Gibt es im Türltischen keinen Akzent?
Von Björn Collinder, Upsala
Der hervorragende Erforscher der türkischen Sprachen,
Dr. K. GR0NBECH hat im 94. Band dieser Zeitschrift unter
der Überschrift „Der Akzent im Türkischen und Mongoh¬
schen" einige Beobachtungen und Vermutungen über den
reichstürkischen Akzent veröffentlicht. Dr. Grönbech hofft
dadurch ,,eine brauchbare Grundlage für eine osmanische,
vielleicht auch eine gemeintürkische Akzentlehre geschaffen
zu haben". Meines Erachtens ist diese Hoffnung nicht be¬
rechtigt. Dasjenige, was Dr. Grönbech über den Druckakzent
im Reichstürkischen äußert, ist nicht neu, und seine Ver¬
mutungen über den musikalischen Akzent sind auffallend
unklar und inkonsequent.
Über den Druckakzent äußert Dr. Grönbech: „In türki¬
schen Wörtern kann man im allgemeinen den Druck wechseln
lassen, ohne daß das Wort deshalb den Türken selbst fremd¬
artig oder nur andersartig anmutet, vielleicht ohne daß sie es
überhaupt bemerken. Der Akzent ist also, wie bei uns die
Tonbewegung, zunächst ein frei handhabbares emotionelles
Ausdrucksmittel. Die Druckunterschiede sind da, und
obwohl sie in sehr vielen türkischen Wörtern eine bloße Be¬
gleiterscheinung^) sind, . Zusammenfassend kann man
also sagen, daß der türkische Druckakzent phonologisch be¬
langlos^), oder mit anderen Worten frei ist."
Mit dem Angeführten vergleiche man folgende Äußerung
in meiner von Dr. Grönbech beanstandeten Arbeit ,, Reichs¬
türkische Lautstudien" (S. 78): ,,Die Druckverteilung spielt
im Reichstürkischen an sich keine Rolle für die Unterschei-
1) Von mir kursiviert, B. Collinder.
306 B. Collinder, Gibt es im Türlcischen keinen Akzent?
dung sonst gleichlautender Wörter. Die intersyllabischen In¬
tensitätsunterschiede, die überhaupt verhältnismäßig
klein sind, werden ja teils durch den Tonverlauf, teils durch
die Silbenquantität, teils schließlich subsidiär durch die
Vokalqualität geregelt und sind insofern lediglich als eine für
die Verständigung belanglose Begleiterscheinung^) zu betrach¬
ten. — Unter solchen Umständen nimmt es gar nicht wunder,
daß die berufensten Kenner des Türkischen Hauptdruck
und Hochton unter einen Hut gebracht haben. Mit Rücksicht
auf die grammatisch-lexikalische Belanglosigkeit^) der Druck¬
verteilung im Reichstürkischen kann man sogar sagen, daß
sich daraus kein Übelstand ergibt."
Es sei nur noch bemerkt, daß der Terminus phonolo¬
gisch — den ich grundsätzlich vermeide — bei Dr. Gron-
bkch hier genau dasselbe bedeutet wie bei mir der Ausdruck
grammatisch-lexikalisch.
Wie ich angedeutet habe (Lautstudien 64), sind die In¬
tensitätsapperzeptionen ihrer Natur nach subjektiv. Ich er¬
laube mir in diesem Zusammenhang auf meinen Aufsatz „In¬
tensität und Quantität" (Neuphilologische Mitteilungen 38,
Helsingfors 1937) zu verweisen. Es mag sein, daß ich bei der
subjektiven Feststellung des Hauptdruckes mich durch die
Silbenquantität habe irreführen lassen. Mir ist es darum zu
tun gewesen, ausfindig zu machen, welche Faktoren für meine
Intensitätsapperzeptionen maßgebend gewesen sind. Es hat
sich herausgestellt, daß dabei auch der Hochton eine Rolle
spielt: wenn die erste Silbe den Hochton trägt, trägt sie nach
meiner Auffassung auch den Hauptdruck, unabhängig von
der Silbenquantität.
Bei der Auseinandersetzung mit Dr. Gr0nbkch könnte ich
also den Druckakzent außer acht lassen, wenn ich überzeugt
wäre, daß Dr. Gr0nbkch die Wortmelodie und die Druck¬
verteilung auseinanderhält. Aus der Darstellung Dr. Gr0n-
bech's ergibt es sich leider nicht, was er unter „Betonung"
versteht, wenn er z. B. äußert: „Ich betrachte es also als
1) Von mir hier kursiviert, B. Colundeb.
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B. Collinder, Gibt es im Türlcischen keinen Akzent? 307
verfehlt, für die Betonung von sonra feinsinnige Regeln her¬
ausklügeln zu wollen, etwa so, daß es als Adverb anfangs¬
betont, als Postposition endbetont wäre. Die Betonung
steht mit der Funktion in keinerlei Verbindung, sondern ist
lediglich von Silbenzahl und Silbenaufbau der umgebenden
Wörter abhängig."
Daß Dr. Grönbech hier unter ,, Betonung" die Druck¬
verteilung versteht, scheint sich daraus zu ergeben, daß er
erst nach einer detaillierten Besprechung der türkischen
Akzentverhältnisse die Vermutung ausspricht, daß es sich
letzten Endes um die Wortmelodie handelt: „Ich glaube, die
Erklärung ist in der Tonbewegung des Türkischen zu suchen."
Diese Vermutung kommt mir recht überflüssig vor. Ich habe
nämlich sämtliche einschlägige Erscheinungen unter der
Überschrift ,,Die intersyllabische Tonhöhenbewegung" be¬
handelt. Über sonra habe ich geäußert (Lautstudien 37):
,,Das Adverb sonra , nachher' ist barytoniert *), aber
dasselbe Wort als Postposition in der Bedeutung ,nach' heißt
sonrä, sönra (vgl. Bonelli 369)." Meine Äußerung besagt, daß
die Postposition sonra nach meinen Beobachtungen den
Hauptdruck bald auf der ersten, bald auf der zweiten Silbe
trägt, während dagegen der Hochton durchgehends auf der
zweiten Silbe ruht. Wenn nun Dr. Grönbech gegen mich
geltend machen will, daß es sich nicht um die Druckverteilung,
sondern um die Tonbewegung handelt, schlägt er offene Türen
ein. Der Umstand, daß ich in bezug auf die Akzentuierung
türkischer Wörter in allem Wesentlichen zu denselben Er¬
gebnissen gelangt bin wie Bonelli, Pröhle und Nämeth —
ohne während meiner Feldarbeit ihre Darstellungen zu Rate
gezogen zu haben — läßt sich m. E. nur so erklären (und ich
habe es auch in meinen Lautstudien so erklärt), daß diese
verehrten Vorgänger eben den Hochton vermerkt haben,
freilich ohne sich über den Unterschied zwischen Tonbewegung
und Druckverteilung klar zu sein.
Dr. Grönbech gibt ausdrücklich zu, daß die von mir
1) D. h., der Hochton ruht auf der ersten Silbe.
2 1
308 B. CoLLiNDEB, Gibt es im Türlcischen keinen Akzent?
hervorgehobene Einstimmigkeit so vieler Beobachter verschie¬
dener Nationalität kein Zufall sein kann. Da er desgleichen
zugibt, daß es sich bei diesen einstimmigen Beobachtungen
eben um den Platz des Hochtons handelt, müßte er auch
logischerweise zugeben, daß es im Türkischen einen musika¬
lischen Akzent gibt, oder, wie ich die Sache ausgedrückt habe
{Lautstudien 55): „— — daß jedes türkische Wort (oder sagen
wir: jede Wortform) — mit gewissen Ausnahmen —
unabhängig von seiner Stellung im Satz einen festen musika¬
lischen Akzent hat in dem Sinn, daß der Hochton stets auf
dieselbe Silbe (und zwar nach der Hauptregel auf die letzte
Silbe) fällt." Daß die Tonbewegung, um mit Dr. Grönbech
zu reden, ,, phonologisch relevant" ist, ergibt sich m. E. un¬
zweideutig aus solchen Fällen wie z. B. türküm, das mit stei¬
gender Tonbewegung ,,mein Türke", mit fallender Ton¬
bewegung dagegen ,,ich bin ein Türke" bedeutet. Dr. Grön¬
bech bemerkt nun: „1st dies der Fall, so haben wir die
interessante Feststellung zu machen, daß, während bei uns
der exspiratorische Akzent gebunden und die Tonbewegung
frei ist, im Türkischen der Druckakzent innerhalb gewisser
Grenzen frei wäre, der musikalische Akzent hingegen ge¬
bunden." — Diese Feststellung ist schon in meinen Laut¬
studien gemacht. Dabei habe ich allerdings ein paar Vorbehalte
gemacht (S. 54f.): ,,ln einigen Fällen habe ich in einem Wort
zwei Hochtöne gehört . Daß in solchen Fällen die beiden
Hochtonsilben genau dieselbe maximale Tonhöhe gehabt
hätten, wage ich nicht zu behaupten. Auch kann ich nicht
in Abrede stellen, daß mir etwa gelegenthch eine in druck¬
schwachen Silben stattfindende Tonsteigung entgangen sei.
Die Tonbewegung in Fragesätzen habe ich leider an Ort und
Stelle nicht notiert und muß daher auf jede Beschreibung
derselben verzichten."
Es ist überraschend, daß Dr. Grönbech trotzdem nicht
an das Vorhandensein des musikahschen Akzentes im Tür¬
kischen glauben will. Er äußert: „Selbst bin ich geneigt an¬
zunehmen, daß die Tonbewegung im Türkischen keineswegs
bestimmten Gesetzen unterworfen ist ."
B. Collinder, Gibt es im Türlcischen keinen Akzent? 309
In dieser Skepsis fühlt sich Dr. Gr0nbech durch das Ab¬
hören einer kasantatarischen Schallplatte bestärkt. Das
kommt mir ungefähr so vor, als ob irgend jemand durch das
Ablauschen einer dänischen Schallplatte sich in der Auffas¬
sung bestärkt fühlen würde, daß es im Reichsschwedischen
keinen musikalischen Unterschied gebe zwischen z. B. büren
,,der Käfig" (mit Accentus accutus) und büren ,, getragen"
(mit Accentus gravis). Da solche Dinge heutzutage durch
instrumenteile Untersuchungen objektiv festgestellt werden
können, kann die weitere Debatte füglich vertagt werden.
Über die für die reichstürkischen Akzentverhältnisse be¬
stimmenden Faktoren habe ich zusammenfassend folgendes
geäußert (Lautstudien 93): ,,Wenn wir von den Barytona
vom Typus balta „Axt" absehen, brauchen wir gar nicht weit
in die Geschichte zurückgehen — die maßgebenden Be¬
dingungen sowohl der Tonbewegung wie der Druckverteilung
liegen so ziemlich an dem Tage." Betreffs der Einzelheiten
erlaube ich mir auf meine Abhandlung (besonders S. 28—54)
zu verweisen. Ob und inwiefern Dr. Grönbech in seiner
Detailbesprechung (S. 380—384) Neues bietet, überlasse ich
dem Urteil der Fachgenossen. An einem Punkt muß ich aller¬
dings eine Verwahrung einlegen. Ich habe in meinen Laut¬
studien (S. 51) geäußert:
,,Wie Pröhle erwiesen hat, müssen die Akzentverhältnisse
der Verba negativa wenigstens zum Teil voreinzelsprachlich
sein. Ohne auf Einzelheiten näher einzugehen, will ich als
meine Ansicht aussprechen, daß sich diese Akzentverhältnisse
leicht erklären würden, wenn man anzunehmen wagte, daß
die Negativendung -ma ~ -me von Anfang ein selbständiges
Verbum gewesen sei, eine Annahme, die allerdings etwas
abenteuerlich ersclieinen mag."
Ohne auf diese Äußerung irgendwie Bezug zu nehmen,
sagt nun Dr. Grj0nbbch:
„Aber auch das Verbum negativum, für dessen Ursprung
wir keinen Fingerzeig haben, hat festen Akzent : bäkmadl „er
schaute nicht hin", und daraus kann man vielleicht schließen,
310 B. CoLLTNDER, Gibt CS im Türlcischen keinen Akzent?
daß diese Form ebenfalls aus einer Zusammensetzung ent¬
standen ist."
Ich glaube gar nicht durch meine Abhandlung das letzte
Wort über den reichstürkischen Akzent gesprochen zu haben
(siehe Lautstudien 28). Die Forschungen auf diesem Gebiet
befinden sich vielleicht noch auf der Anfangsstufe. Die Aus¬
führungen Dr. Gr0Nbkch's bezeichnen aber m. E. keinen
Fortschritt, sondern vielmehr einen entschiedenen Rück¬
schritt.
Prof. Dr. H. W. Duda hat im 94. Band dieser Zeitschrift
eine eingehende, durchaus lehrreiche Besprechung meiner
Reichstürkischen Lautstudien veröffentlicht. Es freut mich
sehr, feststellen zu können, daß die Beobachtungen dieses
ausgezeichneten Kenners der türkischen Sprache im wesent¬
lichen mit den meinigen übereinstimmen. Ich möchte nur eine
kleine Bemerkung machen. Professor Duda äußert zu meinen
Beobachtungen über die intersyllabische Druckverteilung u. a.
folgendes: ,,ln Tabellenform bringt der Verfasser sein
Material, das hier allerdings auf Grund einer Frageliste zu¬
standegekommen ist. Gerade bei der Untersuchung der Druck¬
verhältnisse hätte man lieber einen zusammenhängenden
Text beiziehen müssen ."
Hier ist dem Herrn Professor Duda ein Versehen passiert.
Wie ich in meiner Abhandlung ausdrücklich erwähnt habe
(S. 65f.), habe ich die Frageliste nur für die erste Tabelle ver¬
wertet, und zwar so, daß ich in Klammern die Anzahl der
Textbelege angebe. Für die Tabellen 2—5 habe ich nur zu¬
sammenhängende Texte verwertet.
Zu den Inschriften von Qal'at Sim'än
Von Enno Littmann, Tübingen
In dieser Zeitschrift, Bd. 94, S. 372—374, veröffenthchte
B. Meissner einen Artikel „Eine griechisch-syrische Bilingue
aus Qal'at Sim'än", der mit den Worten schließt: „Durch die
Güte Krencker's erhielt ich noch Einsicht in zwei weitere
Inschriften aus Qal'at Sim'än (s. Abb. 2; 3), mit denen ich
aber ebenso wenig anfangen kann wie meine Vorgänger. Viel¬
leicht sind Leser dieses Aufsatzes glücklicher als wir."
Es handelt sich jedoch, wie man bald erkennt, nur um
eine einzige Inschrift, die in Abb. 2 und 3 auf dem Kopfe
stehend abgebildet ist. Nicht nur der Text ist genau der
gleiche, sondern die Buchstabenformen sind bis in alle Einzel¬
heiten gleich, so daß es sich nicht um einen zweimal einge¬
meißelten gleichen Text, sondern nur um eine zweimal unter
verschiedener Belichtung photographierte Inschrift handeln
kann.
Die erste Zeile unterscheidet sich von den übrigen vier
Zeilen, die den Haupttext der Inschrift bilden; sie ist daher
für sich zu betrachten. Die Buchstaben sind größer als in den
anderen Zeilen; sie sind unverbunden und nicht in ebener
Linie geschrieben, sondern in einer schräg nach links an¬
steigenden Linie. Die Buchstaben sind . *_ * Der linke
Teil des s* ist etwas verschwommen und ist etwas zu kurz
geraten; in Abb. 3 ist er ein wenig deutlicher zu erkennen als
in Abb. 2. Das x ist der größte von den vier Buchstaben. Es
hat rechts unten keinen horizontalen Ansatz; dieser Ansatz
fehlt selten in der syrischen Schrift, hier mag er aus Versehen
nicht geschrieben sein. Das oben offene «, wie hier, kommt
auch sonst in der späteren syrischen Schrift vor. Das ^ ist
ganz deutlich. Das finale , das sonst in der Estrangela-
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