Heldenfiguren orientierten, steht die Perspektive der Be- troffenen selbst gegenüber, die in der Doppelrolle als »Kriegshelden« einerseits und als überlebende »Kriegsopfer« andererseits eine spezifische Identitätspolitik verfolgten. Von daher zielt der Beitrag in historisch-anthropologischer Perspekti- ve auch ab auf jene erfahrungsgeleiteten Deutungen und Handlungsstrategien, mit denen die Kriegsbeschädigten selbst wiederum versuchten, symbolisch einen Platz in der Nachkriegsgesellschaft für sich zu beanspruchen. Darstellung und Analyse werten dabei unterschiedlich gelagerte Quellengattungen aus: Auf der ei- nen Seite werden publizierte zeitgenössische Texte herangezogen, die als eine Art Ratgeberliteratur im Kontext der nationalen Sozial- und Kriegsbeschädigtenfür- sorge entstanden sind. Diese hatten einen eindeutig appellativen Charakter und richteten sich dabei in moralisch-erzieherischer Absicht direkt an die Kriegsbe- schädigten selbst. Darüber hinaus aber zielten diese Texte als ein Medium der Deu- tung und gesellschaftlichen Selbstverständigung auch auf ein breiteres bürgerli- ches Publikum ab, das auf diesem Wege systematisch von institutioneller Seite über den Zustand, die seelische Verfassung und die Absichten dieser Kriegsopfergrup- pe informiert und >aufgeklärt< werden sollte. Auf der anderen Seite stehen archi- valische Quellen zur Verfügung, die stärker die historische Subjekt-Perspektive der Betroffenen und deren Auseinandersetzung mit den von institutioneller Seite formulierten Zumutungen berücksichtigen. Auch hier gilt die quellenkritische An- merkung, daß angesichts des Konstruktions- und Selbstdarstelhmgscharakters die- ses Quellenmaterials jede Frage nach der »Authentizität«, und dem objektiven

»Wahrheitsgehalt« der Aussagen außen vor bleiben muß. Stattdessen können die- se Quellen Auskunft darüber geben, mit welchen argumentativen Strategien die Be- troffenen versuchten, die Folgen des Krieges symbolisch zu bewältigen und dabei

29 Vgl. dazu auch Richard Besse), Die Heimkehr der Soldaten: Das Bild der Frontsoldaten in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik, in: Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch . . h r s g . von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz, Essen 1993, S. 221-239.

30 Vgl. dazu auch George L. Mosse, Der Erste Weltkrieg und die Brutalisierung der Politik.

Betrachtungen über die politische Rechte, den Rassismus und den deutschen Sonder- weg, in: Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutsch- land und Europa, hrsg. von Manfred Funke, Düsseldorf 1987, S. 127-139; sowie George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frank- furt a.M. 1997; sowie als Klassiker Klaus Theweleit, Männerphantasien, Frankfurt a.M.

1977.

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an bereits bestehende Diskurse anzuknüpfen. Die Frage ist also, wie die Kriegs- beschädigten selbst sich mit angebotenen Deutungsmustern auseinandersetzten und wie sie sowohl individuell als auch kollektiv eigene Sinnstiftungsprozesse in- itiierten.

Szenarien einer imaginierten Nachkriegszeit

Das öffentliche Nachdenken über die Nachkriegszeit als jene unbestimmte Zeit

»danach« setzte in Deutschland gleich mit Beginn des Ersten Weltkrieges ein. Zu- kunftsentwürfe und damit die Ausdeutung eines unbestimmten »Erwartungsho- rizontes« (R. Koselleck) waren sowohl auf privater als auch auf öffentlicher Seite genuiner Bestandteil einer kriegsspezifischen »Zeit-Semantik«31. Die Szenarien, die Politiker und Intellektuelle vom erhofften »Frieden« und der kommenden »Nach:

kriegszeit« entwarfen, blieben im Glauben an den schnellen Sieg notgedrungen abstrakt. Der Deutungsraum »Zukunft« erwies sich deshalb häufig als eine »rhe- torische Projektion der Kriegszieldiskussion« und wurde ausgedeutet mittels ei- ner »Zukunftsrhetorik«, die kriegsaffirmativ blieb32. Zwar ging man davon aus, daß dieser Krieg für Deutschland siegreich enden würde, doch über das Ausmaß des Opfers, das hierzu erbracht werden müßte, existierten kaum konkrete Vor- stellungen. Eine erste Ahnung, welche Aufgaben und Probleme auf eine zivile Ge- sellschaft nach dem Krieg zukommen könnten, vermittelte die Konfrontation mit den im Herbst 1914 zurückkehrenden schwerverwundeten Soldaten. Der Schrecken angesichts dieser Vielzahl von amputierten jungen Männern, von Gesichtsver- letzten, Kriegszitterern und Blinden machte deutlich, daß sowohl Militärstrategen und Mediziner als auch die Öffentlichkeit die Zerstörungsgewalt der neuen Waf- fen bisher unterschätzt hatten33. Dabei führten jene Kriegsinvaliden leibhaftig die Notwendigkeit vor Augen, sich schon während des Krieges über das Schicksal und

31 Vgl. dazu Aribert Reimann, Der große Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur histo- rischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkriegs, Essen 2000, S. 245-257.

32 Vgl. ebd., S. 246 f.

33 Der Tübinger Mediziner Paul Bruns bezog sich in seinen Ausführungen auf die Erfah- rungen des russisch-japanischen Krieges 1904/05, als er 1914 von der »gutartigen Natur der Kleinkaliberwunden« sprach, die nur geringer Wundversorgung bedurften und schnell heilen würden. Damit bestärkte er die deutschen Militärs in der Ansicht, daß an- gesichts der kleinkalibrigen schnellen Waffen die Zahl der Toten und Verwundeten im modernen Krieg zwar steigen werde, die Verwundungen als solche jedoch weniger ge- fährlich und besser zu heilen sein würden. Auch würden »unsere verwundeten Krieger [...] nicht mehr wie früher so häufig zu Krüppeln werden«. Vgl. dazu Paul Bruns, Über Schußwaffen und Schußwunden im gegenwärtigen Kriege, Sonderabdruck aus dem Schwäbischen Merkur vom 3.9.1914, Nr. 407. Der Historiker Michael Hagner kommt da- gegen zu dem Schluß, daß die zeitgenössischen Mediziner gerade in der Frage der Ge- sichts· und Kieferverletzungen sehr wohl auf das Ausmaß künftiger Verletzungen vor- bereitet gewesen seien. Vgl. dazu Michael Hagner, Verwundete Gesichter, verletzte Ge- hirne. Zur Deformation des Kopfes im Ersten Weltkrieg, in: Gesichter der Weimarer Re- publik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, hrsg. von Claudia Schmölders und Sander Gilman, Köln 2000, S. 78-95.

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die Deutung jener zukünftigen Kriegsopfer Gedanken zu machen, die ihren Kör- per als »Opfer für das Vaterland« einsetzten - und die den Krieg dank der Expe- rimentierfreudigkeit der Ärzte und angesichts der Fortschritte moderner Medi- zintechnik doch überleben würden. Im Gegensatz zur Gruppe der gefallenen

»Kriegshelden«, deren >Tod fürs Vaterland< je nach Erinnerungskontext und -bedarf ästhetisiert und heroisiert werden konnte34 und deren Verehrung der Nation kol- lektive Identität zu verbürgen schien35, wurden die lebenden Versehrten Helden für die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft zu einem Problem. Zum einen schien das öffentliche Auftreten der Kriegsversehrten wenig heldenhaft, und die Kritik konzentrierte sich auf die stetig anwachsende Zahl bettelnder Invaliden, die demonstrativ ihre Prothesen entblößten, das Publikum belästigten und »unter auf- dringlicher Hervorkehrung ihres Leidens dem Bettel nachgehen und besonders die Straßen und Plätze der Großstädte verhäßlichen«36. Zum anderen hielten die traumatisierten Kriegsopfer nach dem Kriegsende 1918 unerwünschterweise die Er- innerung an die Demütigung der Niederlage wach37. Angesichts dieser Abwehr- haltung kritisierte ein kriegsversehrter Autor 1921 im Zentralblatt für Kriegsbeschä- digte und Kriegshinterbliebene vehement die Unfähigkeit der deutschen Gesellschaft, die überlebenden Kriegsinvaliden entsprechend zu ehren: »Es ist kein Sinn da für deutsche Helden, die Leben oder Gesundheit dahingaben fürs deutsche Volk.«

Auch beklagte er den offensichtlichen Mangel an öffentlichen Ritualen, in die die Uberlebenden des Krieges eingebunden wären. So habe man in Deutschland noch keine adäquate Form gefunden, »tatkräftiges Gedenken den Lebenden zu er- weisen«38.

34 Vgl. dazu die umfassende Darstellung bei Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Greifswald 1996.

35 Zu einer religiösen Theorie des Heldischen und des Heldenkultes vgl. die Überlegungen bei Bernhard Giesen, Die Aura des Helden. Eine symbolgeschichtliche Skizze, in: Dies- seitsreligion, hrsg. von Anne Honer, Ronald Kurt und Jo Reichertz, Konstanz 1999, S. 437-444, hier: S. 440.

36 »Gegen das Betteln von >Kriegsbeschädigten<«, in: Deutsche Tageszeitung, Nr. 587, 26.11.1919. Bundesarchiv (BArch), R 803411-2325, Reichslandbund-Pressearchiv, S. 163.

Das öffentlich vermittelte Bild des Invaliden war ambivalent: In den Medien häuften sich in den 20er Jahren Berichte1 über Kriegsbeschädigte, die selbst Opfer von Ge- walttaten wurden. Konterkariert wurden diese Darstellungen durch Geschichten, in denen einzelne Kriegsbeschädigte als Psychopathen und Gewalttäter eine Bedrohung der Bevölkerung darstellten, kollektiv auf Demonstrationen ihre Krücken und Pro- thesen als Waffen benutzten oder sich in krampfartigen Anfällen am Boden wälzten.

Vgl. dazu auch die Darstellung bei Christine Beil, Zwischen Hoffnung und Verbitte- rung. Selbstbild und Erfahrungen von Kriegsbeschädigten in den ersten Jahren der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 46 (1998), S. 139-157, hier: S. 145. Zur Ermordung des sächsischen Kriegsministers Neuring im Kontext ei- ner Kriegsbeschädigtendemonstration vgl. Ewald Frie, Vorbild oder Spiegelbild?

Kriegsbeschädigtenfürsorge in Deutschland 1914^1919, in: Der Erste Weltkrieg. Wir- kung, Wahrnehmung, Analyse, hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1994, S. 563-580, hier: S. 563 f.

37 Vgl. dazu auch Sabine Kienitz, Quelle place pour les héros mutilés? Les invalides de guerre entre intégration et exclusion, in: 14/18. Aujourd'hui. Today. Heute. Revue an- nuelle d'histoire, 4 (2001), S. 151-166.

38 Was Kriegsbeschädigte hoffen! In: Zentralblatt für Kriegsbeschädigte und Kriegshin- terbliebene, 6,15.3.1921.

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Hinsichtlich der zu erwartenden finanziellen Kriegsfolgelasten griffen Politi- ker und Vertreter der Gesundheits- und Sozialverwaltung schon während des Krie- ges auf die seit 1813 bewährte Formel vom »Dank des Vaterlandes« zurück, der al- len tapferen »Verteidigern« gewiß sein sollte. Allerdings ließen die rituellen Wie- derholungen dieser Pathos-Formel noch weitgehend offen, wann genau für die Kriegsbeschädigten diese imaginierte »Nachkriegszeit« denn beginnen würde. Klar war nur, daß die Invaliden mit ihren Forderungen und Ansprüchen auszuharren hatten. Politiker und Behördenvertreter vertrösteten sie auf die unbestimmte Zeit

»nach dem Krieg«. Nur wenige verwiesen wie der evangelische Theologe Wilhelm Goebel schon während des Krieges in seiner Schrift Fürs Vaterland. Ein Wort an un- sere Kriegsbeschädigten darauf, daß die staatlichen Kassen angesichts der Masse an Kriegsbeschädigten möglicherweise überfordert sein könnten und deshalb die er- wartete finanzielle Kompensation für ihre Invalidität letztlich ungesichert war:

»Vergessen wird euch das Väterland nicht. Es wird für euch sorgen, soviel es nur kann. Das ist sicher. Wie das auf die Dauer im einzelnen geschehen kann und wird, das läßt sich zur Stunde noch nicht sagen.«

Als Ausgleich für eine mangelhafte Ausstattung der Rentenbezüge versprach er allerdings ideelle Kompensation: »Sicher ist auch, daß euch stets alle edeldenken- den Menschen, Männer und Frauen, mit Achtung und mit Dankbarkeit begegnen werden39.« Parteienübergreifend stand der Kriegsinvalide im Mittelpunkt dieses moralisch-pathetischen Beruhigungsdiskurses, der darauf ausgelegt war, daß sich die gesamte deutsche Nation nach dem Krieg zu ihrer Verantwortung für die Kriegs- opfer bekennen und für deren Leiden und Opfer erkenntlich zeigen würde. So wurde gerade der Kriegsbeschädigte zentraler Bestandteil der kollektiven Kon- struktion einer besseren und humaneren Nachkriegsgesellschaft und damit einer Option auf die Zukunft Deutschlands40. Der Leiter des Reichsausschusses für Kriegs- beschädigtenfürsorge urid »Schöpfer« der brandenburgischen Hauptfürsorgestel- le, Joachim von Winterfeldt, erklärte die organisierte Kriegsbeschädigtenfürsorge zu einem Kernstück des »neuen Deutschlands«, das nach dem Kriege erstehen müsse und von dem soviel gesprochen werde. In seinem Vortrag zur Organisati- on der dezentralen Fürsorgestellen 1917 setzte er große Hoffnungen darauf, daß mit dem »sozialen Verantwortlichkeitsgefühl, das in unserm Fürsorgewerk alle feind- lichen Gegensätze ausgeschaltet« hatte, vorbildhaft auch das Parteiengezänk und der Streit um politische Unterschiede ein Ende fänden:

»Dann würde das Blut unserer Brüder nicht nur für den äußeren Bestand unseres Vaterlandes vergossen sein, sondern als edelster Saft dem Baume der inneren deutschen Einigkeit zu blühendem Wachstum verhelfen41

Diese symbolische Einbindung des Kriegsinvaliden in einen abstrakten Zeitab- schnitt »nach dem Krieg« hatte vor allem zum Ziel, ihn an seine staatsbürgerlich- männliche Verpflichtung zur Reintegration in die Arbeitswelt zu erinnern. Kon-

39 Vgl. dazu Wilhelm Goebel, Fürs Vaterland! Ein Wort an unsere Kriegsinvaliden, Bannen O.J., S. 5.

40 Reimann kann das Bild und die projektiv entworfene Zukunftserwartung einer »besse- ren Welt« nach dem Krieg nur im Kontext »konsensfemer«, d.h. weitgehend kriegskri- tischer Publizisten bzw. in der privaten Korrespondenz von Verlobten und Ehepaaren nachweisen. Dieser Widerspruch muß wohl auf die Spezifik seiner Quellenlage zurück- geführt werden. Vgl. Reimann, Der große Krieg (wie Anm. 31), S. 250.

41 Joachim von Winterfeldt, Kriegsbeschädigtenfürsorge, Berlin 1917, S. 36-38.

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kret ging es bereits ab 1915 um volkswirtschaftlich-technische Überlegungen über den Aufbau einer organisierten Kriegsopferfürsorge mit den entsprechenden beruflichen Reintegrationsmaßnahmen sowie um die Planung einer breit ange- legten Versorgung der Invaliden mit arbeitstauglichen, d.h. industrieverträglichen Prothesen. Darüber hinaus aber definierten die Daheimgebliebenen schon Ende 1914 die Kriterien, nach denen man in der Zukunft - also nach dem Krieg - den Versehrten deutschen Kriegshelden und seine »Männlichkeit« zu beurteilen gedachte.

Männlichkeit im Zeichen der Versehrung

Gerade Vertreter ziviler, frontferner Lebensbereiche aus Kirche und Sozialfürsor- ge taten sich im Entwerfen von solchen männlich konnotierten Helden-Bildern hervor. Schon Ende 1914 machten sie deutlich, daß nicht jedem Kriegsteilnehmer nach Beendigung der müitärischen Auseinandersetzungen automatisch der Sta- tus des Helden zugedacht werden konnte: Der industrialisierte Massenkrieg soll- te nicht die entsprechende Masse an Helden hervorbringen. Entsprechend atte- stierte Wilhelm Goebel den tapferen Frontkämpfern zwar »prächtiges soldatisches Verhalten«, das im Einsatz für Volk und Vaterland sehr vonnöten sei, für die Zu- erkennung des Heldenstatus aber wohl nicht hinreichend sein würde. Denn das

»wahre, echte Heldentum« beweise sich seiner Meinung nach eben »nicht nur in der Schlacht, nicht nur im wagemutigen Drauflosdreschen, [nicht nur] im tapfe- ren Einsetzen seiner Person«42. Dies sei nur die kriegsbedingte Oberfläche: Denn die gleichmacherische Einrichtung der allgemeinen Wehrpflicht rufe ja alle deut- schen Männer zu den Waffen und biete allen damit ganz undifferenziert auch die Chance, sich zu bewähren. Für die Zuerkennung des Heldenstatus spielte deshalb bei Goebel nicht der Krieg selbst die zentrale Rolle, sondern die Situation danach.

Die Qualifikation des echten und eigentlichen Helden lasse sich erst nach der ge- schlagenen Schlacht richtig beurteilen. Dann nämlich, wenn auch die inneren Wer- te auf den Prüfstand kämen und sich die »sittliche Kraft« des betreffenden Kriegs- teilnehmers offenbaren müsse. Die Frage der »Tapferkeit vor dem Feind« sei als Kriterium allein nicht aussagekräftig genug, tapfer könnten auch Männer sein, »de- ren sittlicher Charakter sehr viel zu wünschen übrig« lasse43. Laut Goebel zeigte sich das »größte«, das »wirkliche und wahre Heldentum« vor allem »in der Art und Weise, wie die Kriegsfolgen getragen werden«44, mit welcher inneren Haltung der Soldat schwere körperliche Schäden und Verunstaltungen annehme, wie er die im Krieg davongetragenen Verwundungen verkrafte und wie er seine körperli-

42 Goebel, Fürs Vaterland! (wie Anm. 39), S. 7.

43 Auch der national-konservative Publizist Richard Mertz argumentierte 1918, daß eben nicht jedem automatisch durch die Kriegsteilnahme der Heldenstatus zuzuerkennen sei.

So habe man es hier oft mit »Elementen« zu tun, die ihre Pflichterfüllung zu einer selbst- losen Leistung hochstilisierten und darauf aufbauend dann - ungerechtfertigte - hohe Erwartungen an den Staat pflegten. Richard Mertz, Staat und Kriegskrüppel, München 1918, S. 6.

44 Goebel, Fürs Vaterland! (wie Anm. 39), S. 8.

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chen Beeinträchtigungen individuell bewältige45. Nicht die Verletzung selbst, son- dern erst die individuelle moralische Kraft, das erbrachte Opfer »still und erge- bungsvoll hin[zu]nehmen«, mache aus einem tapferen Soldaten einen wahren Hel- den und erweise ihn der Ehrung würdig, den versprochenen »Dank des Vaterlan- des« entgegenzunehmen..

Der ikonographische Fundus, aus dem der evangelische Theologe Goebel die- ses Helden-Vorbild bezog, ist unverkennbar: Hier werden Anklänge an jenen christ- lich geprägten Märtyrermythos und die dazugehörige christliche Leidenssymbo- lik deutlich, wie sie Karen Hagemann schon für das frühe 19. Jahrhundert be- schrieben hat46. Die Überhöhung des Invaliden als duldender und sein Leiden demütig hinnehmender Schmerzens-Mann ist zugeschnitten auf die Figur des ge- kreuzigten Heilandes, dessen stilles Duldertum den subjektiv nicht nachvollzieh- baren Sinn des eigenen Leidens vorbehaltlos akzeptiert und auf eine höhere Ebe- ne transzendiert: Das Opfer für die Nation wird damit zugleich überhöht als Op- fer für die christliche Gemeinschaft, die Menschheit überhaupt. Das Opfer selbst zeichnete auch den Opferwilligen aus, der »durch die Heiligkeit des Schmerzes, des dargebrachten Opfers geweiht und emporgehoben« wurde47.

Wie sehr diese Opferperspektive und der Leidensweg Jesu auch in die Selbststi- lisierung und Selbstwahrnehmung als leidendes und dabei zugleich heldenhaftes Kriegsopfer einging, illustriert die intensive Reaktion körperbeschädigter Kriegsin- valider auf die Ausstellung des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald, der von November 1918 bis Oktober 1919 in der Alten Pinakothek in München gezeigt wur- de48. Das Defilee der Kriegsbeschädigten in ihren Rollstühlen und auf Krücken hat- te den Charakter einer Wallfahrt. Dementsprechend fanden sogar Gottesdienste im Museum statt. Die Darstellung des gemarterten Leibes Christi wurde für die kriegs- versehrten Pilger zu einer Art Gnadenbild, und schon zeitgenössische Beobachter

45 Zur behaupteten Individualität zeitgenössischer Helden(selbst-)darstellungen im indu- strialisierten Massenkrieg in der kriegsverherrlichenden Literatur der Kriegsjahre vgl.

Thomas F. Schneider, Zur deutschen Kriegsliteratur im Ersten Weltkrieg, in: Kriegser- lebnis und Legendenbildung (wie Anm. 16), S. 101-115, hier: S. 102-105.

46 Vgl. dazu Karen Hagemann, Nation, Krieg und Geschlechterordnung. Zum kulturellen und politischen Diskurs in der Zeit der antinapoleonischen Erhebung Preußens 1806-1815, in: Geschichte und Gesellschaft, 22 (1996), S 562-591, hier: S. 580 f. Zu einer bewußten Parallelisierung der soldatischen Fronterfahrung mit der Passion Christi in Deutschland und England während des Ersten Weltkrieges vgl. auch Reimann, Der große Krieg (wie Anm. 31), S. 102-108. Eine genauere Analyse der argumentativ eingesetzten Opfer-Se- mantiken findet sich in Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Zur Politisierung des kriegs- invaliden Soldatenkörpers in der Weimarer Republik, in: Der Krieg in den Köpfen. Eu- ropa in den 1920er und 1930er Jahren, hrsg. von Jost Dülffer und Gerd Krumeich, Essen 2002 (im Druck).

47 Die das Leben zwingen ... Briefe an einen Kriegsbeschädigten, in: Das praktische Blatt, 22, 6.10.1917. Zur Bewertung, Deutung und Einordnung kriegsbedingter körperlicher Leiden nach dem Ersten Weltkrieg aus kirchlicher Sicht vgl. Michael Trauthig, Im Kampf um Glauben und Kirche. Eine Studie über Gewaltakzeptanz und Krisenmentalität der württembergischen Protestanten zwischen 1918 und 1933, Leinfelden-Echterdingen 1999 (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd 27), S. 352 f.

48 Vgl. dazu die Thesen zu den historischen Darstellungsformen männlicher Schmerz- upd Leiderfahrungen bei Ann Stieglitz, Wie man sich an den Krieg erinnert: Geschlechts- spezifische Unterschiede bei Darstellungen des Leids, in: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft. 5. Kunsthistorikerinnentagung in Hamburg, hrsg. von Silvia Baumgart [u.a.], Berlin 1993, S. 235-257. Für diesen Hinweis danke ich Annegret Jürgens-Kirch- hoff, Tübingen.

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deuteten diese Andacht als eine spezifische Form der Identifikation: Grünewalds realistische Darstellung des leidenden und bei geschlossenem Altarflügel sogar am- putierten Christus hatte für die Betroffenen offenbar einen unheimlich anmutenden und emotional hoch besetzten Wiedererkennungseffekt. Der leidende Christus in seinem körperlich sichtbaren Schmerz hatte eine Spiegelfunktion, der naturalistisch gemalte Versehrte Körper schien das Trauma der in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges erlittenen Verletzungen zu zeigen. In dieser Lesart wurden die Kriegs- invaliden durch zeitgenössische Kunsthistoriker und Kunstkritiker bestärkt, die den Altar als zentrales Werk deutscher Kunst und damit als »Altar des Vaterlandes« na- tional überhöhten49. Männlichkeit und Leiden, so die Botschaft, die die Zeitgenossen der Christus-Darstellung Grünewalds zuschrieben, schlossen sich in dieser Figur nicht gegenseitig aus, solange das Leiden still und ergebungsvoll getragen wurde.

Dieses Deutungsangebot des unschuldigen und zugleich selbstlosen »Opfers«

wurde von den Kriegsbeschädigten in den Nachkriegsjahren breit rezipiert und für ihre Interessen funktionalisiert. Als überlebende Kriegsopfer setzten sie die Idee des Opfers in der semantischen Doppelung von victima und sacrificium als zentralen Bestandteil ihrer Identitätspolitik offensiv für sich ein50. Die autobiogra- phische Kriegsbeschädigtenliteratur der 1920er Jahre wie auch die veröffentlich- ten Leserbriefe und Stellungnahmen in den Publikationsorganen der Kriegsopfer- verbände sind geprägt von diesem Opferdiskurs, der gezielt dazu genutzt wurde, die besondere Rolle der Kriegsbeschädigten zu behaupten und damit ihre An- sprüche an den Staat gegen alle anderen gesellschaftlichen Gruppierungen von Kriegsteilnehmern und Kriegsopfern abzugrenzen. Dieser Diskurs kulminierte in moralischen Vorhaltungen an die Daheimgebliebenen, an die zivile Bevölkerung, für die man selbstlos und opferbereit die Gesundheit hingegeben und das Leben riskiert hatte, und die sich nun als derart undankbar erwiesen. So formulierte der kriegsblinde Offizier Wilhelm Hoffmann in seinen 1931 veröffentlichten Kriegs- erinnerungen empört seine Enttäuschung darüber, wie wenig Anerkennung die Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland jenen Kriegsteilnehmern für ihren Ein- satz und ihre Opfer zollen würde, die nun unter den Folgen des Kriegs und ihrer Invalidität zu leiden hätten: »Und für dieses Volk hat man sein Bestes hingegeben, hat man zeitlebens ein Dunkel, ein halbes Leben auf sich genommen51.« Die eige- ne gesundheitliche Beeinträchtigung und körperliche Behinderung wurde von Hoffmann nicht nur in Beziehung gesetzt zum Krieg als Ursache und Auslöser die- ser Leiden, sondern auch in Beziehung gesetzt zum deutschen Volk und Vaterland, für deren Verteidigung er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte: »aber ihr Gesunden habt doch keine Ahnung, was wir durch unsere Opfer für euch leiden müssen52

Die Verpflichtung des männlichen Staatsbürgers zum Kriegsdienst als Téil der all- gemeinen Wehrpflicht und damit auch zu einem patriotischen Opfer trat in dieser Argumentation völlig in den Hintergrund.

49 Vgl. dazu ebd., S. 246.

50 Vgl. dazu auch Michael Reiter, Opferphilosophie. Die moderne Verwandlung der Op- ferfigur am Beispiel von Georg Simmel und Martin Heidegger, in: Schrift der Flammen.

Opfermythen und Weiblichkeitsentwürfe im 20. Jahrhundert, hrsg. von Gudrun Kohn- Waechter, München 1991, S. 129-147; Herfried Münkler und Karsten Fischer, »Nothing to kill or to die for ...« - Überlegungen zu einer politischen Theorie des Opfers, in: Le- viathan, 28 (2000), H. 3, S. 343-362.

51 Wilhelm Hoffmann, Mein Weg zum Glück, München 1931, S. 71.

52 Vgl. ebd., S. 89.

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Die Tatsache, daß die Kriegsinvaliden Körper und Gesundheit dem Vaterland zum Opfer dargebracht hatten, vereinte sie über Parteigrenzen hinweg von ganz rechts bis ganz links in ihrem Anspruch auf ideelle und finanzielle Kompensation.

Darüber hinaus leiteten sie aus dieser Opferrolle ihren Anspruch auf einen gesell- schaftlichen Sonderstatus ab, der sie über jeden unverletzten Kriegsheimkehrer, vor allem aber über die zivilen Arbeitsinvaliden moralisch erhob53. In der Kon- kurrenz der verschiedenen Kriegsopfergruppen um den Anspruch auf Soziallei- stungen und nationales Prestige setzten die Kriegsbeschädigten ihre körperlich sichtbaren Verwundungen gezielt als distinktives Instrument ein, das sie aus der Masse der potentiellen Kriegshelden heraushob und ihren Anspruch auf Auf- merksamkeit symbolisch und moralisch begründete54. Eine Haltung, die noch während des Krieges öffentliche Bestätigung erfuhr, nach dem Krieg allerdings zu- nehmend kritisiert wurde. So bescheinigte Schwester Frida Louise Martini in dem Gedicht »Heldendank«, das 1917 in der Zeitschrift Der Kriegsbeschädigte abgedruckt wurdè, den invaliden Heimkehrern noch die hohe moralische Bedeutung ihrer Ver- wundung und bestätigte eine neue Rangordnung zwischen den Toten und den Überlebenden des Krieges. Das Schicksal einer Kriegsbeschädigung stellte ihrer Ansicht nach' ein »schwereres Los« dar als der Tod auf dem Schlachtfeld. Ihr Ge- dicht war daher ausschließlich an »die Kriegsverwundeten« gerichtet:

»Euch war's nicht beschieden, das Leben zu lassen, / Zu bringen als Opfer es dar.

/ Ein schwereres Los ist euch Brüdern gefallen, / Als schwarze verschleierte Bahr!

Ein Argument, das eben auf das symbolische Kapital als »Kriegsopfer« abzielt, und das m.E. in der sozialgeschichtlichen Debatte über die >falsche< Anspruchshaltung der Kriegs- opfer häufig nicht ernst genug genommen wird. Vgl. dazu Karin Hausen, Die Sorge der Nation für ihre »Kriegsopfer«. Ein Bereich der Geschlechterpolitik während der Wei- marer Republik, in: Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, hrsg. von Jürgen Kocka, München, New Provi- dence, London, Paris 1994, S. 719-739. Auch Richard Bessel vertritt die Position, daß den Kriegsbeschädigten der nötige Wille zur Einsicht in die wirtschaftlichen und politischen Probleme der Weimarer Republik und damit die moralische Bereitschaft zum Verzicht ge- fehlt habe, vgl. dazu Bessel, Kriegserfahrungen (wie Anm. 28), S. 136. Er verkennt dabei zum einen die Tatsache, daß eben »Kriegserfahrungen« vor allem über subjektiv gefil- terte Wahrnehmungen und Deutungen konstituiert sind und sich damit einer rein ra- tionalen, an einer objektiven historischen »Wahrheit« orientierten sozialhistorischen Ar- gumentation entziehen können. Eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Herange- hensweise wird ihr Augenmerk gerade auf diese unterschiedlichen Deutungs- und Argumentationsperspektiven richten und damit zugleich den gesellschaftlichen Wider- sprüchen mehr Beachtung schenken. Zum anderen trifft das Argument der erfolgrei- chen Demobilmachung und die erfolgreiche Reintegration in den Arbeitsmarkt (S. 136 f.) gerade für die Kriegsbeschädigten nicht zu, im Gegenteil: Die negativen Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt bestätigten die Kriegsinvaliden noch zusätzlich in ihrer Opfer- haltung. Vgl. dazu z.B. Wilhelm Franzisket, Die Beziehungen zwischen Beruf, Beschä- digung und Fürsorge bei den Schwerkriegsbeschädigten der Rheinprovinz, Düsseldorf 1917; Gustav Tonkow, Das Schicksal der Schwerkriegsbeschädigten in Hamburg, Ro- stock 1927; Christian Kleinschmidt, »Unproduktive Lasten«: Kriegsinvaliden und Schwer- beschädigte in der Schwerindustrie nach dem Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirt- schaftsgeschichte, 2 (1994), S. 155-165.

Unverkennbar sind hier Parallelen zu den Forderungen der Invaliden des deutsch-fran- zösischen Krieges feststellbar, die Jakob Vogel in seinem Beitrag in diesem Heft benannt hat. Allerdings unterscheiden sie sich sowohl in der Organisiertheit als auch im Selbst- bewußtsein, mit dem diese sozialpolitisch brisanten Forderungen vorgetragen wurden.

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/ / Euch ist es gegeben, heroisch zu leben / Noch manches zukünftige Jahr, / Zu tragen das Merkmal der bitteren Leiden, / Der schmerzlich bestand'nen Gefahr55

Diese spezifische Form des Heldentums verband sich also mit der Anforderung, mit den körperlichen Stigmata der erlittenen Verletzungen weiterleben zu müs- sen, und dafür, so die Schlußfolgerung der Schwester, gebühre ihnen auf beson- dere Weise der Dank des Vaterlandes. Nach dem Krieg hingegen wurde das Be- harren der Kriegsbeschädigten auf einer Vorrangstellung innerhalb der Kriegsop- ferhierarchie zunehmend als unmoralisch abgelehnt. Mitleid, und Anteilnahme wandelten sich in Abscheu und Kritik: Angesichts des »schmierenhaft aufgemachten Elends« und der larmoyant inszenierten »Elendskomödie« der Kriegsinvaliden di- stanzierte sich z.B. die Deutsche Allgemeine Zeitung 1921 unter der Überschrift »Ber- liner Bettler« wie viele andere Blätter in diesen Jahren von der Vielzahl jener Kriegs- beschädigten, die offensiv das Nachkriegspublikum mit ihren leidenden Körpern konfrontierten. Sie erinnerte daran, daß der Krieg nicht nur für die körperlich Be- schädigten, sondern für alle Deutschen Not und Elend gebracht habe56, und wies die Ansprüche der Kriegsinvaliden auf eine Sonderbehandlung und ein höheres Maß an Zuwendung empört zurück.

Normative Helden-Bilder

Die Palette an normativen Helden-Bildern war schon während des Krieges umfassen- der und vielfältiger, als es bisher scheint. Sie Schloß auch Männlichkeitskonstruktionen ein, denen im Hinblick auf die anstehenden gesellschaftlichen Integrationsprobleme nach einem imaginierten Kriegsende eine höhere Funktionalität zugeschrieben wurde.

Diametral entgegengesetzt zu dem Bild des stillen Dulders der christlichen Ikonogra- phie wurde im Kontext der privaten Kriegsbeschädigtenfürsorge das Bild des helden- mütigen Kämpfers und Überwinders entworfen. Dieses Deutungsangebot skizzierte ein Bild vom Kriegsbeschädigten, der sich permanent im Kriegseinsatz befand, der nun, nach dem Ende des Krieges, quasi erneut in den Krieg ging, und zwar in seinen ur- eigenen: Der Feind, gegen den er anzugehen hatte, war er nun selbst. Sein eigener Körper wurde zu seinem persönlichen Schlachtfeld erklärt, die Durchhalteparolen galten ihm, der durch »zähes Niederringen allen Zagens«, im Kampf mit dem eige- nen Schicksal und in der heroischen Überwindung seiner körperlichen Behinderun- gen den Sieg über sich zu erringen hatte.

Dieser Männlichkeitsentwurf wurde als rhetorische Konstruktion mit eindeu- tigem Appell-Charakter von jenen zeitgenössischen Fürsorge-Experten entwickelt, die gesellschaftliche Integrationsangebote mit einer sozialdisziplinierenden Zu- richtung der Kriegsbeschädigten zu verbinden suchten. Hier handelte es sich um ein Konstrukt von Männlichkeit, das sich am tradierten Klischee des Kriegshelden orientierte und übersättigt war von den entsprechenden Worthülsen. Nicht klag- los hingenommenes Leiden, sondern das Überwinden der Beeinträchtigung und ein aktives Negieren des eigenen Schadens wurden mit nationalem Pathos als spe-

55 Frida Louise Martini, Heldendank. An die Kriegsverwundeten, in: Der Kriegsbeschä- digte, Nr. 1, 5.5.1917, S. 15.

56 Berliner Bettler, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 251,10.6.1921, BArch, R 3901 /9054.

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zifisch männliche Tugenden behauptet und eingefordert, um »aus Krüppelnot em- por zum Heldentum«57 zu gelangen. Auch der Kriegsbeschädigte sollte noch »sei- nen Mann stehen«58, er war aufgerufen, mit dem »eisernen Willen, als Mann und Deutscher in dem Kampfe mit dem Geschick« sich seinen »Sieg« zu erringen59. Die- se Anforderung wurde zwar bereits während des Krieges formuliert, aber syste- matisch erst nach der Niederlage propagiert, nicht zuletzt deshalb, weil sie die Möglichkeit eröffnete, den Kriegsbeschädigten die Notwendigkeit einer schnellen

»Normalisierung«, die Pflicht des Vergessens und Verdrängens ihrer kriegsbe- dingten Beeinträchtigungen und des möglichen Verzichts auf staatliche Leistun- gen nahe zu bringen.

Zur Durchsetzung dieses kämpferisch-aggressiven Männlichkeits-Ideals grif- fen die Vertreter der Kriegsbeschädigtenfürsorge wie Hans Würtz und Eberhard Freiherr von Künßberg als Leiter der Einarmschule im badischen Ettlingen, aber auch Prothesenspezialisten wie der Chirurg Ferdinand Sauerbruch auf ein Pan- optikum von historisch überlieferten Helden-Bildern zurück. In dieser spezifisch deutschen Ahnengalerie von siegreichen Kämpfern fungierte die Figur des mit- telalterlichen Götz von Berlichingen mit seiner »eisernen Faust« als zentrale Deu- tungsinstanz. Die Erfolgsgeschichte seiner Verletzung, aber eben auch seine als vorbildlich gepriesene Form der »Kriegsfolgenbewältigung« findet sich in na- hezu allen Publikationen der Kriegsbeschädigtenfürsorge, die in den Kriegs- und Nachkriegsjahren ein breiteres Publikum ansprechen sollten: Keine Darstellung der Prothesengeschichte kam ohne die Präsentation der »eisernen Faust« in Wort und Bild aus; Ausstellungen der Kriegsbeschädigtenfürsorge zeigten dem in- teressierten Publikum in einer »historischen Abteilung« den Originalarm60; die Kriegskrüppelfürsorge verwendete seine Lebensgeschichte in sämtlichen Varia- tionen von der ausschmückenden Nacherzählung bis hin zu Auszügen aus dem Götzschen Originaltext61 und wählte darüb.er hinaus die eiserne Faust des Götz auf dem Schild als Emblem für ihre Publikationen62. Die mediale Aufbereitung dieses mustergültigen deutschen Heldenlebens war trotz ihrer stereotypen Ele- mente immerhin so erfolgreich, daß der invalide Schmied Mathias Natius als

»Der Götz von Köln« tituliert wurde. Für das Preisausschreiben des Vereins Deut- scher Ingenieure zum Thema »Armersatz« reichte ein Breslauer Bandagist ein selbstgebasteltes Modell unter dem Titel »Berlichingen« ein63.

57 Vgl. dazu Reinhold Braun, Der Wille siegt!, in: Unsern Kriegsbeschädigten, Potsdam [1916], S. 1.

58 Die Formulierung des »seinen Mann stehens« bezieht Aribert Reimann auf die Figur und Pose des »eisernen Roland«, einer mittelalterlichen Ritterfigur, deren ikonographi- sche Repräsentanz »als unbewegliche Ikone des unerschütterlichen Durchhaltewillens«

1916 ihren Höhepunkt erreicht habe. Reimann, Der große Krieg (vgl. Anm. 31), S. 56.

59 Unsern Kriegsbeschädigten (wie Anm. 57), S. 6.

60 Die Organisatoren der Kriegsbeschädigtenfürsorge-Ausstellung im Leipziger Kristall- palast 1917 hatten wegen der »unübertrefflichen Kontrastwirkung« zur modernen Pro- thetik bewußt eine historische Abteilung eingerichtet. Vgl. dazu den Bericht in der Zeit- schrift Fürsorge für Kriegsteilnehmer, 23/24 (1917), S. 190 f.

61 Vgl. dazu Die Einarm-Fibel. Ein Lehr-, Lese- und Bilderbuch für Einarmer, hrsg. von Eberhard Freiherr von Künßberg, Karlsruhe 1916, S. 71 f.

62 Vgl. dazu das Deckblatt der Publikation von Hans Würtz, Der Wille siegt. Ein pädago- gisch-kultureller Beitrag zur Kriegskrüppelfürsorge, Berlin 1915; sowie das Frontispiz der Publikation von Künßberg, Die Einarm-Fibel (wie Anm. 61).

63 Vgl. dazu den Bericht über das Ergebnis des Wettbewerbs für einen Armersatz, in: Ar- chiv für Orthopädie, Mechanotherapie und Unfallchirurgie, 14 (1916), S. 270 f.

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