Die Behandlung Dissozialer wird durch viele offene, ungeklärte Fragen erschwert. Zunächst erscheint es sinnvoll, Störungen des Sozialverhaltens als eine Erkrankung anzuerkennen, wie dies auch von der WHO vorgeschlagen wird. Besonders wichtig erscheint die eindeutige Klärung der Zuständigkeit bei der Unterstützung und Behandlung von Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens. Solange diese vor allem für die Psychiatrie umstritten ist, d.h.
eine Zuständigkeit seitens der Kinder- und Jugendpsychiatrie nur als Krisenintervention definiert wird, kann eine Behandlung der betroffenen Patienten dort nicht mit Erfolg durchgeführt werden. In einem zweiten Schritt wären dann spezifischere Behandlungsmaßnahmen über einen ausreichenden Zeitraum nötig. Eine Kernaufgabe der Therapeuten wäre dabei, den Patienten die nötige Behandlungsmotivation zu vermitteln.
Um diese Ziele zu erreichen, erscheint eine deutlichere, differenziertere Behandlungsdarstellung bereits in der Basisdokumentation sinnvoll, um so den Verlauf der Erkrankungen besser in Bezug zu der erfolgten Therapie stellen zu können. Damit könnte eine Optimierung der Therapie und deren Effektivität erreicht werden, die dann eine fundiertere Erfolgseinschätzung von Therapieformen ermöglichen würde.
8 Zusammenfassung
1. Fragestellung
In der vorliegenden versorgungsepidemiologischen Studie werden Patienten der ICD-10 Diagnose F91 und F92 (Störungen des Sozialverhaltens) im Rahmen der Qualitätssicherung und Therapieevaluation an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Philipps-Universität Marburg evaluiert. Unterschiede bzw. Selektionsfaktoren zwischen dieser Stichprobe und der Vergleichspopulation bestehend aus allen anderen Diagnosen sollen aufgrund von acht Hypothesen auf ihre Signifikanz untersucht werden. Fernziel soll die Identifizierung von Therapiestrategien sein, die zur Verbesserung der Prognose beitragen könnten.
2. Methodik
Die Datenerhebung erfolgte durch wissenschaftliche Mitarbeiter, Doktoranden und Therapeuten mittels eines telefonischen Interviews und Fragebögen in der Zeit von 1995 bis 2000. Alle stationär und teilstationär behandelten Patienten sind in dieser Studie im Sinne einer unausgelesenen, stationären Inanspruchnahmepopulation erfasst und werden bei Aufnahme, Entlassung sowie vier Wochen und 1,5 Jahre nach Entlassung untersucht. Auf diese Weise liegen Informationen von 1972 Patienten vor, die Symptomatik und Verlauf, Begleitumstände sowie den Erfolg und die Zufriedenheit mit der Behandlung, die Umstände des Behandlungsendes und die Lebensqualität der Betroffenen abbilden. Davon gehören 433 Patienten zur Untersuchungsstichprobe, d.h.
Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens, und 1531 Patienten zur Vergleichsstichprobe, bestehend aus allen anderen Diagnosen.
3. Ergebnisse
Es konnte gezeigt werden, dass sich die dissozialen Patienten durch signifikant andere Komorbiditäten auszeichnen als Patienten der Vergleichsgruppe. Weiter
bestehen eine signifikant größere Einschränkung ihres sozialen Funktionsniveaus sowie signifikant verschiedene Beschulungsformen. Während der Behandlung sind die Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens und ihre Eltern signifikant unkooperativer, zeigen im Vergleich zu der Vergleichsgruppe einen signifikant geringeren Behandlungserfolg, sind aber im Langzeitverlauf nicht signifikant erfolgloser oder unzufriedener bezüglich ihrer Behandlung.
4. Diskussion
Der Evaluation von Therapie kommt heute eine entscheidende Bedeutung zu, die bisher in der kinder- und jugendpsychiatrischen Forschung noch nicht ausreichend berücksichtigt wird. Dies gilt insbesondere für Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens. Unsere erhobenen Daten konnten mehrere Annahmen aus der Literatur bestätigen, wie z. B. die höhere Belastung der Betroffenen mit komorbiden Störungen. Andererseits konnten wir unsere postulierte Annahme, dass die Behandlung häufiger von diesen Patienten abgebrochen wird, nicht bestätigen, da dies vielmehr für die Vergleichsstichprobe zutrifft. Zukünftige Studien sind nötig, um diesen Zusammenhang zu klären. Im Hinblick auf Störungen des Sozialverhaltens zeigte sich insgesamt, dass der Langzeiterfolg durch eine Kooperation von Psychiatrie und Jugendamtseinrichtungen mit der Anwendung von gesicherten bzw. wahrscheinlich wirksamen Therapieformen, wie z.B. der Eltern-, Familien-und kognitiven Therapie, erreichbar scheint.
Die vorliegende Arbeit mit ihrem versorgungsepidemiologischen Ansatz sowie der nach erfolgter Prüfung von Reliabilität und Validität angewendeten Datenerhebung mittels der telefonisch durchgeführten Katamnese ist eine von uns entwickelte und seit mehreren Jahren erfolgreich durchgeführte Methode der dauerhaften Qualitätssicherung und Therapieevaluation, die sich nicht nur an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Marburg zum breiten Einsatz anbietet. Die standardmäßige Durchführung einer solchen Therapieevaluation stellt eine Vorraussetzung für die Erkennung und Änderung überholter Therapieformen dar.
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