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Individuelle Belastung und Verlaufsmerkmale bei stationär behandelten kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens

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Academic year: 2021

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des Fachbereichs Medizin der Philipps-Universität Marburg

in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Marburg

Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Krieg

-Klinik für Kinder– und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie-Kommissarischer Klinikdirektor: PD. Dr. med. M. Martin

Individuelle Belastung und Verlaufsmerkmale bei stationär behandelten

kinder– und jugendpsychiatrischen Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens

INAUGURAL-DISSERTATION

zur Erlangung des Doktorgrades der gesamten Humanmedizin

dem Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg vorgelegt von

Christine Lührs aus Offenbach a.M.

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Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg am 22. März 2007

Gedruckt mit Genehmigung des Fachbereichs

Dekan: Prof. Dr. med. B. Maisch Referent: Prof. Dr. F. Mattejat Koreferent: Prof. Dr. C. Herrmann-Lingen

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1 Einleitung und Zielsetzung ... 1

2 Literaturübersicht ... 2

2.1 Literaturrecherche ... 2

2.2 Grundlagen der Diagnosestellung... 3

2.3 Definition von Dissozialität ... 4

2.4 Symptomatologie und Klassifikation ... 6

2.5 Ätiologie ... 15

2.6 Diagnostik ... 27

2.6.1 Diagnostische Besonderheiten... 28

2.6.2 Methoden der Diagnostik ... 30

2.7 Prävention... 35

2.8 Therapie... 39

2.8.1 Jugendhilfemaßnahmen ... 41

2.8.2 Psychosoziale Therapieformen ... 44

2.8.3 Zusammenfassung und Ausblick... 55

2.8.4 Therapie an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Philipps-Universität-Marburg ... 58

2.9 Verlauf und Prognose ... 59

3 Fragestellung und Hypothesen... 62

4 Methodik ... 64

4.1 Studiendesign ... 64

4.2 Datenerhebung ... 65

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5 Stichprobenbeschreibung... 84

6 Ergebnisse... 95

6.1 Hypothese I zur Komorbidität... 96

6.2 Hypothese II zum Funktionsniveau ... 101

6.3 Hypothese III zur sozialen Belastung ... 102

6.4 Hypothese IV zum Beschulungsniveau... 107

6.5 Hypothese V zur Kooperation ... 109

6.6 Hypothese VI zum Therapieerfolg... 112

6.7 Hypothese VII zum Therapieerfolg... 113

6.8 Hypothese VIII zur Behandlungszufriedenheit ... 114

6.9 Zusammenfassung... 116

7 Diskussion... 118

7.1 Komorbidität... 118

7.2 Funktionsniveau und soziale Belastung ... 122

7.3 Beschulungsniveau ... 123

7.4 Therapieerfolg, Kooperation und Zufriedenheit... 125

7.5 Grenzen und kritische Würdigung der vorliegenden Untersuchung ... 128

7.6 Schlussbemerkung ... 129

8 Zusammenfassung ... 131

9 Literaturverzeichnis ... 133

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1 Einleitung und Zielsetzung

Kinder und Jugendliche mit der ICD-Diagnose Störungen des Sozialverhaltens stellen eine große Gruppe stationär behandelter Patienten in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken dar. Nach Steinhausen (1988) sind Störungen des Sozialverhaltens hier die zweithäufigste Diagnose.

Es ist strittig, ob dissoziale Patienten „in die Psychiatrie“ gehören oder eher in die Zuständigkeit der Jugendhilfe fallen sollten. Es wird argumentiert, dass diese Störung nicht als Erkrankung im engeren Sinne zu betrachten ist, sondern ein pädagogisches und soziales Problem darstellt. Tatsächlich werden Kinder und Jugendliche mit dissozialen Verhaltensauffälligkeiten sowohl von Instanzen der Jugendhilfe, z.B. dem Jugendamt, dem Sozialamt oder der Erziehungsberatung, wie auch in psychiatrischen Einrichtungen betreut. Diese Überschneidung der Zuständigkeit von Jugendhilfe und Psychiatrie gilt insbesondere für die Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit schweren dissozialen Auffälligkeiten, die stationär in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken behandelt werden.

Häufig sind aber die Hilfs- und Betreuungsangebote nicht erfolgreich. Dies liegt vermutlich darin begründet, dass stationär behandelte dissoziale Patienten eine besonders schwer belastete Gruppe von Kindern und Jugendlichen darstellen, bei der sich gleichermaßen eine ausgeprägte psychiatrisch-medizinische wie auch eine gravierende soziale Problematik manifestiert.

In der vorliegenden Arbeit sollen die besonderen Merkmale dieser Gruppe herausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck wird überprüft, ob sich diesbezüglich eine Reihe von Aussagen bzw. Ergebnissen, die sich in der Literatur finden, in einer konkreten unausgelesenen stationären Inanspruchnahmepopulation bestätigen lassen. Grundlage bildet dabei das Datenmaterial aus einer vollständigen Inanspruchnahmepopulation. Insofern handelt es sich um eine versorgungsepidemiologische Studie

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2 Literaturübersicht

2.1 Literaturrecherche

Für die Literaturrecherche werden zwei internationale und eine deutschsprachige Online-Literaturdatenbank herangezogen (siehe Tabelle 2.1).

Tabelle 2.1: Datenbanken zur Literaturrecherche

Datenbank Fächer Seit Anzahl

Zeitschriften

Anzahl

Artikel Verbreitung

Medline Medizin, Pharmazie,

Biologie 1966ff 4200 9 Mio. International (70 Länder) PsychINFO Naturwissenschaften, Erziehungs-wissenschaften, Psychologie, Psychiatrie Verhaltensforschung, Gesundheitswesen, 1987ff 1300 700.000 International Psyndex plus with testfinder Naturwissenschaften, Psychologie, Medizin, Soziologie, Erziehungs-wissenschaften 1977ff 250 90.000 National

Die Literaturrecherche für diese Arbeit besteht aus drei Abschnitten: 1. Suche nach relevanten Übersichtsartikeln zu allen Aspekten der

Diagnose Störungen des Sozialverhaltens

2. Suche nach speziellen Artikeln zum Thema „Therapie“ bei Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens

3. Recherche zu widersprüchlichen Angaben der Literatur bezüglich der „Funktionellen Familientherapie“ bei Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens

Das Ziel besteht in der Darstellung des aktuellen Forschungsstandes der Diagnose Störungen des Sozialverhaltens bei Kindern und Jugendlichen. Die Suche wird auf Übersichtsartikel des Zeitraumes 1997-2001 eingeschränkt. Tabelle 2.2 gibt das Ergebnis der Freitextsuche wieder.

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Tabelle 2.2: Ergebnis der Freitextsuche

Medline PsychINFO Psyndex

Behavior disorders 162 2 6

Conduct disorders 16 13

-Antisocial behavior 20 38 6

Juvenile delinquency 24 39 12

Violence 99 -

-Wie aus Tabelle 2.2 ersichtlich, sind in PsychINFO und Psyndex keine Übersichtsartikel unter dem Stichwort „Violence“ zu finden. Das gleiche gilt für das Stichwort „Conduct disorders“ in Psyndex. Sowohl in PsychINFO als auch in Psyndex finden sich geringfügig unterschiedliche Befehle zur Literatursuche verglichen mit Medline, so dass diese den verschiedenen Datenbanken angepasst werden müssen.

Die zweite Literatursuche zum Thema „Therapie“ basiert auf der Methodik der ersten Recherche. Artikel über Form, Wirksamkeit und Effektivität von Therapie sind von Interesse. Es ergeben sich 206 Literaturnachweise, welche die Grundlage für das Therapiekapitel sind. Zudem finden sich 57 Artikel, die speziell die Pharmakotherapie dissozialer Störungen zum Thema haben.

Aufgrund der wichtigen Stellung „Funktionaler Familientherapie“ bei der Therapie von Störungen des Sozialverhaltens wird eine dritte Literaturrecherche durchgeführt. Diese ergibt 45 Literaturnachweise zu diesem Thema.

Die beschriebene Methodik der Literaturrecherche und die damit erhaltenen Buch- und Zeitschriftenartikel stellen die Grundlage der folgenden Literaturübersicht dar.

2.2 Grundlagen der Diagnosestellung

Die vorliegende Arbeit orientiert sich an folgenden international anerkannten Klassifikationen und Leitlinien:

• WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10, Kapitel V (F), klinisch-diagnostische Leitlinien. Dilling, H.; Mombour, W.; Schmidt, M.H.; 2. Auflage, 1993.

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• DSM-IV: Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen. American Psychological Association. Sass, H.; Wittchen, H.U.; Zandig, M.; 3. Auflage, 1996.

• MAS: Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO: mit einem synoptischen Vergleich von ICD-10 mit ICD-9 und DSM-III-R. Remschmidt, H.; Schmidt, M.H.; 3. Auflage, 1996.

• Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutsche Gesellschaft für Kinder-und Jugendpsychiatrie (KJP) und Psychotherapie; Bundesarbeitsgemeinschaft leitender Klinikärzte für KJP und Psychotherapie; Bundesverband der Ärzte für KJP und Psychotherapie, 1997. Diese Leitlinien orientieren sich an der ICD-10.

• Practice Parameters für die Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens. American academy of child and adolescent psychiatry, Steiner, H.; Dunne, J.E.; 1997. Diese Leitlinien orientieren sich an dem DSM-IV.

2.3 Definition von Dissozialität

Die ICD-10 definiert Störungen des Sozialverhaltens als Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens mit Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen, welches länger als sechs Monate besteht. Die Kombination mit schwierigen psychosozialen Umständen ist häufig (F91). Auch die Vergesellschaftung mit deutlichen Symptomen einer emotionalen Störung, vor allem mit Depression oder Angst (F92), ist möglich. Es sind Verhaltensweisen, die von verhaltensbegrenzenden Erwartungen abweichen, und das Vertrauen der Bezugspersonen in verlässliche Anpassung in Frage stellen (Remschmidt & Schmidt, 1985). Altersgemäße Normen, Regeln und/ oder Rechte Anderer werden durch diese Verhaltensweisen beeinträchtigt (Steinhausen, 1988). Remschmidt attestiert Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens eine gestörte Gemeinschaftsfähigkeit bis hin zur

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Gemeinschaftsunfähigkeit (Asozialität) infolge innerer Beziehungslosigkeit zur menschlichen Gesellschaft und fehlenden Verständnisses für deren Belange. Dissozialität ist ein Problem der Gesellschaft und des Staates und dabei ein primär soziologischer Begriff, da er am Verhalten und an der Handlung im Hinblick auf die Gesellschaft orientiert ist (Nissen, 1976). Es erfolgen einzelne oder gehäufte Verstöße gegen die von der Mehrheit anerkannten Gesetze oder die herrschende Moral, ohne aber etwas über die Motive und die Persönlichkeit des Handelnden auszusagen. Der Krankheitswert dieser Störung ist im medizinisch-biologischen oder herkömmlich psychiatrischen Sinn nicht eindeutig. In der WHO entspricht diese Störung der Definition von Krankheit, wobei diese Störung nach Remschmidt (1992) jedoch keine psychiatrische Erkrankung darstellt.

Geht dieses Verhalten in eine persistierende und generalisierte Abweichung von sozialen Normen mit fortgesetztem und allgemeinem Sozialversagen im Sinne einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung über, bezeichnet man es als Verwahrlosung (Steinhausen, 1988). Verwahrlosung ist ein Zustand mangelnden Bewahrtseins („Wahrlossein“) in der familiären, sozialen oder epochalen Situation mit nachfolgendem Versagen des Kindes gegenüber Anforderungen in Schule, Beruf und Gemeinschaftsleben mit besonderer erzieherischer Hilfsbedürftigkeit (Dauner, 1997). Verwahrlosung ist ein Unterbegriff der Dissozialität, d.h. Verwahrlosung impliziert Dissozialität, aber nicht jeder, der dissoziales Verhalten zeigt, ist zugleich verwahrlost (Remschmidt, 1992).

Als delinquentes Verhalten wird schließlich sozialwidriges Verhalten bei Begehen strafbarer Handlungen von strafunmündigen Kindern unter 14 Jahren im Rahmen einer Dissozialitäts- oder Verwahrlosungssymptomatik definiert, worunter z.B. Stehlen, Sachbeschädigung oder Brandstiftung fallen (Dauner, 1997). Es sind nach Steinhausen (1988) dissoziale Verhaltensweisen, die nicht gegen gültige Strafgesetze verstoßen, die aber von Kontrollinstanzen verfolgt werden, z.B. dem Jugendgericht oder Jugendamt. Delinquentes Verhalten als juristischer Terminus hängt von gesellschaftlichen Normen ab, d.h. der jeweiligen Rechtsprechung, die festlegt, ab welchem Schadensausmaß

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aggressives Verhalten kriminalisiert wird, also delinquentes Verhalten vorliegt (Petermann & Wiedebusch, 1993). Delinquenz hat in der angelsächsischen Literatur eine andere Bedeutung und wird dort als Synonym für Dissozialität und Verwahrlosung verwandt. Der Begriff bezeichnet hier alle Verhaltensweisen, mit denen die gesellschaftliche Ordnung gestört wird, unabhängig davon, ob sie einen Verstoß gegen die Strafgesetzgebung darstellen oder nicht (Nissen, 1976).

2.4 Symptomatologie und Klassifikation

Im Folgenden soll die Symptomatologie und Einteilung der Diagnose Störungen des Sozialverhaltens einschließlich möglicher Differenzialdiagnosen und Komorbiditäten anhand der ICD-10 und dem DSM-IV dargestellt werden.

1. ICD-10

Die ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 1993) sieht Störungen des Sozialverhaltens als „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F9)“. Verhaltensweisen, welche diese Diagnose begründen, sind ein deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten und Tyrannisieren, ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche und Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder Tieren. Weiterhin sind erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum, Zündeln, Stehlen, häufiges Lügen, Schuleschwänzen und Weglaufen von Zuhause typische Merkmale für diese Störung. Bei erheblicher Ausprägung genügt jedes einzelne der genannten Symptome für die Diagnosestellung.

Klassifikation: Die Einteilung ist therapeutisch und prognostisch bedeutsam.

1. Störungen des Sozialverhaltens, die auf den familiären Rahmen beschränkt sind (F91.0): Diese Verhaltensstörung ist auf die Interaktion von Mitgliedern der unmittelbaren Umgebung beschränkt. „Es besteht Unsicherheit darüber, welchen Verlauf diese auf die Familie beschränkte Form nimmt bzw. ob ihr Verlauf wirklich regelhaft günstiger ist“ (M.H. Schmidt, 1998, S. 55).

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2. Störungen des Sozialverhaltens ohne vorhandene soziale Bindungen (F91.2): Zusätzlich zu den oben genannten Merkmalen besteht eine deutliche und umfassende Beeinträchtigung der Beziehung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen zu anderen Gleichaltrigen, meist auch zu Erwachsenen. In der Regel wird das dissoziale Verhalten allein ausgeübt, d.h. die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind sozial isoliert.

3. Störungen des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2): Die typische Symptomatik besteht bei überwiegend guter Einbindung in die Altersgruppe, wobei es sich häufig um dissoziale oder delinquente Gleichaltrige handelt. Die aggressiven Delikte werden innerhalb dieses Gruppenverbandes von dissozialen oder delinquenten Gleichaltrigen begangen. Die Beziehungen zu Erwachsenen sind häufig schlecht.

4. Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3): Hier fehlen schwere dissoziale oder aggressive Handlungen. Leitsymptome sind aufsässiges, ungehorsames, feindseliges, provokatives und trotziges Verhalten, die Missachtung von Regeln oder Anforderungen Erwachsener und gezieltes Ärgern Anderer. Anderen wird die Verantwortung für eigene Fehler zugeschrieben. Wutausbrüche sind häufig, die Frustrationstoleranz ist niedrig. Diese Verhaltensweisen richten sich mehr gegen Erwachsene als gegen Gleichaltrige.

5. Kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen: Hier müssen die Leitsymptome einer zusätzlichen emotionalen Störung erfüllt sein. Am häufigsten ist eine begleitende depressive Störung (F92.0). Jede andere Störung des Befindens kommt ebenfalls in Frage, z.B. Angst- oder Zwangssymptome (F92.8).

Gemäß ICD müssen drei Symptome zur Diagnosestellung erfüllt sein, eines über mindestens sechs Monate. Für die Diagnosestellung der oppositionellen

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Störung des Sozialverhaltens sind zwei Symptome in Kombination mit zwei leichteren Symptomen nötig (Schmidt, 1998).

Zusätzlich zu der beschriebenen Einteilung kann eine Schweregradeinteilung vorgenommen werden.

• Leichte Störung: zusätzlich zu den für die Diagnose erforderlichen Symptomen bestehen nur wenige oder keine weiteren Symptome sowie nur geringer Schaden für Dritte.

• Schwere Störung: es bestehen zusätzlich eine Vielzahl weiterer Probleme sowie beträchtlicher Schaden für Dritte.

2. DSM-IV

Das US-amerikanische Klassifikationsschema ordnet Störungen des Sozialverhaltens ebenso wie die ICD unter „Störungen, die gewöhnlich erstmals im Kleinkindalter, in der Kindheit oder in der Adoleszenz diagnostiziert werden“ (Sass & Wittchen, 1996). Sie werden als „Störungen der Aufmerksamkeit, der Aktivität und des Sozialverhaltens“ gesehen. Die Symptomatologie wird folgendermaßen beschrieben (S.129f):

1. Aggressives Verhalten, durch das anderen Menschen oder Tieren Verletzungen zugefügt oder angedroht wird. Dazu gehört häufiges Einschüchtern Anderer, häufige Schlägereien, körperliche Grausamkeiten gegenüber Menschen, Tierquälerei, Stehlen unter Konfrontation mit dem Opfer (z.B. Überfall, Erpressung) und das Zwingen Anderer zu sexuellen Handlungen.

2. Nichtaggressives Verhalten, das vor allem durch die Verursachung von Eigentumsverlust oder –schaden gekennzeichnet ist. Typische Symptome sind hier Brandstiftung und vorsätzliche Zerstörung von Eigentum.

3. Betrug oder Diebstahl, wie z.B. Einbruch in fremde Wohnungen, Häuser oder Autos, häufiges Lügen, um sich Vorteile zu verschaffen, Diebstahl von wertvollen Dingen ohne Konfrontation mit dem Opfer.

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4. Schwere Regelverletzungen, wie nächtliches Wegbleiben von Zuhause trotz elterlichen Verbots vor dem 13. Lebensjahr, Weglaufen von Zuhause über Nacht (mindestens zweimal), häufiges Schuleschwänzen vor dem 13. Lebensjahr.

Diese Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen. Die Symptomatik tritt in vielen Lebensbereichen auf, z.B. Zuhause, in der Schule und in der Öffentlichkeit. Zur Diagnosestellung sollten mindestens drei charakteristische Verhaltensweisen in den letzten 12 Monaten nachgewiesen werden, davon mindestens eine in den letzten sechs Monaten. Bei Volljährigen dürfen die Kriterien einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung nicht erfüllt sein, da diese eine eigene Diagnose darstellt.

Klassifikation: Basierend auf dem Alter bei Störungsbeginn werden zwei

Subtypen unterschieden: sie unterscheiden sich in der Art der Verhaltensprobleme, im Geschlechterverhältnis, im Entwicklungsverlauf und in der Prognose.

1. Typus mit Beginn in der Kindheit: Mindestens ein charakteristisches Kriterium sollte vor dem 10. Lebensjahr begonnen haben. Typischerweise sind vor allem Jungen betroffen, besteht eine gestörte Beziehung zu Gleichaltrigen und kommt es häufig zu körperlichen Aggressionen. Möglicherweise bestand in früher Kindheit eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten. Als Erwachsener entwickelt sich eher als bei Typ 2 eine antisoziale Persönlichkeitsstörung oder geht in bleibende Störungen des Sozialverhaltens über.

2. Typus mit Beginn in der Adoleszenz: Bei dieser Form tritt kein charakteristisches Kriterium vor dem 10. Lebensjahr auf. Das Geschlechterverhältnis ist ausgewogener als bei Typ 1. Außerdem zeigen die Betroffenen weniger aggressive Verhaltensweisen und mehr normative Beziehungen zu Gleichaltrigen. Im Verlauf zeigen sich seltener bleibende Störungen des Sozialverhaltens oder die Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung.

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Beide Subtypen können in verschiedene Schweregrade eingeteilt werden: • Leicht: Es entsteht nur leichter Schaden für Andere, und es bestehen

neben den Hauptsymptomen keine oder nur wenige weitere Probleme. • Mittel: Die Auswirkungen auf Andere sowie die Anzahl zusätzlicher

Probleme können als leicht bis stark bezeichnet werden.

• Schwer: Für Andere entsteht beträchtlicher Schaden, und es existieren viele zusätzliche Probleme.

Tabelle 2.3 gibt eine Zusammenfassung der Einteilungen von Störungen des Sozialverhaltens durch die ICD-10 und das DSM-IV wieder.

Tabelle 2.3: Einteilung dissozialer Störungen nach ICD-10 und DSM-IV

Subtypen von Störungen des Sozialverhaltens

ICD-10

Ohne soziale Bindungen Mit sozialen Bindungen Auf die Familie beschränkt Mit oppositionellem Verhalten

Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen DSM-IV Beginn bis zum Alter von 9 Jahren

Beginn nach dem Alter von 9 Jahren

Weitere zugehörige Symptome können sein: wenig Empathie, Rücksichtslosigkeit in Bezug auf Gefühle, Wünsche und das Wohlergehen Anderer, keine Gewissensbisse oder Schuldgefühle, aggressive Reaktionen, falls die Absichten Anderer als feindselig oder bedrohlich wahrgenommen werden, geringes Selbstwertgefühl mit dem Bild von „Härte“ nach außen, geringe Frustrationstoleranz mit häufigen Wutausbrüchen, Rücksichtslosigkeit, erhöhte Unfallquoten, früher Sexualkontakt, Trinken, Rauchen, der Genuss illegaler Substanzen, Schulprobleme und Probleme am Arbeitsplatz sowie mit dem Gesetz.

Vergesellschaftete psychiatrische Störungen sind Lernstörungen, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Angststörungen, affektive Störungen sowie Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen. Mögliche somatische Befunde sind Bradykardie und eine geringere Hautleitfähigkeit.

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Das DSM-IV verweist auf spezifische kulturelle, Alters- und Geschlechtsmerkmale. Das Verhalten muss zudem für die zugrunde liegende Funktionsstörung innerhalb der Person symptomatisch sein und nicht als Reaktion auf das unmittelbare soziale Umfeld gesehen werden. Beispielsweise sind jugendlichen Immigranten aus Kriegsgebieten mit einer Vorgeschichte aggressiven Verhaltens, das für ihr Überleben notwendig war, nicht die Diagnose Störungen des Sozialverhaltens zu geben. Im Laufe der Entwicklung findet sich zuerst weniger gravierendes Verhalten wie z.B. Lügen, Ladendiebstahl, Schlägereien, später andere Verhaltensweisen wie z.B. Einbrüche und zuletzt die schwerwiegendsten, z.B. Vergewaltigungen oder Diebstahl mit Konfrontation des Opfers. An geschlechterspezifischen Merkmalen zeigen männliche dissoziale Kinder und Jugendliche vor allem aggressives Handeln, d.h. Kämpfen, Stehlen, Vandalismus und Disziplinprobleme in der Schule, während weibliche dissoziale Kinder und Jugendliche eher zu nicht-konfrontativen Verhaltensweisen wie Lügen, Schuleschwänzen, Weglaufen, Drogenmissbrauch und Prostitution neigen. Beim Vergleich von ICD-10 und DSM-IV sind fast alle in DSM-IV beschriebenen Störungen auch in der ICD-10 enthalten. So entsprechen die beiden wichtigsten Subgruppen von ICD-10 (mit/ ohne soziale Bindungen) weitgehend der neuen Subklassifikation von DSM-IV (Schmidt, 1998). Zum Teil bestehen aber unterschiedliche Einteilungen. Beispielsweise wird die oppositionelle Form in dem DSM-IV als eigene Diagnose gegenüber den Störungen des Sozialverhaltens abgegrenzt. Sie bezeichnet hier eine wesentlich schwerere Form als in der ICD-10 (Biederman et al., 1996).

3. Probleme der Klassifikation

Es gibt eine Vielzahl von Autoren, die über die spezifische Symptomatik Verhaltensgestörter referieren. Diese kommen es zu unterschiedlichen Ergebnissen, die unter anderem in engem Zusammenhang mit zeitimmanenten Erziehungsstilen und mit soziologischen Umwandlungsprozessen stehen (Nissen, 1976). Die ICD-10 und das DSM-IV stellen eine Synthese vielfältiger Klassifikationsformen dar, so dass sich die vorliegende Arbeit an diesen beiden

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Systemen orientieren wird. Im Folgenden sollen dennoch unterschiedliche Meinungen der Klassifikation dargestellt werden.

Remschmidt & Schmidt (1985) beispielsweise subsumieren unter Auffälligkeiten des Sozialverhaltens: Schwindeln, Lügen, Betrügen, Stehlen, Weglaufen, Verweigerung von Schule oder Ausbildung, Zündeln, Brandstiften, aggressives Verhalten (Autoaggressivität, ungewöhnliche Wutausbrüche, Zerstörung, Sachbeschädigung, tätliche Angriffe), Kontaktprobleme, soziale Isolation, Scheu, Kontaktangst, überangepasstes Verhalten, Distanzlosigkeit. Schmidt, der sich vor allem an den ICD-10-Kriterien orientiert, fügt 1998 sexuelle Nötigung und den Gebrauch von Waffen hinzu. Remschmidt (1992) unterscheidet zunächst Dissozialität von Delinquenz und Verwahrlosung. Er unterteilt Dissozialität in eine nicht-sozialisierte Form, wobei sich die Verhaltensstörung wahllos gegen eine Vielzahl von Personen und Gruppen richtet, sowie in eine sozialisierte Form mit loyalem Verhalten gegenüber einer Gruppe oder bestimmten Personen.

Andere Autoren stellen andere Symptome in den Vordergrund. Rauchfleisch (1981), ein psychoanalytisch orientierter Autor, erklärt folgende Symptome als charakteristisch für dissoziale Kinder und Jugendliche: geringe Frustrationstoleranz, geringer Realitätsbezug, Kontaktstörungen, Depressivität, Über-Ich Pathologie (Internalisierung antisozialer Normen, Übernahme von Fremdstigmatisierung in das Selbstkonzept), archaische Abwehrmechanismen gegen das Über-Ich (z.B. Projektion, Identifikation, Verleugnung), Aggressivität, Sexualität, d.h. starke Triebhaftigkeit, die Unfähigkeit auf sofortige Triebbefriedigung zu verzichten, Integrationsmangel und schließlich Chronizität der Störung über das gesamte Leben. Typischerweise sind diese Menschen nach Rauchfleisch seit ihrer Kindheit verhaltensauffällig und wachsen in isolierten Familien, in Pflegefamilien oder in Heimen auf.

Ein Autor, der das US-amerikanische Klassifizierungssystem Practice Parameters (Steiner & Dunne, 1997) unterstützt, ist der verhaltenstherapeutisch orientierte Steinhausen (1993). Er unterscheidet Störungen des Sozialverhaltens mit frühem Beginn von solchen mit spätem Beginn. Für den

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frühen Beginn, d.h. während der Vorschulzeit im familiären Umfeld, sieht er aufsässiges, trotziges und unfolgsames Verhalten zunächst als symptomatisch. Ursächlich sieht er eine inadäquate elterliche Erziehung. Die Symptomatik führt später zu mangelnder sozialer und schulischer Anpassung. Es fehlen die sozialen Fertigkeiten, um Kontakte aufzubauen und sich in einer Gruppe zu integrieren. Daraus entwickeln sich wiederum chronische Verhaltensstörungen mit zunehmend schwerwiegenderen dissozialen Handlungen, die einer nur geringen Remissionsrate unterliegen. Der späte Beginn unterliegt einer starken Beeinflussung durch dissoziale Gleichaltrige. Diese Kinder weisen zumeist grundlegende soziale und schulische Fertigkeiten auf und neigen dazu, vor allem nicht-gewalttätige Delikte wie Diebstahl, Betrug oder Substanzmissbrauch zu begehen. Bei diesem Typ sind therapeutische Interventionen aussichtsreicher als bei dem frühen Beginn.

4. Psychiatrische Komorbidität

Komorbide Begleitstörungen bei Störungen des Sozialverhaltens sind ein wichtiger Aspekt, da sie unter anderem prognostische und therapeutische Relevanz haben. Oft sind diese kombinierten Formen der Verhaltensstörung bereits im Vorschulalter erkennbar, was durch Längsschnittstudien belegt ist (Laucht et al., 1997). Sieberg und Mitarbeiter (1996) fanden in einer Zwillingsuntersuchung zudem einen deutlichen genetischen Einfluss auf komorbide Störungen. Starke psychiatrische Komorbidität besteht nach Ansicht der am DSM-IV orientierten Practice Parameters (Steiner & Dunne, 1997) mit depressiven Störungen, dem Substanzmissbrauch und anderen externalisierenden Störungen. Auch andere, nicht psychiatrische Begleitumstände sind bedeutsam (Remschmidt & Schmidt, 1995).

Bei externalisierenden Störungen ist vor allem das hyperkinetische Syndrom wichtig. Angaben zu Komorbiditätsraten mit Hyperkinetikern liegen bei 45–70% (Schmidt, 1998). Besteht diese Form der Komorbidität entsteht eine prognostisch noch ungünstigere Ausgangssituation als die reine Störung selbst hat (Taylor et al., 1991).

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Komorbide depressive Störungen und andere assoziierte Emotionalstörungen wie etwa Phobien oder Angststörungen erklären die häufig suizidalen Handlungen dieser Jugendlichen. Auch Zwangsstörungen, dissoziative oder somatoforme Störungen können im Rahmen der Störung auftreten. Bei komorbidem Substanzmissbrauch spielt vor allem Alkohol, Drogen oder Medikamentenabusus eine wichtige Rolle. Diese Form der Komorbidität wird umso wahrscheinlicher, je mehr aggressive und dissoziale Symptome ein Kind oder Jugendlicher zeigt (Schmidt, 1998).

5. Differenzialdiagnose

Wichtige Differenzialdiagnosen sind das Vorhandensein aggressiver bzw. dissozialer Symptome im Rahmen anderer Erkrankungen. Die an der ICD-10 orientierten „Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter“ benennen sieben mögliche Differenzialdiagnosen, die leicht von den an dem DSM-IV orientierten „Practice Parameters“ abweichen. Dazu zählen organische Psychosyndrome, Substanzmissbrauch mit der Sekundärfolge von Beschaffungskriminalität, Zwangshandlungen und manische Episoden, die durch ihren phasenhaften Verlauf und die typischen Merkmale der manischen Episode gekennzeichnet sind. Weiterhin sind posttraumatische Belastungsreaktionen oder Anpassungsstörungen differenzialdiagnostisch wichtig. Stehlen bei Bulimia nervosa und aggressive Übergriffe im Rahmen von Impulskontrollstörungen bei einer Borderline- oder narzistischen Persönlichkeitsstörung sind ebenfalls bekannte Differenzialdiagnosen.

Die „Practice Parameters“ benennen dagegen sechs Differenzialdiagnosen, wobei manische Episoden, Anpassungsstörungen und die antisoziale Persönlichkeitsstörung bei Personen >18 Jahren mit der ICD übereinstimmen. Als weitere Differenzialdiagnosen wird die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und das antisoziale Verhalten in der Kindheit oder Adoleszenz aufgeführt, welches durch isolierte Probleme des Sozialverhaltens gekennzeichnet ist.

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2.5 Ätiologie

Die Ätiologie von Störungen des Sozialverhaltens ist ein kontrovers diskutiertes Thema. Neben psychosozialen Risikofaktoren stehen derzeit besonders biologische Ursachen im Fokus zahlreicher Untersuchungen. Die ICD-10 und das DSM-IV geben keinen klar definierten ätiologischen Rahmen. Beide Klassifikationen beruhen auf genauer Deskription der diagnostischen Kategorien im Sinne operationaler Diagnostik mit dem Bemühen um Neutralität hinsichtlich ätiologischer Vorannahmen (Saß et al, 1996). Mögliche Ursachen werden unter störungsspezifischer Diagnostik (ICD-10, 1997) und unter diagnostischen Untersuchungen der Practice Parameters (1997) subsumiert, nicht aber als solche benannt. In einer Studie von Goldstein (1990) nennen inhaftierte Jugendliche als Ursache ihrer Delinquenz am häufigsten Familienangelegenheiten. Danach folgen Freundeskreiseinflüsse, Drogen, Schule und Probleme wie z.B. Armut. Die Multidimensionalität der Erkrankung sollte also erforscht werden, wozu sowohl psychiatrische als auch psychologische und soziologische Theorien gehören (Remschmidt, 1997). Im Folgenden soll dieser Multidimensionalität Rechnung getragen werden. Die verschiedenen Ansichten der Autoren hinsichtlich der Ätiologie werden dargestellt.

1. Biologische und konstitutionelle Risikofaktoren

Sowohl biologische, z.B. genetische oder neurohormonale, als auch konstitutionelle Eigenheiten wie das Geschlecht oder das Temperament gelten nach Steinhausen (1988) als Risikofaktoren für die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten. Perinatale Faktoren wie z.B. mütterlicher Substanzmissbrauch, maternale Infektionen oder Medikationen sind ebenso wie peri- und postnatale Kopf- und Gesichtsverletzungen, körperliche Misshandlungen und neurologische Auffälligkeiten wichtige individuelle Risikofaktoren (Steinhausen, 1988). Auch Remschmidt (1992) sieht Intelligenzdefekte, Legasthenie, Hirnerkrankungen und -schädigungen und andere somatische Erkrankungen als ursächliche Faktoren. Fernald et al. (1997) verweisen beispielsweise auf die verringerten kognitiven Funktionen

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hoch aggressiver Kinder im Vergleich zu weniger aggressiven Kindern. Auch die Sprachreife (Piel, 1997), die Lesefähigkeit (Kingston & Prior, 1995), der Intelligenzquotient (Huesmann et al., 1984) und der berufliche Status (Caspi et al., 1987) sind bei Störungen des Sozialverhaltens schlechter bzw. geringer. Die Legasthenie ist eine immer wieder als bedeutend für die Entwicklung der Dissozialität hervorgehobene Teilleistungsschwäche. Unter Strafgefangenen wurde beispielsweise eine Legastheniehäufigkeit von 33% nachgewiesen bei einer Häufigkeit unter Kindern des zweiten Schuljahres von 4%. Ursächlich werden Straftaten hier als Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen interpretiert (Nissen, 1976).

Auch das Geschlecht wird immer wieder als Risikofaktor von Dissozialität diskutiert. Jungen sind viel häufiger Verursacher und Opfer aggressiven Verhaltens als Mädchen (Rigby & Slee, 1991; Olweus, 1994). Das weibliche Geschlecht ist generell deutlich schwächer betroffen (Schmidt, 1998). Jungen wird ein deutlich höheres Aggressionspotential nachgewiesen. Beispielsweise ist das männliche Geschlecht dreimal häufiger auffällig hinsichtlich Aggressivität im Kindesalter als das weibliche Geschlecht. Bei der Delinquenz im Jugendalter sind Jungen vier bis fünfmal häufiger betroffen (Steinhausen, 1988). Zudem besteht ein eindeutiges Verhältnis von Delikten zwischen Jungen und Mädchen von 9:1 über alle Kulturen hinweg (Remschmidt, 1992). Jungen besitzen mit höherer Wahrscheinlichkeit einen schwierigen Charakter und haben Probleme sich anderen anzupassen (Prior et al, 1992). Beim weiblichen Geschlecht äußert sich Aggressivität in der Kindheit hauptsächlich in verbaler Form mit Widerspruch, Negativismus und Hänseln (Steinhausen, 1988). Die Beziehung zwischen dem Hormon Testosteron und Aggressivität wurde wiederholt untersucht, wobei in der Vergangenheit uneinheitliche Ergebnisse veröffentlicht wurden (Mattsson et al., 1980; Kreuz & Rose, 1972; Persky et al., 1971). Aktuelle Berichte erklären eine Beziehung zwischen Testosteronpegeln und körperlichen Aggressionen jugendlicher Jungen für nichtig (Schall et al., 1996).

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2. Familiäre Risikofaktoren

Familiäre Risikofaktoren für Dissozialität sind in der Literatur zahlreich beschrieben (Seydlitz & Jenkins, 1998). Übereinstimmung besteht darin, dass die Familie in der Entwicklung von Kindheitsaggressivität eine wichtige Rolle spielt. Über das Ausmaß ihres Einflusses wird aber kontrovers diskutiert (Saum-Aldehoff, 2001). Eine Reihe von Studien suggerieren, dass Eltern und Familie nicht die aller stärksten Faktoren sind, die dissoziales Verhalten beeinflussen (Seydlitz & Jenkins, 1998). So erklären Fernald et al. (1997) beispielsweise, dass „die Entwicklung gewalttätigen Verhaltens eines Kindes trotz starker biologischer und umweltbedingter Prädispositionen nicht unvermeidbar ist.“ Delinquente Jugendliche stuften in einer Studie von Goldstein (1990) folgende Familienfaktoren als wichtig für ihre delinquente Entwicklung ein: Mangel an elterlicher Liebe, Ablehnung durch die Eltern, zu strenge oder zu milde bzw. inkonsequente Erziehung, sexueller Missbrauch, die familiäre Vorbildfunktion, Streitigkeiten, Gewalt und die Qualität der Beziehung zu einem der beiden Elternteile.

Verschiedene Autoren fanden heraus, dass die Wahrscheinlichkeit einer dissozialen Entwicklung umso geringer ist, je stärker der Kinder oder Jugendlichen Zuneigung zu ihren Eltern ist (Cernkovich & Giordano, 1987; Laub & Sampson, 1988; Liska & Reed, 1985; McCord, 1991; Messner & Krohn, 1990; Wiatrowski, Griswald & Roberts, 1981; Wright & Wright, 1994). Zuneigung bedeutet entweder der Jugendlichen Gefühle für die Eltern oder der Jugendlichen Perzeption der elterlichen Gefühle für sie. Eine gute Beziehung zu mindestens einem Elternteil verringert über selteneren Kontakt zu delinquenten Freunden die eigene Delinquenz (Dentler & Monroe, 1961; Jensen, 1972; Nye, 1958; Poole & Regoli, 1979; Warr, 1993b; West, 1973). Ähnliche Ergebnisse haben die Untersuchungen im Zusammenhang mit Drogeneinnahme. Zuneigung, Nähe und Unterstützung von den Eltern sowie familiäre Bindung hemmen der Jugendlichen Drogenkonsum (Anderson & Henry, 1994; Kandel, 1980; Kandel & Adler, 1982). Dies geschieht auch über den verminderten Kontakt zu Drogen konsumierenden Freunden (Hays & Revetto, 1990; Hundleby & Mercer, 1987). Elterliche Zuneigung ist ein wichtiges familiäres

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Charakteristikum, welches bei Abwesenheit zu persistierender, schwerer Delinquenz der betroffenen Kinder und Jugendlichen führen kann (Gold, 1963; Laub & Sampson, 1988). Die Stärke des elterlichen Einflusses ist abhängig vom Geschlecht und Alter des Kindes sowie von der ethnischen Zugehörigkeit und dem sozioökonomischen Status der Familie. So ist elterliche Zuneigung vor allem bei Jungen für die normale Entwicklung von Empathie und sozialer Sensibilität wichtig (Adams et al., 1982). Familienvariablen insgesamt, d.h. verschiedene Aspekte der elterlichen Zuneigung, und Maßstäbe für Familieninteraktionen sind für Jungen bessere Vorhersager von Störungen des Sozialverhaltens als für Mädchen (Seydlitz & Jenkins, 1998).

Mit zunehmendem Alter des Kindes ändern sich nicht nur die Zuneigung, sondern auch die elterliche Einschätzung des Verhaltens und die Intensität der Eltern-Kind Konflikte (Gottlieb & Chafetz, 1977; Gottlieb & Heinsohn, 1973). Die elterliche Kontrolle sinkt (Seydlitz, 1991) wie auch der Einflusses durch Beaufsichtigung und elterliche Zuneigung (Hirschi, 1969; LaGrange & White, 1985; Matsueda & Heimer, 1987; Nye, 1958; Seydlitz, 1990 & 1991; White et al., 1987). Dies gilt nicht für afrikanisch stämmige Kinder. Hier steht die Zuneigung zu den Eltern weder bei Jungen noch bei Mädchen in Beziehung zu Delinquenz (Lauritsen, 1994).

Ein weiteres wichtiges familiäres Charakteristikum ist der Erziehungsstil (Barnes et al., 1994; Conger, 1976; McCord, 1991; Peterson et al., 1994; West, 1973). Er kann sowohl eine förderliche Variable, als auch ein Störungen inhibierender Faktor sein. Studien, die einen die Entwicklung der Dissozialität fördernden Effekt nachweisen, beziehen sich vor allem auf schlechte oder übertriebene elterliche Erziehung (Conger, 1976; Denton & Kampfe, 1994; Gold, 1970; McCord et al., 1959; Messner & Krohn, 1990; Sampson & Laub, 1994; Wells & Rankin, 1988; West, 1973). Unzulängliche innerfamiliäre Verhaltensregeln, willkürliche Belohnung und Bestrafung und aggressive, elterliche Modelle sind Ursachen von Aggressivität (Remschmidt, 1985). Kinder, deren Eltern körperliche Bestrafung als Erziehungsmethoden benutzen, werden aggressiver als Vergleichskinder (Dodge et al., 1994; Dodge et al., 1990; Sheline et al., 1994; Farrington, 1978; Kaufman & Cicchetti, 1998; Olweus,

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1994). Sie haben in ihrem späteren Leben häufiger psychologische Störungen (Wissow & Roter, 1994) und werden häufiger von ihren Freunden abgelehnt (Hart et al., 1990). Eine inkonsequente, verwöhnende Haltung der Eltern (Nissen, 1976), chronische Vernachlässigung, permanente Aufsichtslosigkeit in früher Kindheit und ein ständiger Wechsel der Beziehungsperson sind für delinquente Jugendliche typisch. Auch verschiedene Verstärkungsprinzipien erhöhen die Auftretenshäufigkeit von Aggressivität (Steinhausen & Aster, 1993). Dazu gehören nicht nur positive Verstärkung, sondern ebenso die Duldung des Verhaltens, d.h. stillschweigende Zustimmung. Unangemessene elterliche Erziehungsstile entstehen häufig infolge anhaltender familiärer Disharmonie mit chronischen Partnerkonflikten der Eltern bzw. deren Folgen (Steinhausen, 1988). Auf der anderen Seite erklären viele Studien, dass elterliche Erziehung Dissozialität reduzieren kann, vor allem Beaufsichtigung und angemessene, konsequente Sanktionen (Cernkovich & Giordano, 1987; Fagan & Wexler, 1987; Hirschi, 1969; Laub & Sampson, 1988; Messner & Krohn, 1990; Nye, 1958; Patterson & Dishion, 1985). Beaufsichtigung, Steuerung und Erziehung sollte dabei in moderater Form geschehen (Nye, 1958; Seydlitz, 1993b; Wells & Rankin, 1988). Gutes familiäres Management vermindert dabei sowohl das deviante Verhalten als auch den Alkohol- und Substanzgebrauch (Barnes et al., 1994; Conger, 1976; Peterson et al., 1994). Unter Management wird einerseits die Steuerung der Kinder und die Formulierung klarer Verhaltenserwartungen verstanden, andererseits eine gute Kommunikation und positive Unterstützung. Insgesamt kommen Seydlitz und Jenkins (1998) zu dem Schluss, dass die elterliche Beaufsichtigung wichtiger ist als erzieherische Maßnahmen, um dissoziales Verhalten zu kontrollieren, obwohl auch diese es reduzieren.

„Broken-home“ hat eine besondere Bedeutung als Auslöser von Aggressivität. Viele Autoren verweisen auf diesen Faktor, der allerdings sehr unterschiedlich definiert und somit schwer vergleichbar ist (Fernald et al., 1997; Nissen, 1976; Remschmidt, 1997; Steinhausen & Aster, 1993). Broken-home bezeichnet

1. eine biologisch/ soziologisch unvollständige Familie 2. eine innerlich dissoziierte Familie

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Remschmidt (1997) beispielsweise versteht darunter eine gestörte Familie, deren Fürsorgemängel in früher Kindheit zu Fehlentwicklung im Sinne von Verwahrlosung führen. Für Nissen (1976) prädisponiert allein das innere Milieu der familiären Gruppe, unabhängig von der Zusammensetzung, für eine dissoziale Entwicklung. Elterliche Eheinstabilität und Scheidung wird von aggressiven Kindern oft erlebt (Sheline et al., 1994; Rutter, 1978). Sie erlernen ihre Aggressivität von ihren Eltern (Bandura, 1977), was die beständige Verbindung von elterlichen Konflikten und folgender Kindheitsgewalt erklären würde (Durant et al., 1994).

Viele der bereits genannten Auslöser und Risikofaktoren von Störungen des Sozialverhaltens finden sich in Familien mit geringem sozioökonomischem Status. Obwohl Delinquenz in allen sozialen Schichten verbreitet ist, ist die Unterschicht durch eine größere Häufigkeit und Schwere der Delikte gekennzeichnet (Nissen, 1976). Von Steinhausen (1988) wird die Sozialschicht, die Familiengröße und –organisation als Bedingungsfaktoren für Störungen des Sozialverhaltens genannt. Mit zunehmender Familiengröße und sozialökonomischer Belastung sind die individuelle Erziehung und das Ausmaß an Zuwendung und Anregung vermindert. Damit ist die Qualität der Familieninteraktion herabgesetzt (Fernald et al., 1997). Eltern aggressiver Kinder wissen oft nicht, wo sie sind, was sie tun und wer ihre Freunde sind (Patterson, 1983). Der Mangel an Kontrolle setzt sie damit devianten Rollenvorbildern aus und macht sie zu leichten „Bandenrekruten“ (Johnstone, 1983). Untere Sozialschichten nehmen insgesamt häufiger an jugendlichen Banden teil (Remschmidt, 1992). Weiterhin findet man in niedrigeren Sozialschichten häufiger körperliche Bestrafung (Dodge et al., 1990; Remschmidt, 1992), was aber auch für Ein-Elternteilfamilien, belastete Umwelt und Familien mit Ehekonflikten oder Gewalt zwischen den Ehepartnern zutrifft. Kindheitsgewalt wurde in der Literatur durchgängig mit einem geringen sozioökonomischen Status assoziiert (Dodge et al., 1994; Kolvin et al., 1988; Farrington 1978). Auch strenge elterliche Erziehung, Mangel an mütterlicher Wärme, Kontakt zu aggressiven Erwachsenenmodellen und reduzierte kognitive Stimulation sind typische Assoziationen (Dodge et al., 1994). Damit

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könnte aggressives Verhalten eine Antwort auf eine belastende Umwelt verbunden mit geringem sozioökonomischem Status sein (Kupersmidt et al., 1995).

3. Peergruppen

Peergruppen sind definiert als Bezugsgruppe eines Individuums, die aus Personen gleichen Alters, gleicher oder ähnlicher Interessenlage und ähnlicher sozialer Herkunft besteht und es in Bezug auf Handeln und Urteilen stark beeinflusst (Duden, 1990). Die Mitgliedschaft in einer Peergruppe wird von Seydlitz & Jenkins (1998) als ein exzellenter Vorhersager von dissozialem Verhalten betrachtet. Insgesamt treten aber nur wenige Jugendliche delinquenten Peergruppen bei (Esbensen & Huizinga, 1993) und diese Zugehörigkeit ist für die meisten Jugendlichen von transitorischer Art (Esbensen & Huizinga, 1993; Hagedorn, 1994). 67% gehören für die Dauer eines Jahres einer Peergruppe an. Nur 3% verbleiben für vier Jahre in einer Peergruppe (Esbensen & Huizinga, 1993). Verhaltensweisen, die im Umgang mit Peergruppen gezeigt werden und von ihnen erlernt sind, bleiben oft für den Rest des Lebens bestehen (Slaby & Stringham, 1994). Inhaftierte Delinquente bezeichneten ihre Altersgenossen als zweithäufigsten Grund für ihre Delinquenz (Goldstein, 1990). Delinquente Handlungen von Jugendlichen werden oft in Gruppen verübt (Erickson & Jensen, 1977; Giordano, 1978; Giordano & Cernkovich, 1979; Gold, 1970; West, 1973). Ursächlich dafür erklären Conger (1976) und Richards (1979), dass sich Jugendliche in der gleichen Weise verhalten wie ihre Freunde. Sind ihre Freunde delinquent, tendieren auch sie zu Delinquenz. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn Jugendliche Zuneigung zu diesen Freunden empfinden, viel Zeit mit ihnen verbringen oder Zustimmung und Druck delinquente Taten zu begehen seitens dieser Freunde erhalten (Agnew, 1991). Peergruppen sind vor allem in der Adoleszenz sehr wichtig mit einem Peak um das 17. Lebensjahr und einem darauf folgendem rapiden Einflussverlust (Warr, 1993a). Dies gilt vor allem für Jungen (LaGrange & White, 1985), auf die delinquente Freunde einen größeren Einfluss haben als auf Mädchen (Jensen, 1972; Thompson et al., 1984). Das

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gleiche trifft für Delinquente mittlerer und unterer sozialer Schichten zu, für die delinquente Freunde wichtigere Prädiktoren ihrer eigenen Delinquenz darstellen als für Delinquente höherer sozialer Schichten (Erickson & Empey, 1965; Mofee, 1992). Auch hinsichtlich des Substanzmissbrauchs sind die konstantesten und stärksten Effekte durch Peergruppen nachgewiesen (Dinges & Oetting, 1993). Jugendliche, die sich stark an ihren Drogen konsumierenden Altersgenossen und Freunden orientieren, verwenden mit höherer Wahrscheinlichkeit ebenfalls Drogen (Aseltine, 1995; Burkett & Jensen, 1975; Jaquith, 1981; Kandel, 1980; Kandel & Adler, 1982; Kandel & Davies, 1991; Kaplan et al., 1982; Meier, Burkett & Hickman, 1984; Smith & Paternoster, 1987; White et al., 1987). Keine Beziehung kann zwischen Substanzmissbrauch und einem engen Freund oder Druck durch Peergruppen hergestellt werden (Kafka & London, 1991).

4. Schulfaktoren

Viele aggressive Verhaltensmuster setzen ein bevor Kinder das Schulalter erreichen. Trotzdem wirken sich die Erfahrungen in der Schule entscheidend auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung aggressiver Charakteristika aus (Fernald et al., 1997). Nach Cernkovich & Giordano (1992) sind Schulfaktoren genauso wichtig für die Entstehung dissozialen Verhaltens wie Freundes- und Familieneinflüsse. Zu diesen Faktoren gehören akademische Leistungen, die persönliche Einstellung zu Schule und erzieherische Maßnahmen in der Schule. Auch das Klima und die Struktur der Schulen tragen dazu bei.

Akademischer Druck beispielsweise provoziert Dissozialität (Seydlitz & Jenkins, 1998). Schlechte Schüler werden von anderen Schülern und Lehrern gemieden, empfinden Schule als langweilig und entwickeln eine negative Einstellung zu Schularbeit und ihren Regeln. Sie fühlen sich selbst entwertet und verbringen mehr Zeit mit Freunden, vor allem mit dissozialen Freunden (Frease, 1973; Polk & Richmond, 1972; Schafer & Polk, 1972a). Demgegenüber vermindern gute schulische Leistungen und eine gute Einstellung zur Schule dissoziales Verhalten. Sowohl ein hoher Intelligenzquotient, gute Noten und akademische Fähigkeiten als auch die Perzeption ein guter Schüler zu sein stehen invers in

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Beziehung zu Dissozialität (Agnew, 1985; Patterson & Dishion, 1985; White et al., 1987; Wiatrowski et al., 1981; Wiatrowski et al., 1982). Dies gilt ungeachtet der Rasse (Jensen, 1976), dem Selbstbewusstsein, der Einstellung zur Schule (Mann, 1981) und dem Geschlecht (Elliot & Voss, 1974; Rankin, 1980). Auch klare Schulziele und eine starke Zukunftsorientierung reduzieren die Wahrscheinlichkeit dissozialen Verhaltens (Hirschi, 1969; Polk & Burkett, 1972; Polk & Pink, 1972; Stinchcombe, 1964; White et al., 1987). Jugendliche, die Schule nicht in Verbindung mit ihrer Zukunft sehen und sie als irrelevant betrachten, sind dagegen mit höherer Wahrscheinlichkeit dissozial (Schafer & Polk, 1972a; Stinchcombe, 1964; West, 1973). Dies gilt auch für Jugendliche, die ungern in die Schule gehen (Conger, 1976; Frease, 1973; Gold, 1963; Hindelang, 1973; Hirschi, 1969; Johnson, 1979; Joseph, 1995; Mann, 1981; Peterson, 1974; Polk & Burkett, 1972; Polk & Halferty, 1966; Rankin, 1980; Thomas & Hyman, 1978; Wiatrowski et al., 1981).

Das Klima und die Struktur der Schulen kann deviantes Verhalten sowohl reduzieren als auch forcieren. Gewalt geschieht mit höherer Wahrscheinlichkeit, wenn Verhaltensroutinen und Konformität betont werden (American Psychological Association, 1993). Kinder sind am wahrscheinlichsten aggressiv, wenn von ihnen konformes Verhalten verlangt wird, unstrukturierte oder unbeaufsichtigte Situationen bestehen oder sie in Wettbewerb und körperliche Aktivitäten verwickelt sind. Werden sie verspottet, kritisiert, ihnen gedroht oder versuchen sie die Aufmerksamkeit eines Lehrers oder eines anderen Erwachsenen auf sich zu lenken können Kinder ebenfalls aggressiv werden (Haskins, 1985).

Nützliche Effekte auf das Verhalten hat die Schule, wenn Lehrer sich als gute Rollenvorbilder verhalten, Unterrichtsstunden gut gehalten werden und Schüler gelobt werden (Rutter, 1980). Auch das schulische Umfeld beeinflusst aggressives Verhalten. So zählen verminderte Klassengrößen, verstärkte Lehrerhilfe und Verantwortungsübertragung auf Schüler mit der Verpflichtung zu einer Gewaltverringerung in den Schulen beizutragen zu den protektiven Faktoren (Poole et al., 1991).

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5. Gemeinschaft

Unter dem Ausdruck Gemeinschaft werden verschiedene Faktoren subsumiert. Zum einen steht dieser Begriff für die unmittelbare nachbarschaftliche Umgebung mit ihren Zusammensetzungscharakteristika. Zum anderen beinhaltet der Ausdruck die verschiedenen Positionen ihrer Mitglieder in der Gemeinschaft. Die Beziehung zwischen Gemeinschaft und Entstehung von Dissozialität ist das am stärksten kontrovers diskutierte Thema (Seydlitz & Jenkins, 1998). Nach Seydlitz & Jenkins (1998) hat die Gemeinschaft als Risikofaktor für Dissozialität eine Rahmenfunktion. Sie liefert keine umfassende Erklärung. Bursik & Webb (1982) wiesen aber in Nachbarschaften, die Veränderungen in ihrer Zusammensetzung erfuhren, einen Wechsel der Delinquenzraten nach. Andere Studien legen nahe, dass diese Effekte durch Faktoren wie Familie, ökonomische Probleme, Mobilität und Abhängigkeit vermittelt sind (Conger et al., 1991; Laub & Sampson, 1988; Sampson & Laub, 1994; Sommers & Baskin, 1994). Delinquenz findet sich vor allem in Nachbarschaften, wo entweder die private familiäre Kontrolle, die Kontrolle durch die Gemeinschaft, z.B. in Schulen und lokalen Institutionen, oder die soziale Kontrolle öffentlicher Einrichtungen außerhalb der direkten Nachbarschaft von Labilität geprägt ist (Bursik & Grasmick, 1993). In Nachbarschaften, wo Unordnung die Norm ist, entsteht Delinquenz mit höherer Wahrscheinlichkeit. Dabei ist der Jugendlichen Beteiligung und Bindung an die Nachbarschaft relevant. Jugendliche mit starker Bindung, d.h. Beteiligung an verschiedenen Einrichtungen sowie persönlichen Beziehungen zu anderen Mitgliedern der Gemeinschaft sind seltener delinquent (Friday & Hage, 1976). Soziale Statusvariablen wie das Geschlecht, die ethnische Zugehörigkeit, der sozioökonomische Status und das Alter bestimmen die Position des Individuums in der Gemeinschaft. Diskutiert wird, ob Armut und Rassismus der Jugendlichen dieser Gemeinschaften und damit ein geringer sozialer Status ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Dissozialität darstellt. Verschiedene Studien sehen in Armut und Rassismus keine ausreichenden Konditionen, um Dissozialität auszulösen (Seydlitz & Jenkins, 1998). Dennoch scheinen bei Untersuchungen von Gefängnisbewohnern die ethnische Herkunft und Armut

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eine direkte Beziehung zu den Verhaftungsraten zu haben (Huizinga & Elliot, 1987).

6. Mediengewalt

Seit dem zweiten Weltkrieg ist ein dramatischer Anstieg der Konfrontation Jugendlicher mit den visuellen Massenmedien zu verzeichnen, der mit einer enormen Zunahme von Jugendgewalt einhergeht (Huesmann et al., 1997). Zu Hauptsendezeiten zeigen Fernsehprogramme Gewalttaten mit der Intention der Fremdverletzung oder –schädigung ungefähr acht- bis 12mal pro Stunde. In Kinderprogrammen erfolgt dies durchschnittlich 20mal pro Stunde (American Psychological Association, 1993; Sege & Dietz, 1994). 10-11 Jährige schauen durchschnittlich 28 Stunden pro Woche fern, Jugendliche etwa 23,5 Stunden (Comstock & Paik, 1991). Eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten der letzten 40 Jahre belegt die Verbindung von Konfrontation der Kinder und Jugendlichen mit Mediengewalt mit der Entwicklung gewalttätigen Verhaltens (Huesmann, 1982; Huesmann & Miller, 1994). Zwar besteht hier keine statistisch bedeutende, dafür aber eine robuste und replizierbare Beziehung (Rosenthal, 1986).

Seit Beginn der Fernsehära in den frühen 50er Jahren haben viele Veränderungen der visuellen Massenmedien stattgefunden. So sind zusätzlich zu den „normalen“ Programmen seit den 70er bzw. 80er Jahren Kabelfernsehen, Videokassetten, Musikvideos und Videospiele verfügbar. Dies erhöht die Programmauswahl und den Gewaltinhalt der Programme. Durch Videokassetten wird die Möglichkeit der Gesellschaft unterminiert, die Gewaltkonfrontation von Kindern zu kontrollieren (U.S. Bureau of Census, 1993). Inhaltsanalysen von Musikvideos dokumentieren sehr hohe Gewaltanteile (Baxter, DeRiemer, Landini, Leslie & Singletary, 1985; Brown & Campbell, 1986; Caplan, 1985; Hansen & Hansen, 1989; Sherman & Dominick, 1986). 50% aller Musikvideos enthalten mindestens eine Gewaltszene (Huston et al., 1992). Auch Videospiele nehmen Anteil an der Gewaltentwicklung. Kinder sind hier aktive Teilnehmer. Vor allem Jungen bevorzugen in etwa 50% der Fälle gewalttätige Spiele (Funk, 1993).

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Habituelle Aggressivität entsteht in früher Kindheit und prophezeit späteres aggressives Verhalten (Kagan, 1988). Sie ist zu einem Großteil erlernt durch frühe Interaktionen des Kindes mit der Umwelt (Bandura, 1973; Berkowitz, 1974; Eron, Walder & Lefkowitz, 1971; Huesmann et al., 1984). Zu den wichtigsten psychologischen Prozessen gehört das Erlernen von Verhaltensweisen, von Einstellungen und Überzeugungen durch Beobachtung. Bezüglich der Gewalt in Medien gibt es vier wichtige psychologische Prozesse, die gewalttätiges und aggressives Verhalten fördern:

1. Kinder erlernen durch Zuschauen bestimmte Verhaltensweisen, die resistent gegen Extinktion sein können (Bandura, 1977, 1986). Die Persistenz hängt von der direkten Verstärkung ab, die das Kind erhält (Bandura, 1965; Hayes Rincover & Volosin 1980).

2. Bei Internalisierung dieser Verhaltensweisen entstehen Einstellungen, die sich mit der Zeit generalisieren (Huesmann, 1982, 1988; Huesmann & Eron, 1984; Huesmann & Miller, 1994). Das Schauen von Film- oder realer Gewalt in der Kindheit trägt zur Entwicklung bleibender kognitiver Strukturen hinsichtlich aggressiver Einstellungen und Verhaltensweisen bis ins Erwachsenenalter bei. Je mehr Fernsehgewalt ein Kind sieht, desto eher akzeptiert es aggressives Verhalten (Dominick & Greenberg, 1972).

3. Einige Psychologen erklären, Aggressivität sei eine Vorraussetzung für das Anschauen von Gewalt im Fernsehen, Kino oder Video (Kaplan & Singer, 1976). Huesmann (1982) entwickelte die so genannte Rechtfertigungshypothese, die davon ausgeht, dass aggressive Menschen gerne Gewalt im Fernsehen sehen, da sie damit ihr eigenes Verhalten als normal rechtfertigen können. Diese These bedarf weiterer Forschung.

4. Je häufiger ein Individuum Gewalt in den Medien ausgesetzt ist, desto mehr wird Gewalt als eine akzeptable Verhaltensform gesehen. Durch diesen Desensibilisierungsprozess sinken individuelle Reaktionen auf Gewalt und die Wahrscheinlichkeit, das aggressive Verhalten

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nachzuahmen, steigt (Drabman & Thomas, 1974; Thomas & Drabman, 1975; Sege & Dietz, 1994).

Gesellschaftliche und individuelle Faktoren sind es, die einige Menschen mehr als andere gefährden, durch Mediengewalt beeinflusst zu werden. In einer Gewalt belohnenden Kultur, in der aggressivem Verhalten nicht mit antiaggressiven Normen entgegengetreten wird, ist ein Kind stärker gefährdet durch Gewalt im Fernsehen beeinflusst zu werden (Huesmann & Bachrach, 1988). Auch auf familiärer Ebene beeinflusst Gewaltschauen die Neigungen eines Individuums. Fernsehregeln und aktive Diskussionen tragen zu geringerer Aggressivität bei (Tangney & Feshbach, 1988). Auf individueller Ebene sind vor allem kleine Kinder besonders vulnerabel, da sie die Interaktionen zwischen Motiv und Konsequenz nicht verstehen (Collens et al, 1981; Bernard-Bonnin et al, 1991). Insgesamt bleibt aber keine Altersgruppe vor dem Einfluss verschont (Dorr & Kovaric, 1980). Vor einiger Zeit glaubte man, dass Jungen gefährdeter seien von Fernsehgewalt beeinflusst zu werden als Mädchen (Eron et al., 1972). Neuere Studien zeigen aber, dass sich Jungen und Mädchen in dieser Beziehung nicht unterscheiden (Bjorkqvist, 1985; Huesmann & Eron, 1986).

2.6 Diagnostik

In den letzten 40 Jahren gab es verschiedene für die Diagnostik der Dissozialität relevante Entwicklungen. Dazu zählte die verstärkte Nutzung quantifizierender Methoden der Beurteilung im gesamten Psychopathologiebereich. Einflussreiche Forscher waren nach Hinshaw und Zupan (1997) Quay und Patterson (Quay, 1979) sowie Achenbach (1991a). Weiter erschien die erste Auflage des DSM-I (American Psychiatric Association, 1952) zur Einteilung von der Norm abweichenden Verhaltens. Außerdem erfolgte die Ausweitung der Diagnostik dissozialer Störungen durch Familienanamnesen, Evaluation der häuslichen Atmosphäre und Struktur, Bewertung soziometrischer Informationen wie Peergruppen, Untersuchung der Nachbarschaft und psychobiologische Schlüsselindizes (Hinshaw & Zupan, 1997).

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Bei der Diagnostik kann die kategorisierende von der dimensionalen Herangehensweise unterschieden werden (Eysenck, 1986). Der kategorisierende Ansatz differenziert auf qualitativer Ebene gestörtes von normalem Verhalten. Er untersucht, ob bestimmte Merkmale vorhanden sind, die die Stellung einer Diagnose zulassen, nicht aber in welcher Ausprägung diese Merkmale die Symptomatik beeinflussen. Hinshaw et al. (1993) kritisieren hier die Aufstellung künstlicher Grenzen. Auch die Erkennung von subschwelliger Komorbidität ist sehr begrenzt (Richters & Cicchetti, 1993) ebenso wie die Möglichkeit der Einbeziehung von Umgebungsinformationen (Hinshaw & Anderson, 1996). Der dimensionale Ansatz dagegen quantifiziert die verschiedenen Funktionen wie Verhalten, Kognition und soziale sowie emotionale Aspekte. Die Grenze zwischen gesund und auffällig geht hier fließend ineinander über (Robins & McEvoy, 1990; Rutter et al., 1990; Achenbach, 1993). Diagnostische Messgrößen sollten also dimensionale und kategorisierende Daten erfassen (Hinshaw & Zupan, 1997). Mash & Terdal (1988) hoben hervor: „Die multiplen Risiken und Einfluss nehmenden Umgebungsfaktoren bei dissozialen Kindern und Jugendlichen verlangen eingehende multivariate Diagnostik, bestätigt durch empirische Validation, mit Einbeziehung von Schlüsselthemen der Entwicklung.“

2.6.1 Diagnostische Besonderheiten 1. Entwicklung der Störung

Störungen des Sozialverhaltens sind bekanntlich von hoher Verlaufsstabilität geprägt (Hinshaw et al., 1993; Huesmann, Eron, Lefkowitz & Walder, 1984). Über verschiedene Entwicklungsstadien hinweg verändert sich aber die Symptomatik der Störung. Dies wird von Kagan (1969) und Moffitt (1993) als heterotype Kontinuität bezeichnet. Für die Diagnostik impliziert dies die Entwicklung eigener Evaluationsstrategien für verschiedene Altersstufen, d.h. solcher Instrumente, die bestimmte Entwicklungswege und Prozesse erfassen, die abweichende Verhaltensmuster aufrechterhalten oder fördern (Hinshaw & Zupan, 1997).

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2. Subtypen der Störungen des Sozialverhaltens

Wie bereits im Abschnitt 2.4 „Leitsymptome“ beschrieben, werden Verhaltensstörungen in verschiedene Untergruppen unterteilt. Jede hat eigene, charakteristische Merkmale hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses, der Entwicklungsgeschichte, des Verlaufs, der Prognose und auch des Schweregrades (DSM IV, American Psychological Association, 1994; Moffitt, 1993). Eine präzise klinische Diagnostik beinhaltet daher die präzise Bestimmung der Art der aggressiven und dissozialen Verhaltensmuster (Hinshaw & Zupan, 1997). Eine Unterscheidung der Aggressivitätsmuster liefert wichtige Hinweise zur Typisierung der Störung und damit der Behandlungsform.

3. Komorbidität

Sind Störungen des Sozialverhaltens mit komorbiden Erkrankungen assoziiert, findet man sehr unterschiedliche Entwicklungsanamnesen, assoziierte Merkmale und Therapieerfolge (Capaldi, 1991; Hinshaw et al., 1993). Nach Ansicht von Hinshaw und Zupan (1997) sollte in die Diagnostik die Untersuchung des Hyperaktivitätssyndroms, von Internalisierungsstörungen und von schulischen Mängeln integriert werden.

4. Kombination verschiedener Informationsquellen

Die Übereinstimmung von Aussagen verschiedener Informanten in der Diagnostik ist je nach Art der Störung sehr variabel. Bei Externalisierungsstörungen ist sie beispielsweise höher als bei Internalisierungsstörungen. Dennoch untertreiben Kinder mit oppositionell-trotzigem und hyperaktivem Verhalten im Vergleich zu Erwachsenen stark (Loeber, Green, Lahey und Stouthamer-Loeber, 1989, 1991). Dies gilt vor allem bei präpubertären Kindern, bei denen die Eigeneinschätzung wenig Nutzen bringt. Jugendliche dagegen berichten verlässlich auch über verdeckte dissoziale und internalisierende Symptommuster (Herjanic & Reich, 1982; Loeber et al., 1991). Ausgenommen ist hier das persönliche Interview. Ehrlichkeit und Validität generieren computergeleitete, diagnostische Interviews.

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2.6.2 Methoden der Diagnostik

Bei der Diagnostik von Verhaltensstörungen wird zwischen direkten und indirekten Methoden unterschieden (Reitman et al., 1998). Im Folgenden werden indirekte und direkte Diagnostikansätze getrennt nach dem Alter des Informanten mit ihren Vor- und Nachteilen behandelt.

1. Indirekte Methoden

Indirekte Methoden der Verhaltensdiagnostik erheben Informationen im symptomfreien Intervall. Hierzu gehören Interviews und sogenannte „Rating-Scales“, welche im Folgenden erläutert werden sollen.

1. Interview: Das Verhaltensinterview ist das am häufigsten verwandte Diagnostikinstrument (Gross, 1984; Swann & McDonald, 1978). Es kann unstrukturiert oder strukturiert geführt werden. Für strukturierte Interviews sind die Reliabilität und Validität höher. Sie dienen der Spezifizierung einer Diagnose und helfen, die Symptome durch Bestimmung ihres Beginns und Endes in einen präzisen Zeitrahmen einzuordnen. Die Erhebung präziser Informationen ermöglicht die kategoriale Diagnosestellung (Hinshaw & Zupan, 1997). Eine Schulung der Interviewer sollte großen Wert auf eine übereinstimmende Durchführung legen. So ist beispielsweise zur Erlangung wichtiger Informationen über komorbide internalisierende Diagnosen ein sensibel strukturiertes Interview nötig (Hinshaw & Zupan, 1997). Die Wahl des Interviews hängt von den Charakteristika des Interviewers und dem Zweck der Diagnostik ab (Hodges, 1993). Für eine klinische Diagnosestellung sind Interviews nicht ausreichend (Hinshaw & Zupan, 1997). Beispielsweise kann striktes Zählen von Symptomen aus strukturierten Interviews zu falsch-positiven Ergebnissen führen (Hodges, 1993).

Das Interview mit erwachsenen Berichterstattern war lange Zeit eine Hauptstütze der klinischen Diagnostik von Kindern und Jugendlichen. Es wurde meist unstrukturiert geführt mit einem den Austauschfluss im Großen und Ganzen bestimmenden Interviewer. Das zunehmende

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Interesse an formalen Diagnosen propagierte die Führung von strukturierten Interviews (Hodges, 1994).

Zur Entwicklung altersangepasster Kinderversionen von strukturierten

diagnostischen Interviews bedurfte es der Änderung der Sprache und

des Ausdrucks bestimmter Fragen (vergleiche das Child Assessment Schedule (CAS) von Hodges et al., 1982). Obwohl für eine Altersspanne von sechs bis 18 Jahren entwickelt, sind strukturierte Interviews für Kinder unter 10 Jahren nicht geeignet. Symptomberichte sind im Alter unter 10 Jahren, vor allem bei oppositionell-trotzigen Störungen, extrem unreliabel (Edelbrock et al., 1985). Informelle Interviews, z.B. ein Spiel oder ein Spaziergang, zum Erhalt einer initialen Diagnostik von prominenten Verhaltensweisen und zum Aufbau einer therapeutischen Beziehung sind hier viel aufschlussreicher (Hinshaw & Zupan, 1997). Mit zunehmendem Alter erhöht sich die Reliabilität kindlicher Berichte über psychiatrische Symptome (Edelbrock et al., 1985), so dass bei Kindern ab 10 Jahren strukturierte Interviews eine nützliche diagnostische Hilfe sein können. Dies gilt vor allem für schwer dissoziales Verhalten und für Internalisierungsstörungen (Herjanic & Reich, 1982). Das Niveau offen aggressiven Verhaltens wird, verglichen mit Informationen von Müttern und Lehrern, von den Kindern oft untertrieben (Kazdin, Esveldt-Dawson, Unis & Rancurello, 1983; Ledingham, Younger, Schwartzman & Bergeron, 1982). Für verdeckt dissoziales Verhalten bestehen dagegen reliable, valide und unabhängige Berichte von Kindern und Jugendlichen (Loeber, Schmaling, 1985b; Loeber, Green et al, 1989). In der Adoleszenz ist vielmehr Eltern verdecktes Verhalten weniger bewusst, da diese Altersgruppe zunehmend ohne direkte elterliche Aufsicht ist. Zusätzlich zu den strukturierten diagnostischen Interviews wurden verschiedene Formen halbstrukturierter Interviews für dissoziale Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen entwickelt. Beispiele halbstrukturierter Interviews mit akzeptablen psychometrischen Eigenschaften sind:

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• Interview for Antisocial Behavior (IAB) von Kazdin und Esveldt-Dawson (1986) für 6-13 jährige Kinder

• Self-Report of Delinquency Questionnaire (SRD) von Elliot, Huyzinga und Ageton (1985) für Jugendliche im Alter von 11-17 Jahren

• Self-Report of Antisocial Behavior (SRA) von Loeber, Stouthamer-Loeber, Van Kammen und Farrington (1989) für 7-10 jährige Kinder

2. Ratingskalen: Zunächst soll auf die Durchführung mit erwachsenen

Informanten eingegangen werden. Ratingskalen mit breitem inhaltlichem Umfang, die sowohl die Deskription dissozialen Verhaltens als auch anderer kindlicher Störungen beinhalten, werden von Skalen abgegrenzt, die speziell für die Diagnostik von Verhaltensstörungen des Kindes entwickelt wurden (Hinshaw & Zupan, 1997). Diese dienen der Diagnostik des Schweregrades offen aggressiven Verhaltens, der Identifizierung möglicher komorbider Störungen sowie deren Abgrenzung zu Störungen des Sozialverhaltens.

Umfangreiche, häufig verwandte Ratingskalen zur primären Diagnostik sind:

• Child Behavior Checklist (CBCL) von Achenbach (1991a)

• Revised Behavior Problem Checklist (RBPC) von Quay & Patterson (1983)

Bekannte spezifischere Ratingskalen sind:

• Eyberg Child Behavior Inventory (ECBI) von Eyberg & Robinson (1983)

• Conners Abbreviated Symptom Questionnaire (Conners, 1990) • Iowa Conners Parent and Teacher Rating Scale (CRS), (Loney &

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Vorteile von Ratingskalen bestehen in der Vielzahl der Informationsquellen, in der Möglichkeit Informationen auch über außerhalb der Klinik zu beobachtendes Verhalten (z.B. Stehlen, Kämpfen) zu erlangen sowie in der Vereinfachung des Vergleichs der Verhaltensbeschreibung durch verschiedene Personen an verschiedenen Lokalitäten (z.B. Schule, Zuhause).

Nachteile bestehen in der Skalenauswertung, da auch solche Kinder Grenzwerte einer Skala überschreiten, die nicht real gestört sind. Hinsichtlich der zeitlichen Einordnung, wie Beginn oder Dauer der Symptomatik mangelt es an Präzision (Hinshaw & Zupan, 1997). Bestimmte Fragen oder Definitionen werden unterschiedlich subjektiv interpretiert. So aggravieren Lehrer beispielsweise dissoziales Verhalten, was zu Problemen in der Abgrenzung zu hyperaktiven Verhaltensmustern führen kann (Abikoff, Courtney, Pelham & Koplewicz, 1993). Umfangreichere Skalen sind zur Diagnostik durchschnittlich besser geeignet (Hinshaw & Nigg, 2001). Exemplarisch sei die CBCL genannt, die eine der am weitesten verbreiteten Ratingskalen für die Diagnostik von Externalisierungsstörungen darstellt. Sie ist das umfassendste Instrument mit der Möglichkeit verschiedene Indices über verschiedene Altersstufen und beide Geschlechter hinweg zu ermitteln, z.B. offene Aggressivität, Delinquenz und soziale Kompetenz (Hinshaw & Zupan, 1997). Zudem bestehen parallel Eltern- und Lehrerformen (Teacher Report Form von Achenbach (1991b)), so dass reliable und valide Informationen verschiedener Informanten verfügbar sind (Verhulst, Koot & Van der Ende, 1994).

Eine Schwäche aller Verhaltensratingskalen ist das Fehlen gut ausgearbeiteter Validität, so dass die Berücksichtigung anderer Datenquellen wichtig ist. Diese Datenquellen schließen so genannte

Self-Report-Ratingskalen ein, die für Kinder ab sieben Jahre konzipiert

sind. Diese Skalen geben wichtige Informationen über die Stärken und Schwächen eines Kindes (Bird, Gould & Staghezza, 1992; Finch & Rogers, 1984; Stanger & Lewis, 1993). Die wichtigsten Self-Reports sind:

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• Youth-Self-Report (YSR) von Achenbach & Edelbrock (1987) für 11-18 Jährige mit adäquater Validität und Reliabilität.

• Children’s Action Tendency Scale (CATS) • Children’s Self-Report Questionnaire (SRQ)

Der YSR und der SRQ sind die effektivsten Instrumente zum breit angelegten Screening, wobei der YSR das psychometrisch fehlerfreiere Instrument ist.

2. Direkte Methoden

Die direkte Beobachtung wird sowohl in naturalistischem Rahmen durchgeführt, vor allem Zuhause und in der Schule, z.B. Direct Observation Form (DOF) von Achenbach (1991b), als auch in klinisch analogen Settings, z.B. Behavior Coding System (BCS) für Hyperkinetiker. Sie steuern wichtige Informationen zum Gelingen einer Therapie bei und können Eltern- und Kinderratings bestätigen bzw. widerlegen. Direkte Beobachtungsstrategien des Kindes und Jugendlichen haben wichtige methodische Vorteile: bessere Objektivität, geringere potenzielle Beeinflussung durch äußere Faktoren und die Möglichkeit, unterschiedliche persönliche Interessen voneinander abzugrenzen (Hinshaw, Simmel & Heller, 1995). Sie produzieren validere und kontrolliertere Ergebnisse, sind aber im Gegensatz zu indirekten Methoden zeitaufwendiger und teurer. Um Einvernehmen zwischen den Beobachtern zu erlangen, ist ständige intensive Supervision nötig (Hinshaw & Zupan, 1997). Da dissoziales Verhalten mit recht geringer Basisrate auftritt, sind meist wiederholte Stichprobenuntersuchungen nötig. Verdeckt dissoziales Verhalten ist durch die Entwicklung eines Laborversuchs zu beobachten. Dazu werden z.B. verschiedene Kinder in Versuchung gebracht, Geld zu klauen oder Dinge zu zerstören (Hinshaw, Heller & McHale, 1992; Hinshaw et al., 1995). Dies bewirkt Probleme mit der ökologischen Validität und mit der ethischen Verantwortbarkeit (Hinshaw et al., 1992).

Zusammenfassend sollte sich die Diagnostik bei dissozialen Störungen aus Interview, Verhaltensratingskalen, Eigenberichten und direkten

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