Betonlingsfunktion im Türkischen
Von Jin Krämsky, Prag
Die Frage der türkischen Betonung hat in der letzten Zeit
wieder die Aufmerksamkeit der Forscher erweckt, wie das
die Polemik in der ZDMG*) bezeugt. Doch nicht einmal hat
diese Polemik viel Licht in dieses schwierige Problem ge¬
tragen, obwohl sie viele Anregungen gebracht hat. Dessen
Grund sehe ich darin, daß es bisher keinen einheitlichen
Maßstab dafür gab, wie die verschiedenen Bestandteile und
verschiedene mit der Betonung verbundene Umstände zu be¬
urteilen sind. Diesen einheitlichen Maßstab, diesen festen
Grund, an welchen man sich stützen könnte, gibt uns die
Beiuteilung der Betonung vom Standpunkte der funktio¬
nellen Sprachwissenschaft .
Einige Grammatiker, wie Benzing und Grönbech, nähern
sich diesem Standpunkt, aber halten sich daran nicht folge¬
richtig : auf einer Seite sprechen sie über die phonologische
Funktion der Betonung, auf der anderen Seite über die Be¬
tonungsbestandteile vom echt phonetischen Standpunkt. In
dieser Studie geht es uns also um die Feststellung, was fih"
eine Funktion die Betonung im Türkischen hat und von
diesem Standpunkt aus wollen wir auch die bisher erreichten
Ergebnisse verwerten.
Die meisten türkischen Grammatiken beschränken sich
auf die Feststellung, daß die türkische Betonung auf der
1) H. W. Duda, Zu Björn Collinders osmanisch-türlcischen
Lautstudien, ZDMG 94, S. 86f.; K. Gbönbech, Der Alczent im
Türliisciien und Mongolischen, ebd., S. 375f. ; J. Benzino, Noch
einmal die Frage der Betonung im Türltischen, ZDMG 95, S. 300f. ;
B. CoLLiNDEE, Gibt es im Türkischen keinen Akzent ? Ebd.,
S. 305 f.
J. KkAmsky, Betonungsfunktion im Türkisclien 283
letzten Silbe des Wortes raht. Nichtsdestoweniger beachteten
schon früher einige Grammatiker den besonderen Charakter
der türkischen Betonung*). So z. B. behauptet W. Radloff
(Phonetik der nördlichen Türksprachen, S. 97), daß der
Wortton in türkischen Sprachen nur als Mittel zur Milde¬
rung der Monotonie in einer Reihe von Silben und zur
Äußerang des Zusammenhanges zwischen agglutinierenden
Reihen von Silben existiert. Jeder Silbenkomplex ist zwischen
zwei Tonsilben geschlossen, wobei die erste (Stamm-)SUbe
die halb aufsteigende Tonbewegung hat, während auf der
Endsilbe der volle fallende Ton raht.
KÜkos (Janua linguae ottomanicae, Budapest 1905)
unterscheidet zwischen dem Drackakzent (stress accent) imd
dem Tonakzent (pitch accent). Der Drackakzent raht ohne
Ausnahme auf der ersten Silbe des Wortes, der Tonakzent
auf einer der letzten Silben des Wortes, laut Forderangen der
Euphonie oder zur Hervorhebung eines gewissen Gedankens.
Die Betonung ist gewöhnlich so gestellt, daß die polysylla-
bische Periode in gewissen rhythmischen Grappen geordnet ist.
Wichtig ist die Ansicht M. Hobtens (Kleine türkische
Sprachlehre, 1916). Im Türkischen, das mit Hilfe von
Suffixen gebogen wird, ist jeder Teil der Inflexion für den
Wortsinn von Bedeutung. Deshalb kommt Hobten zum
Schluß, daß der Akzent musikalisch, das heißt in der Tonhöbe
bestehend, sein muß. Er schwebt gleichmäßig über allen
Silben; keine wird vernachlässigt, aber das Wortende wird
ein wenig stärker hervorgehoben. Zum gleichen Ergebnis
kommt G. Weil (Grammatik der osmanisch-türkischen
Sprache, Berlin 1917), wenn er sagt, daß ,,der Ton über alle
Silben des Wortes gleichmäßig einherschwebt und auf der
letzten sanft ausruht".
1) Die eingehende Wiedergabe der Ansichten der einzelnen
Autoren kann man bei G. Raquette, The Accent Problem in
Turkish, Lund 1927 (Lunds Universitets Arsskrift. N. F. Avd. 1.
Bd. 24, Nr. 4), bzw. in dem schon zitierten Aufsatz K. Grönbechs
(Der Akzent im Türkischen und Mongolischen, S. 375—378)
finden.
19*
284 J. KIbAmsky, Betonungsfunktion im Türkischen
Am merkwürdigsten ist aber die Arbeit G. Raquettes,
der sich vorbehaltlos der musikalischen Betonung annimmt.
Seine Arbeit ist sehr anregungsvoll und vom phonetischen
Standpunkt aus ausgezeichnet, gleichwohl aber beachtet sie
die funktionelle Seite des Problems nicht, ebenso wie die um¬
fangreiche Betrachtung B. Collinders (Reichstürkische
Lautstudien. Uppsala Universitets Arsskrift 1939, Uppsala-
Leipzig 1939)1).
Eine neue Ansicht bringt der Aufsatz K. Grönbechs
(Der Akzent im Türkischen und Mongolischen), worin der
Autor behauptet, daß Türkisch eigentlich keine Betonung
besäße*). Insofern die Betonung vorkommt, stehe sie in
keiner Beziehung zu der Funktion, sondern sei von der Zahl
der Silben und von dem Silbenbau der benachbarten Worte
abhängig. Mit Grönbech polemisieren Johannes Benzing
und B. Collinder (in ZDMG. 95), die besonders die wort-
bedeutungsdifferenzierende Funktion der türkischen Be¬
tonung hervorheben, während Grönbech nur die emotionelle
Funktion zuläßt.
Die von mir erwähnten Forscher heben zwar den be¬
sonderen Charakter der türkischen Betonung hervor, worin
die Tonhöhe die dominierende Stellung hat, aber nichtsdesto¬
weniger kann man schwer verstehen, was sie sich unter dem
Begriff ,, Akzent" vorstellen.
Was ist eigentlich der Akzent ? Alfred Schmitt (Akzent
und Diphthongierung, Heidelberg 1931, S. 5) definiert den
Akzent als Energiemaximum. Dieses Energiemaximum
ist besonders durch folgende Elemente gekennzeichnet : Laut¬
heit, Tonhöhe und Dauer'). Je nachdem welches Element
vorherrscht, kann man von einem expiratorischen, musika¬
lischen und Dauerakzent sprechen. Schmitt ersetzt den
1) Ausführhch berichtet über dieses Bucli W. Düda in ZDMG.
94, S. 86f. Düda stimmt lücht mit Collinders Überschätzung
des Druckakzents im Türldschen (vgl. S. 104) überein.
2) Unter Akzent versteht er den phonologischen Akzent.
3) Van Ginneken unterscheidet fünf Elemente: intenaitd,
hauteur, quantiti, timbre und articulation.
J. KrAmsky, Betonungsfunktion im Türkischen 285
Ausdruck „expiratorischer Akzent" durch den Ausdruck
„Intensitätsakzent" und ordnet diesen Akzent den zwei er¬
wähnten Akzentformen über, denn alle drei Elemente, In¬
tensität, Tonhöhe und Dauer sind nur Folgewirkungen des
Akzents, dem entgegen die Intensitätserhöhung in allen be¬
teiligten Funktionen als Akzent an sich steht. Der ent¬
scheidende Unterschied zwischen verschiedenen Arten des
Akzents liegt nicht in den Mitteln, sondern in dem Akzent -
grad, in dem Maße der Energiesteigerung und in der Rolle,
die der Akzent in dem Worte spielt. Ferner setzt sich Schmitt
mit dem Verhältnis zwischen verschiedenen Bestandteilen
des Akzents auseinander, besonders zwischen Intensität,
Tonhöhe und Quantität, und kommt zum Ergebnis, daß
1. der dynamische Akzent von der Höhe des musikalischen
Tones unabhängig ist, und 2. Akzent und Quantität zwei
nebeneinander unabhängig stehende Größen darstellen*).
Schmitt betont also die Rolle der Betonung innerhalb
des Wortes. Noch wichtiger ist dieser Standpunkt in der
Frage der sog. musikalischen Betonung. Auch dieses
Problem muß vom Standpunkte der Phonetik und zugleich
der Phonologie betrachtet werden. Von den Phonetikern
nimmt nur Schmitt diesen meiner Meinung nach einzig
richtigen Gesichtspunkt ein. Auf S. 34 des Buches ,, Akzent
und Diphthongierung" schreibt er: ,,Bei den Tonhöhenver¬
hältnissen z. B. ist zu unterscheiden, ob ein bestimmter Ton
bzw. Tonfall selbständiges, wortkonstituierendes Element ist,
wie im Chinesischen, ob er durch die Druckverhältnisse her¬
vorgerufen ist, z. B. die starken musikalischen Hervor¬
hebungen unserer hochdeutschen Akzentsilben, oder ob er
von der Prosodie bedingt ist, wie z. B. die Tonbewegung
1) Gegen Trubetzkoys Behauptung, daß es nur plionolo-
gischen Gegensatz ,, maximal-intensiv : minimal-intensiv" gebe,
die aber phonetisch in einer Sprache durch den Gegensatz ,,lang :
kurz", in der anderen durch den Gegensatz ,, betont : unbetont"
realisiert wird; mit anderen Worten, in der Sprache kann es nur
ein unterordnendes, wortstrukturelles Prinzip geben: Intensität
(d. h. expiratorischen Akzent) oder Qiiantität.
286 J. KbImsky, Betonungsfunktion im Türkisclien
der Frage. Faßt man dagegen diese drei Momente ohne
Unterschied in eins zusammen, vielleicht imter den Namen
des „musikalischen Akzents", so müssen sich falsche Folge¬
rungen ergeben*)." Von musikalischer Betonung darf man
nur in dem FaUe sprechen, wo die Tonhöhenveränderung,
d. h. der Gegensatz ,, Hochton: Tiefton" eine phonolo¬
gische oder syntagmatologische Gültigkeit hat.
Raquette beweist das Dasein der musikaUschen Be¬
tonung besonders in den FäUen, wo, seiner Meinung nach,
die Wörter nur durch Veränderung der steigenden musika¬
lischen Betonung in die faUende unterschieden werden : z. B.
evde = in dem Hause; evde = auch das Haus; yazmä = das
Schreiben; yazmä = schreibe nicht*)! Raquette betont die
1) Eine ähnliche Ansicht spricht auch Heinrich Junker aus,
wie H. W. Duda (Zu B. Collinders osmaiusch-türldschen Laut-
studien, ZDMG. 94, S. 96) zitiert: ,,Denn nicht was da ist, ent¬
scheidet in der Sprache, sondern : welchem von dem Vorhandenen
Beachtung geschenkt wird, was relevant ist! — Töne sind
überall in der Sprache da. In afrikanischen Sprachen und im
Chinesischen spielen sie aber eine ausgezeichnete Bolle; daher
.Tonsprachen'. Es gibt auch keine Sprache ohne Lautheits¬
abstufung (= Druckakzent). Aber sie spielt im Chinesischen und
Bantu eine andere Bolle als im Deutschen oder Litauischen. Mit
anderen Worten: Man kann mit einer Filmaufnahme oder einer
Oszillographenaufzeichnung auch im Osmanischen nur feststellen,
ob eine Tonerhöhung und welche, ob eine Lautheitszunahme und
welche an bestimmter Stelle des lOanggefüges stattgefunden hat,
nicht aber welches die Bolle ist, die beide Faktoren (neben Farbe
und Dauer, sowie Spannung) für den Aufbau der Sprachgestalt
als Sprach- Gestalt spielen. Denn Sprache ist mehr als ein bloßes
Acusticum."
2) Ähnlich hebt auch B. Collinder (Gibt es im Türldschen
keinen Akzent ?) stark die Tonbewegimg hervor und auf S. 308
schreibt er: ,,Daß die Tonbewegung, um mit Dr. Grönbech zu
reden, ,, phonologisch relevant" ist, ergibt sich m. E. unzweideutig aus solchen Fällen wie z.B. türküm, das mit steigender Tonbewegung
„mein Türke", mit fallender Tonbewegung dagegen ,,ich bin ein
Türke" bedeutet." Collinder bezeichnet nicht die Betonung,
aber gewiß meint er folgende Bezeichnung: türküm — türküm;
phonologisch relevant würde aber die Veränderung des steigenden
Tones in den fallenden Ton nur in diesem Falle : türküm — türküm.
J. KaAss^v, BotunuiigHfunktion im Türkischen 287
beiden Süben, was aber der ausnahmslosen Regel wider¬
spricht, wonach in einem Worte nur eine phonologische Be¬
tonimg sein darfi). Es gibt keinen Grund zum Voraussetzen
zweier gleichgültiger Akzente wie das Raquette tut*). Im
ersten FaUe {^vde) hat die erste Silbe einen (nichtphono-
logischen) Nebenakzent wie jede Stammsübe, im anderen
Falle (evde) ist die zweite SUbe ganz unbetont. Richtig muß
man das durch die Betonung differenzierte Wortpaar folgend
bezeichnen: evde — evde; yazmd — yazma. In diesem Falle
haben beide Wörter zwei differenzierende Merkmale: a) Die
Verschiebung der Akzentstelle von der letzten auf die vor¬
letzte, d. h. in unserem Falle auf die erste SUbe, b) die Ver¬
änderung des steigenden Tones in den faUenden (in ver¬
schiedenen Prosodemen. d. h. Silben!). Von diesen zwei
differenzierenden Merkmalen ist die Akzentverschiebung
phonologisch relevant. Der Tonbestandteil büdet im Tür¬
kischen kein wortkonstituierendes Element, obwohl er sebr
stark entwickelt ist. Die Höhenunterschiede spielen eine
untergeordnete RoUe, denn sie sind nicht phonologische,
sondem nur extraphonologische Varianten. Der Gegensatz
,, Hochton : Tiefton" hat im Türkischen weder eine wort-
phonologische, noch eine syntagmatologische Funktion, wie
auch R. Jakoöson') (Die Betonung und ihre Rolle in der
1) Ebenfalls kann man diesen Fall nicht mit dem schwedischen
Wortpaar ändin = Geist — ändin = Ente, vergleichen, wie das
Raquette tut, denn im Falle der türkischen Wörter handelt es
sich um eine morphologische Betonung, bei den schwedischen
Wörtern dagegen um eine phonologische Betonung. Übrigens, gehe
es im Türkischen um die melodische Betonung wie im Schwedi¬
schen, Norwegischen und anderen Spraclien, fänden wir sicher auch
im Türkischen einsilbige Wörter, bei denen die Tonhöhe eine phono¬
logische, d. h. wortbedeutungsdiSerenzierende Gültigkeit besäße.
2) Auch B. Collinder (Reichstürkische Lautstpdien, S. 54)
führt aus: ,,in einigen Fällen habe ich in einem Wort zwei Hoch¬
töne gehört . Daß in solchen Fällen die beiden Hochtonsilben
genau dieselbe maximale Tonhöhe gehabt hätten, wage ich nicht
zu behaupten."
3) Jakobson, als auch andere Phonologen, soweit sie vom
Türkischen sprechen, hält die türkische Betonung für fest.
288 J. KbAmsky, Betonungafunktion im Türkischen
Wort- und Syntagmaphonologie, TCLP. 4, S. 164f.) be¬
stätigt. Die türkische Betonung ist also morphologisch,
d. h. mit der Betonung können Wörter unterschieden werden,
die derselben morphologischen Familie angehöreni). Außer
der schon erwähnten Fälle des Gegensatzes ,, betontes Loka¬
tivsuffix -de, -da und betontes Suffix des deverbativen Haupt¬
wortes -me, -mxi" gegenüber den ,, unbetonten Partikeln -de,
-da') und dem unbetonten negativen Imperativsuffix -im
(bzw. im, üm, um)" wechselt die Betonung ihre Stellung da¬
nach, ob es sich um das Suffix der 1. Person der Einzahl des
zueignenden Fürwortes oder um das Suffix der 1. Person der
Einzahl der Gegenwart des Zeitwortes ,,sein" handelt, z. B.
tüccarim = mein Kaufmann — tüccdrim = ich bin ein
Kaufmann.
In phonologischer Hinsicht ist die Verteilung des Druckes
und der Höhe bei der Betonung eine Nebenfrage, obwohl
dieser Frage fast alle Grammatiker ihr Hauptaugenmerk
widmen. Nur ein paar Bemerkungen: es ist nicht richtig,
wenn einige Forscher (besonders Collinder) beide Arten
1. Einzige Anzeiclien der phonologisciien Gültigkeit der Be¬
tonung sind bei den Wörtern arttk und hayir vorhanden, die
Benzing ausführt, drtik = nunmehr, endlich — artik = übrig
geblieben, Überbleibsel, Rest. Bei diesem Worte könnten wir in
Hinsicht auf die verwandte Bedeutung des Wortes auch die mor¬
phologische Funktion der Betonung zulassen. Schwierig ist die
Erklärung des Betonungswechsels bei Wörtern häyir = nein —
hayir = die Güte. Nichtsdestoweniger ist das Vorkommen des
phonologischen Gegensatzes nur bei einem Paar Wörter ver¬
dächtig. Vielleicht darf man das Wort hdytr = nein — in Hin¬
sicht auf die Kombination der Laute yt — als oinsilbig auffassen.
2) Man könnte einwenden, daß es sich in diesem Falle um
ein Enklitikon handle, das immer unbetont und selbständig ist.
Läßt man die Frage beiseite, ob wir uns in aktuahsierter Sprache
der Funktion des Enklitikons bewußt sind, dann kann man im
Falle der Partikel de, da vermuten, daß die Funktion dieses
Wortes als eines Enklitikons durch die Homonymität mit dem
Dativsuffix verwischt ist und folglich als Bestandteil des Wortes,
zu dem sie gehört, gefühlt wird. Aber auch wenn wir diese Enkli¬
tika ausschließen, gibt es keinen Zweifel darüber, daß es sich in
anderen Fällen um Suffixe handelt.
J. KbAhsky, Betonungsfunktion im Türkischen 28&
der Betonung zu viel absondern und nicht feststellen, in
welchem gegenseitigen Verhältnis die Intensität und die Ton¬
höhe stehen. In mehrsilbigen Wörtern setzen die Gramma¬
tiker den Druckakzent fast immer auf die erste Sübe wie
in Fällen, wo mit diesem Druckakzent der melodische Akzent
zusammenfließt, sowie auch in Fällen, wo der melodische
Akzent auf einer anderen Silbe ruht. Dieser Druckakzent
ist tatsächlich für eine Nebenbetonung zu halten, die keine
phonologische Funktion besitzt. Ich kann nicht der Ansicht
zustimmen, als ob die Hauptbetonung mii in dem ,, Hochton"
liege und als ob es bei ihr keinen Druckakzent gebe. Meiner
subjektiven Beobachtung nach enthält jede türkische Be¬
tonung drei, bei aufmerksamem Anhören wahrnehmbare
Elemente, nämlich Intensität, Höhe und Quantität. Nur die
exjierimentale Forschung kann uns zeigen, in welchem Maße
meine Voraussetzimg richtig ist, welche eigentlich die Be¬
ständteile der türkischen Betonung sind und in welchem
Maße sie in einzelnen Betonungen vertreten sind. Es scheint
(vgl. W. Duda, ZDMG. 94, S. 94), daß die Unterschiede in
der subjektiven Apperzeption der Betonung im Osmanischen
darauf weisen, daß diese Sprache mit alternierender Gleich¬
gültigkeit der Intensität und der Tonabsteigerung arbeiten.
Vom funktionellen Standpunkt aus hat aber dieses Problem
keine entscheidende Wichtigkeit. Es ist nicht phonologisch
relevant, ob die Hauptbetonung nur aus einer gewissen Ton¬
bewegung oder aus Tonbewegung und Druck besteht ; phono¬
logisch relevant ist nur die Stellungsveränderung der Be¬
tonung — die türkische Betonung ist morphologisch^).
1) Eben in den Fällen, wo durch die StellungsVeränderung der
Betonung Wörter differenziert sind, hält Duda den Druckakzent
für wichtig (ZDMG 94, S. 104): „Bei der Negations- und Frage¬
partikel, bei der 1. Person, beim Lokativ und dem Enklitikon
de, da, bei dir im tatsächhchen oder virtuellen Auftreten scheint
mir der Druckakzent nicht ohne Belang, im GegenteU. Denn
im Osmanischen bringen die einzelnen Faktoren des Akzents
nicht etwa nur eigene Werte seehscher Kundgabe zum Ausdruck;
sie besitzen vielmehr — und dies trifft besonders auch auf die
Lautheitsabstufung zu — eine morphologische Ingerenz."
2 0
290 J. KrAmsky, Betonungsfunktion im Türkischen
Die Akzentverschiebimg kommt auch in zahlreichen
Fällen aus, wo diese nicht ganze Wörter, sondem nur gewisse
Teüe des Wortes differenziert, z. B. : Aorist : severim, seversin
usw. severler; vemein. Aorist: sevmem, sevmezsin usw. —
sevmezler; Aorist des Perfekts (bestimmte Form): severdim
usw. — severUrdi ; vemein. Aorist des Perfekts (bestimmt) :
aevermedim — severmelerdi; Aorist des Perfekts (unbe¬
stimmt): severmisim — severlermiä; Präsens: semyorum^) —
seviyorldr; Imperfekt: seviyördum — seviyorlärdi ; Vernein.
Imperfekt: sevmeyordum — sevmeyorldrdi; Perfekt: sevdim
— sevdiniz — sevdiler; Narrativ: sevmiäim — sevmiSler;
Futurum: seveceyim — seveceksin — sevecekler; Necessi-
tativ: sevmeliyim — sevmeliler; Optativ: seveyim — seveler;
Konditional: sevsem — sevseler; Imperativ: sevstn — seviniz
— sevsinler. Die Akzentverschiebung wird nach Raquette
auch durch das Ableitungssuffix der denominalen Zeitwörter
-a (-e, -ya), und durch das Suffix der Kausativa -ar (nicht
aber der entsprechenden -ir, -ür) verursacht. In manchen
Fällen ist aber die Akzentverschiebung unsicher und die
Grammatiker gehen hierin in ihren Ansichten auseinander.
Die Betonung der Lehnwörter, falls sie den Betonungs¬
gesetzen der Sprache nicht widerspricht, aus der sie über¬
nommen sind, ruht auf der letzten Sübe. Sofern die Lehn¬
wörter die fremde Betonung behalten, raht diese meistens
auf der vorletzten Sübe (z. B. efendi, tiätro, vdli usw.). Treten
aber zu diesen Wörtern türkische Affixe zu, dann werden sie
türkisiert und bekommen die türkische, d. h. auf der letzten
Sübe ruhende Betonung.
Was für eine Funktion hat denn die türkische Betonung ?
Wir haben schon von der wortbedeutungsdifferenzierenden
Funktion der türkischen Betonung gesprochen. Im ganzen
ist aber diese funktioneUe Belastung der türkischen Betonung
■ 1) Diesen Akzent geben Nemeth (Türkische Grammatik,
Berlin 1916, S. 76) und Rä'if Fü'äd {'Otmänly türkjjesinde vurgu
in Türk Derneji I., 1327/1909, S. 56). Die meisten Autoren be¬
tonen aber seviyorum. Nach Duda hat -i- den Druckakzent,
-yor den Hochakzent.
J. KeAmsky, Betonungafunktion im Türkisclien 291
gering, nicht produktiv, denn sie bleibt nur auf eine geringe
Anzahl der FäUe beschränkt. Die türkische Betonung hat
aber auch, und zwar in vorwiegender Mehrheit der FäUe, eine
andere wichtige RoUe, nämUch die Funktion der Begrenzung,
IsoUerung der Wortkomplexe. Die türkische Betonung ruht
in den meisten FäUen auf der letzten Sübe der Bedeutungs¬
einheit und so bezeiclmet sie, mit welcher Sübe das Wort
beginnt oder endet. Dieser begrenzenden Funktion wider¬
spricht weder die morphologische Funktion der Betonung, wo
die Betonung auf eine andere als die letzte Wortsübe ver¬
schoben wird. Die Akzentverschiebung tritt nämlich vor¬
wiegend bei Formen des Zeitwortes auf. Weü das Zeitwort
gewöhnlich am Satzende steht, kann man (vgl. auch E. Poli-
VANOV: Zur Frage der Betonungsfunktionen, TCLP., VI.,
S. 79f.) die Akzentverschiebung dadurch erklären, daß die
Anwesenheit des Akzents auf der letzten Sübe des letzten
Wortes des Satzes zur Unterscheidung der Worteinheit nicht
nötig ist, denn das Wortende mit dem Satzende zusammen¬
fällt; weü keine anderen Süben nachfolgen, ist keine End¬
betonung nötig, die das Wortende signalisieren soUte. Mit
dem SteUen des Zeitwortes am Satzende hört die Betonung
auf, eine abgrenzende Funkti9n zu besitzen und kann zu
einem anderen Zweck ausgenutzt werden, nämlich zur mor¬
phologischen Differenzierung.
Benzing (ZDMG. 95, S. 300f.) weist auf eine andere
Funktion des türkischen Akzents hin, nämUch auf die st ill -
differenzierende Funktion. Die Veränderung der Ak¬
zentstelle verleiht dem Worte eine emotioneUe, affektive Fär¬
bung i). Die Akzentverschiebung auf eine andere Sübe ver¬
leibt dem Worte einen spöttischen, unhöfUchen, ja sogar be¬
leidigenden Charakter. So degil bedeutet ,,i8t nicht", degil
„nicht . . . sondern", z. B. band degil, 6na parayi verdi = er
gab das Geld nicht mir, sondem ihm. Andere Beispiele;
nicin gelmedinizi = wamm sind Sie nicht gekommen? —
niiin gelmediniz ? = wieso sind Sie denn nicht gekommen ?
1) N£meth nennt das „affektive Tonverschiebung".
292 J. BjiImsky, Betonungsfunktion im Türkischen
Was fällt Ihnen ein nicht zu kommen ? — nereye gidiyörsun
= wo gehst du hin — nereye gidiyörsun = wo rennst denn
du schon wieder hin. Ähnlich erklärt Benzing auch die
Akzentverschiebung bei einigen Formen des Zeitwortes, be¬
sonders bei der Imperativmehrzahl und beim Optativ. Merken
wir aber, daß auch in den von Benzing angeführten Fällen
es sich nur um die Veränderung des melodischen Akzents
handelt, wobei der Druckakzent auf der gleichen, d. h. in
meisten Fällen auf der ersten Wortsilbe bleibt. Diese Tat¬
sache führt uns zum Schluß, daß die sogenannte melodische
Betonung im Türkischen für ein phonologisch irrelevantes,
nur emotionelles Mittel des Ausdruckes zu betrachten ist.
Außer der Hauptbetonung hat das Türkische, wie schon
gesagt, eine Nebenbetonung, die auf der Stammsilbe ausruht
und ist so stärker, je länger das Wort ist, d. h. je größer die
Zahl der dem Stamme angefügten Suffixe ist^). Diese Neben¬
betonung entspricht aber nicht der sog. ,, etymologischen"
Nebenbetonung der Sprachen mit dem morphologischen
Hauptakzent, wie z. B. das Deutsche ist. Im Türkischen ist
die Stelle der Nebenbetonung automatisch geregelt und die
Nebenbetonung hat keine distinktive Kraft.
Während die Funktion der Hauptbetonung die Signali¬
sierung des Endes der Worteinheit ist, gibt die Nebenbetonung
ihren Anfang an. Außerdem bedeutet die SteUe der Neben¬
betonung die Stelle der phonemischen Differenzierung, sie
betont die Stammsilbe als Trägerin des Vokals, nach welchem
sich die Vokale der anderen Silben nach dem Gesetze der
Vokalharmonie richten. So hat die Nebenbetonung nicht
minder wichtige Funktion als die Hauptbetonung und des¬
halb um so berechtigter ist die Behauptung Raquettes und
anderer Autoren, daß die auf der ersten Wortsilbe ruhende
Betonung primär sei. Im alten und konservativen Osttür¬
kischen erscheint ganz deutUch die Wurzelbetonung. Kell-
GBEN (ZDMG. 10, S. 812) hält es für undenkbar, daß eine
1) Besonders stark ist diese Betonung, wenn zur Zeitwort -
Wurzel das negative Suffix -ma, -me herantritt, z. B. gör-me-dtniz.
J. Ksixsjci, Betonungsfunktion im Türkischen 293
Sprache, die immer im Vordergnmd die Wurzelsilbe stellt
und Wörter mit Hüfe von Suffixen büdet, die Betonung ur¬
sprünglich nicht bereits auf dieser ersten Sübe hätte, wie das
bisher im Magyarischen und Finnischen ist. Während im
Türkischen das Syntagma zwei Gipfeln hat,
Hauptgipfel : Hauptbetonung
-l.
Nebengipfel: Nebenbetonung, phomemische Differenzierung
im Magyarischen und Finnischen hat es dagegen nur einen
Gipfel:
Hauptbetonung, phonemische Differenzierung
Das Problem der primären und sekundären Betonung
greift aber schon in die Sphäre der historischen Sprachwissen¬
schaft ein; die Aufgabe unserer Betrachtung war, die Funk¬
tion der türkischen Betonung vom echt synchronischen
Standjmnkt festzustellen.
2 0*
Zur Pflege des iranischen Schrifttums im Mittelalter
Von J. C. Tavadia, Hamburg
Dem Andenken Hans Beichelts
1. Einleitendes 295
2. Zur Umschrift 296
3. Der erste Kolophon in K 1 297
4. Übersetzung 297
5. Sprachliche Anmerkungen mit einem Exkurs über mp.
Papyri bei Anm. 2 298
6. Sachlicher Kommentar 302
7. Datum der Parsen-Einwanderung 303
8. Die Priester-Schule Neryosang's 304
9. Verfall der Schule Neryosang's und des Pahlavi-Studiums 307
10. Wenden nach Iran zur Belehrung 308
11. Parsen-Kolonie in Uö, Sind-Panjab 309
12. Die anderen beiden Kolophone in Kl 312
13. Das Datum des zweiten Schreibers R 313
14. Zu den Namen (und znjahiSn in Mx 2. 66) 315
15. Zu den anderen Kolophonen des dritten Schreibers M . . 317
16. Die zweite Gruppe der Yasna-Handschriften 320
17. Die Einleitung in Mf 4 in gekürzter Übersetzung ... 321
18. Die Sprache dieser Einleitung und die des letzten Ab¬
schreibers 323
19. Neue Übersetzung des geschichtlichen Teiles 326
20. Sprachliche und sachUche Begründung 326
21. Zur Gestaltung des Awesta-Pahlavi-Yasna 332
22. Zu den politisch-geographischen Angaben 335
Die äußere Veranlassung zu dieser Arbeit gab mir die vor
kurzem erschienene Faksimile-Ausgabe der Awesta-Pahlavi-
Handschrift K 1, die ich an anderer Stelle anzeige, s. Gött.
Gel. Anz. 204, S. 416£f. (Okt. 1942). Die mit den abgekürzten
Titeln angeführten Werke sind wohl allgemein bekannt, aber
eins muß ich ausführlich angeben: „Studios" meint Studies
in Parsi History by S. H. Hodivala, Bombay 1920.