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Philodemos, Sind die Drehorgelspieler und Bänkelsänger Gewerbtreibende oder Prole-

Konstrukte vergangenen Heldentums

70 Philodemos, Sind die Drehorgelspieler und Bänkelsänger Gewerbtreibende oder Prole-

Prole-• tarier?, in: Der Staats-Socialist, 11 (1879). Zit. nach GStA PK, HAI Rep. 77, Tit. 306a, Nr. 7, Bd 2, Bl. 76.

71 Vgl. Karl Gotter, Fürsorge für Kriegsbeschädigte. Berufsberatung, Ausbildung und Stel-lenvermittlung, Leipzig 1915, S. 6.

72 Franz Schrönghamer-Heimdal, Der Dank des Vaterlandes, in: Reclams Universum, 32 (1915), H. 28, S. 155-161, hier: S. 160.

seren Straßen erscheinen73!« Ungeachtet dieser Mahnungen an die Gesellschaft wurde die Schuld an dem kollektiven Unbehagen den Kriegsbeschädigten selbst und deren Fehlverhalten zugeschrieben, weshalb alle Bemühungen darauf ausge-richtet waren, diese Männer zu diskreditieren und sie aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Im Rückgriff auf die Fehler der Vergangenheit identifizierte sich der Krüppelpädagoge Hans Würtz mit den nationalen Belangen und verlieh dem Kol-lektiv-Subjekt »Vaterland« in der Schrift Unsern Kriegsbeschädigten die eigene Stim-me. Die Botschaft war im patriarchalen »Du« direkt an die Kriegsinvaliden des Ersten Weltkrieges gerichtet und eindeutig formuliert:

»Deutschland will nicht wieder bettelnde Kriegsbeschädigte in den Gassen der Städte und auf den Landstraßen sehen! Es schätzt die Fähigkeiten und Kenntnisse, die du dir in deinem Beruf erworben, und es hat Ehrfurcht vor dem Helden in dir. Darum muß jetzt dein guter Wille zur Arbeit siegen74

Das Schlagwort vom »Willen zur Arbeit« sollte im Kontext der Kriegsbeschädig-ten-Versorgung zu dem Schlüsselbegriff der 1920er Jahre werden: Im männlich kon-notierten »Willen« gipfelte die Erwartungshaltung an die Kampf- und Überwin-dungsbereitschaft des Versehrten Kriegshelden des Ersten Weltkrieges. Auch die Formulierung von der »regsamsten Selbsttätigkeit im Erwerbsleben«75 verweist darauf, daß das ikonographisch ausdifferenzierte und historisch abgesicherte Hel-den-Arsenal in erster Linie darauf angelegt war, Grundlage für die aktuellen Ver-haltensanforderungen an die Invaliden zu sein und dabei neue Maßstäbe für ihre potentielle, als männlich konnotierte Leistungsfähigkeit zu setzen. Der Männlich-keitsbeweis war nun eben nicht mehr nur gebunden an die Kriegsteilnahme bzw.

an die Verletzung als solche, sondern verlängerte sich bis in die zivile Nachkriegszeit hinein: In den 1920er Jahren wurde auch der Versehrte Held lediglich dann als

>Held< akzeptiert, wenn er sich bereitwillig in den Alltag und das Arbeitsleben in-tegrierte und damit >unsichtbar< machte und dem kollektiven Anspruch auf Nor-malisierung und Vergessen unterwarf.

Der »Wille« als Konstrukt und Zuschreibung bildete dabei ein reichhaltiges und stereotyp genutztes Reservoir an Männlichkeitserwartungen und -behaup-tungen. Männlichkeit hieß nun vor allem, den aktuellen Rollenanforderungen ge-recht zu werden und dem bürgerlichen Leitbild als Familienernährer zu entspre-chen: Der >moderne< Kriegsbeschädigte sollte trotz körperlicher Behinderung sei-nen gesellschaftlich vorgesehesei-nen Platz als tüchtiger Arbeiter einnehmen, er soll-te den Übergang vom »hilflosen Krüppel zum Ssoll-teuerzahler«76 aus eigener Kraft schaffen. Vor allem aber sollte er dem Staat nicht über Gebühr durch individuelle und als egoistisch gebrandmarkte Rentenforderungen zur Last fallen. Sowohl von Seiten der medizinisch-orthopädischen Krüppelfürsorge als auch im Kontext der durch die Sozialfürsorge organisierten beruflichen »Wiederertüchtigungs«-Maß-nahmen wurde die Demonstration des »eisernen Willens« - sowohl des Willens zur Gesundung als auch zur Arbeitsfähigkeit - zum Test auf die Bereitschaft der Kriegsbeschädigten zur gesellschaftlichen Integration hochstilisiert. Wer sich

die-73 Konrad Biesalski, Kriegskrüppelfürsorge, ein Aufklärungswort zum Tröste und zur Mah-nung, Leipzig 1915, S. 20.

74 Hans Würtz, Dein Wille!, in: Unsern Kriegsbeschädigten (wie Anm. 57), S. 7.

75 Würtz, Götz von Berlichingen (wie Anm. 65), S. 66.

76 Vgl. dazu Josef Rey, Grenzgebiete ärztlicher Kunst, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge, 16 (1923), S. 40-42, hier: S. 42.

sem Anspruch nicht fügte, wurde als unmännliche »Drohne«77 oder gar als »Schma-rotzer [und] Parasit«78 stigmatisiert, der auf Staatskosten ein Faulenzer-Leben führen wollte. Oder er mußte mit dem Stigma des »Versagers« leben, der öffentlich wegen dieses Verstoßes gegen die Regeln einer leistungsorientierten und national defi-nierten Wertegemeinschaft gebrandmarkt wurde79.

Dem versprochenen »Dank des Vaterlandes« setzten damit der Staat und die mit ihm in der Kriegsopferfürsorge kooperierenden Institutionen und Verbände enge Grenzen: Der Kriegsversehrte wurde an seine bestehende Staatsbürgerpflicht er-innert, sich nicht auf seinen einmal erbrachten Kriegsleistungen auszuruhen, son-dern ungeachtet seiner Invalidität seine verbleibende Arbeitskraft gänzlich dem Vaterland zur Verfügung zu stellen. Im Hintergrund stand dabei der Gedanke, daß nicht der Staat seinen Vaterlandsverteidigern etwas schuldig sei, sondern umgekehrt gerade die Kriegsbeschädigten eine dauerhafte Schuld dem Staat gegenüber ab-zutragen hätten, nämlich die Pflicht, alles zu leisten, alles zu geben: Das von ih-nen geleistete Opfer war eben nicht freiwillig, sondern eine zwingende Verpflich-tung des männlichen Staatsbürgers, die nicht nur für den Kriegsfall galt, sondern auch im zivilen Leben weiterbestand.

Zum Begriff der »Invalidität«

Eine von den Zeitgenossen viel diskutierte Frage war in der beschriebenen De-batte, wer nach dem Krieg überhaupt Anspruch auf den offiziellen Status als

»Kriegsinvalider« bzw. als »Kriegsbeschädigter« hatte? Dabei erwies sich der tus des »Kriegsinvaliden« als ebenso deutungsoffen und verhandelbar wie der Sta-tus des »Kriegshelden«. Mit Kriegsbeginn setzte eine öffentliche Erörterung über die Benennung und Spezifizierung der »Kriegsbeschädigungen« ein, an der sich so-wohl Laien als auch Experten mit leidenschaftlichem Engagement beteiligten. Wich-tig war zunächst der Streit über die Angemessenheit des Begriffs »Kriegskrüppel«, der bereits im Frühjahr 1915 begann. Da sowohl die Betroffenen selbst als auch vie-le der Experten diese Bezeichnung als >unehrenhaft< abvie-lehnten, setzte ein kolvie-lek- kollek-tives Nachdenken über mögliche Alternativen ein. Neben Philologen, Medizinern, Orthopäden und Sozialfürsorgern beteiligten sich auch Juristen an diesem Streit, der bald nicht nur den Krüppel-Begriff, sondern auch die falsche Verallgemeine-rung des Invaliden-Begriffs zum Gegenstand hatte. SozialversicheVerallgemeine-rungsrechtlich war der Begriff der »Invalidität« bereits seit den 1890er Jahren jenen Personen vorbe-halten, die mindestens zu zwei Dritteln erwerbsbeschränkt waren. Eine unreflek-tierte Ausweitung und Popularisierung des Invaliden-Begriffs, so die Warnung

77 Vgl. dazu Gotter, Fürsorge (wie Anm. 71), S. 6.

78 Seilmann, Das Seelenleben (wie Anm. 19), S. 36.

79 Die Zuschreibung als »Versager« und die Unterstellung, daß Kriegsbeschädigte grundsätz-lich arbeitsscheu seien und ihnen der »gute Wille zu praktischer Arbeit fehlt«, setzte sich schon während des Krieges durch. Vgl. dazu Kriegsbeschädigten-Fürsorge in Nieder-sachsen, Nr. 7,17.12.1917, S. 50 f.; sowie Sellmann, Das Seelenleben (wie Anm. 19), S. 27-37, der verschiedene Typen der Arbeitsscheu bei Kriegsbeschädigten und deren >Heilung<

beschreibt.

der Juristen, führe nur dazu, den Kreis jener Männer unintendiert auszuweiten, die sich selbst als »invalide« bezeichneten und damit in der Öffentlichkeit fälsch-licherweise als anspruchsberechtigt darstellten80. Allerdings erwiesen sich in die-sem vor allem über die Medien ausgetragenen Streit um Benennungen und Zu-ständigkeiten und damit immer auch um Rechtsansprüche die verschiedenen La-ger als ebenso unversöhnlich wie hartnäckig, so daß trotz juristischer bzw. mora-lischer Spitzfindigkeiten letztlich sowohl der Invaliden- als auch der Krüppel-Begriff als populäre Bezeichnungen für den Kriegsbeschädigten den Krieg überdauerten.

Die offizielle Anerkennung der körperlichen und psychischen »Invalidität« als Teil einer »Kriegsdienstbeschädigung« war allerdings ein langwieriger Akt. Die Frage, wer als »kriegsbeschädigt« oder als »invalide« gelten durfte, war dabei nicht nur abhängig von den gesetzlichen Vorschriften, sondern auch vom Wohlwollen des jeweiligen Gutachters und seiner Auslegung der Beurteilungskriterien. Die Ar-gumentationslogik des Gutachtersystems war dabei nicht darauf angelegt, für die Betroffenen selbst durchschaubar zu werden. Folglich beklagten die Kriegsbe-schädigten häufig die Willkür im Verlauf der Untersuchungen, deren Ergebnisse dem Zufall überlassen zu sein schienen.

Diese Erfahrungen der Kriegsbeschädigten gründeten nicht zuletzt in den ver-schiedenen und zudem differierenden gesetzlichen Grundlagen: Noch während des Krieges hatte das Mannschaftsversorgungsgesetz von 1906 Geltung, das u.a. die Regularien für die Anwartschaft auf eine Kriegsrente für die kriegsbeschädigten Sol-daten festlegte81. Hier begann bereits das Dilemma: Überfordert von der großen Zahl an Kriegsbeschädigten kamen die personell unterbesetzten Versorgungsäm-ter z.T. bereits während des Krieges mit der Bearbeitung der Rentenanträge nicht nach. So entstand Unmut unter den Betroffenen, die sich nicht nur um Ehre und Anerkennung, sondern auch um die versprochene und ihnen rechtmäßig zuste-hende Rente betrogen fühlten82. Die Opfererfahrung des Krieges perpetuierte sich für viele Kriegsbeschädigte damit in die eigene »Nachkriegszeit« hinein und schuf eine Opferkontinuität: sie konnten sich nun auch noch als Opfer der Bürokratie stilisieren. Bereits während des Krieges beschwerten sich Kriegsbeschädigte in Le-serbriefen an die Tagespresse über die Verschleppung ihrer Rentenauszahlungen und über die damit verbundenen Benachteiligungen und Härten. Die meisten Kla-gen erstreckten sich während, vor allem aber nach dem Krieg auf die Langsamkeit der Bürokratie, die schlechte Organisation und die Unbeweglichkeit sowie die man-gelhafte Kommunikation unter den verschiedenen Fürsorgebehörden. Auch wur-de die Tatsache bemängelt, daß immer wiewur-der Akten »verschwinwur-den« und die Be-amten nicht sorgsam genug mit den ihnen anvertrauten Schicksalen umgehen wür-den. So beschwerte sich 1918 im sozialdemokratischen Blatt Vorwärts ein Kriegs-beschädigter, daß er für die Ausbesserung seiner staatlich finanzierten Prothese

80 Vgl. dazu L. Wimmer, Kriegsinvalide oder Kriegsbeschädigte?, in: Der Tag, Nr. 49, 27.2.1916. Vgl. dazu auch Wilhelm Spatz, Bilder aus der deutschen Kriegsbeschädigten-fürsorge, Berlin 1918, S. 3 f., der ebenfalls das Ausmaß der Erwerbsminderung als aus-schlaggebend für die Berechtigung zum Rentenbezug betont und vor einer unpräzisen Benutzung des Invaliden-Begriffs warnt.

81 Vgl. dazu u.a. Geyer, Ein Vorbote (wie Anm. 17), der die verschiedenen europäischen Standards der Kriegsopferversorgung auflistet und miteinander vergleicht bzw. auch Rückschlüsse auf den jeweiligen sozialen Status der Kriegsbeschädigten zieht.

82 Vgl. dazu auch Whalen, Bitter Wounds (wie Anm. 28), S. 155-165; sowie Beil, Zwischen Hoffnung (wie Anm. 36), S. 147.

selbst das Geld vorstrecken mußte, da aufgrund von Schlampigkeiten seine Ak-ten bei der entsprechenden Fürsprgestelle noch nicht vorlagen. Ein Kollege habe über vier Monate auf seine Rentenauszahlungen warten müssen, weil »die amtli-chen Stellen nicht so rasch arbeiteten, wie er in seiner immerhin begreifliamtli-chen Un-geduld sich das gedacht hatte«83.

Ab 1920 galt ein neues Rentengesetz84, das die Kriegsbeschädigten mit einer veränderten Praxis konfrontierte, vor allem mit dem sich daran anschließenden Procedere der »Umanerkennung« ihrer Kriegsbeschädigung durch Gutachter und Versorgungsämter. Letzteres bedeutete für viele nicht nur eine neuerliche, uner-wartete und empörende gutachterliche Überprüfung, sondern auch eine Neube-wertung der körperlich feststellbaren Kriegsfolgen und damit einhergehend meist eine Revision der ihnen bereits zuerkannten Rentenberechtigung85. Im Zuge der gesetzlich angeordneten »Umanerkennung« fand nämlich zugleich eine Umdefi-nierung des Invalidenstatus statt, die von staatlicher Seite eindeutig mit dem Ziel praktiziert wurde, die Zahl der Rentenempfänger grundlegend zu reduzieren. Vie-len geringfügig Versehrten Kriegsbeschädigten wurde der Rechtsanspruch auf Ren-te in der Folge vollständig entzogen, bei anderen wurden die Ansprüche durch die einmalige Zahlung einer Geldsumme abgegolten. Mit dieser Änderung der ge-setzlichen Begutachtungsgrundlage schieden nach Robert W. Whalens statistischer Auswertung allein 800 000 Kriegsbeschädigte aus dem Kreis der Anspruchsbe-rechtigten aus86. Angesichts der extrem beschränkten finanziellen Ressourcen des Weimarer Staates - Mitte der 1920er Jahre wandte die Republik rund 30 Prozent ih-res- Etats allein für Rentenzahlungen an die verschiedenen Kriegsopfergruppen auf87 - waren sich alle machthabenden Parteien über die Legitimität eines solchen Ausschlußverfahrens einig. Was aus wirtschaftlicher Perspektive eine logische und rational nachvollziehbare Strategie der Kostensenkung darstellte, interpretierten die Vertreter der Kriegsbeschädigten als politischen Verrat. Ihre schon während des Krieges geäußerten schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet: Der

»Dank des Vaterlandes« erwies sich als verhandelbar und die noch während des Krieges versprochene >Rente auf Lebenszeit war aufkündbar.

Viele Kriegsbeschädigte deuteten die Untersuchungen, die im Zuge der »Uman-erkennung« notwendig wurden, als beschämenden Angriff auf ihre Invaliden-Iden-tität: Zum einen sahen sie sich durch den respektlosen und oftmals wohl auch

rabia-83 Vgl. dazu Vorwärts, Nr. 194,17.7.1918; sowie Vorwärts, Nr. 244,5.9.1918.

84 Vgl. dazu u.a. Die Versorgung und die soziale Fürsorge für Kriegsbeschädigte und Kriegs-hinterbliebene nach dem geltenden Reichsrecht, hrsg. von Oscar Weigert und Lothar Richter, Berlin 1921.

85 In Einzelfällen kam es sogar zur Korrektur von Rentenansprüchen, die noch auf Kriegs-beschädigungen aus dem deutsch-französischen Krieg beruhten. Vgl. dazu den Fall des 74jährigen kriegsbeschädigten Offiziers, der 1870 bei Saarbrücken eine schwere, ihn ver-stümmelnde Fußverletzung davongetragen hatte. Sein Protest gegen die 1924 erfolgte Kürzung der ihm laut Gesetz von 1906 auf Lebenszeit zustehenden Verstümmelungs-zulage von monatlich 75,- Mark auf 1,50 Mark und sein darauffolgender Antrag auf Er-höhung führten dazu, daß er erneut zur Begutachtung vorgeladen wurde. Diese Unter-suchung hatte zum Ergebnis, daß ihm die Verstümmelungszulage komplett gestrichen wurde. Vgl. den (nicht unterzeichneten) Beschwerdebrief vom August 1924 an das Ver-sorgungsgericht Wiesbaden, BArch, R 3901, Bü 8722.

86 Vgl. dazu Whalen, Bitter Wounds (wie Anm. 28), S. 156.

87 Vgl. dazu ebd., S. 157; sowie die Zahlen bei Hans Mälzer, Umfang und Probleme der in-neren Kriegslasten im Haushalt des Deutschen Reiches, Diss. Leipzig 1933, S. 20-44.

ten ärztlichen Umgang persönlich diskriminiert88. Zum andern aber verstärkte die im Zuge der Reparationszahlungen von staatlicher Seite notwendig gewordene fi-nanzielle Einschränkung der Invalidenversorgung bei ihnen das Gefühl einer ideell-moralischen Demütigung, hegten sie doch die Befürchtung, daß damit ihrem kör-perlichen Zustand - eben: kriegsbeschädigt zu sein - die ursprüngliche symbolische Bedeutung und damit auch deren historische Tragweite abgesprochen werden soll-te. Dieser Prozeß lief auf mehreren Ebenen ab: So hatte das neue Gesetz zur Beurtei-lung der Rentenberechtigung auch für die Kriegsbeschädigten die Kategorie der »Ge-wöhnung« eingeführt, ein Kriterium, das den Faktor Zeit und damit die Anpassung an die Behinderung stillschweigend voraussetzte und bereits im Kontext des zivilen Invaliden- und Sozialversicherungswesens Praxis war. Die Kriegsbeschädigten sa-hen sich in eine Falle gelockt: Gerade im Kontext der Berufsberatung von Kriegsin-validen hatten die Berater zwar immer wieder darauf hingewiesen, daß ohne regel-rechte und objektiv feststellbare Besserung des körperlichen Zustandes keine Kür-zungen der den Kriegsinvaliden zustehenden Rentenbezüge vorgenommen werden dürften. Auch die Bereitschaft, umzulernen und damit die Tatsache, daß der Invali-de unter Zuhilfenahme anInvali-derer als Invali-der bisher geläufigen Körperteile erfolgreich sei-nem Broterwerb nachgehen könnte, würde daran nichts ändern89. Doch die Praxis sah anders aus. Die persönlichen Bemühungen von Kriegsinvaliden um »Wiederer-tüchtigung«, ihre Bereitschaft zum Umlernen und ihre erfolgreiche Adaptation an Prothesen und Amputation wirkten sich entgegen allen Versprechungen für die mei-sten Betroffenen negativ aus, da die ärztlicherseits festgestellte »Gewöhnung« den Grad ihrer Erwerbsfähigkeit hob und damit in der Konsequenz den Rentenanspruch senkte90. Auch der eingangs vorgestellte Friedrich K. mußte diese Erfahrung machen.

Er war als Zwanzigjähriger im Juli 1914 zu einem Pionier-Bataillon eingezogen und im Oktober 1916 mit der Diagnose »Nervenleiden mit erheblicher Schwächung des Körpers und schwere[r] nervöse[r] Erkrankung« und einer Rente von 30 Prozent aus dem Dienst entlassen worden. Im Juni 1930 war ihm diese Rente komplett entzogen worden, da der begutachtende Arzt eine »ganz wesentliche Besserung« zu erkennen glaubte91. Gegen diesen Bescheid legte Maria K. zwar im Namen ihres Mannes Wi-derspruch ein. Doch hatten ihre detaillierten Schilderungen der ehelichen Verhält-nisse, der psychischen Zusammenbrüche und der Leidensgeschichte keinen Erfolg:

Am 14. Januar 1932 lehnte die Spruchkammer des Versorgungsgerichts Konstanz die Berufung gegen eine Streichung der Rente endgültig ab, da man »nicht zu der Über-zeugung« gekommen sei, »daß die heute noch zeitweise auftretenden hysterischen Er-scheinungen immer noch ihre Ursache in Kriegseinflüssen haben«92. Gerade das letz-tere Argument und damit die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der

Erfah-88 Vgl. dazu auch Beil, Zwischen Hoffnung (wie Anm. 36), S. 149.

89 Vgl. dazu die Amtlichen Mitteilungen der Brandenburgischen Kriegsbeschädigtenfür-sorge, Nr. 6,16.9.1916.

90 Auch häuften sich in den 1920er Jahren die Beschwerden kriegsinvalider