Deutsches Ärzteblatt
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21. Mai 2010 A 1021Das Leser-Forum
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STERBEHILFE
Schweizer Ärzte warnen davor, die organisierte Suizid- hilfe für schwer chronisch Kranke zu erlauben (DÄ 13/
2010: „Sterbehilfe- diskussion in der Schweiz: Unbehagen der Ärzte“ von Gisela Klinkhammer).
Offener diskutieren
Das Unbehagen Schweizer Kolle- ginnen und Kollegen ist ein wohl- überlegtes Unbehagen. Und bei al- lem berechtigten Hinweis auf die Verzweiflung als Erfahrungshinter- grund suizidaler Ansichten sollte man das Kind dennoch nicht mit dem Bade ausschütten. Denn die
„tiefen Ambivalenzen“ begründen sich aus der eigenwilligen Struktur der suizidalen Erfahrung. Deren zentrales Merkmal ist gerade, dass der Mensch in seiner ihm überaus bewussten Ohnmacht, in irgendei- ner Hinsicht irgendetwas an seiner Verzweiflung verändern zu können, die Möglichkeit des Suizids für sich entdeckt. Es ist, in der Sicht des Be- troffenen, die letzte wirksame Handlung, welche hinsichtlich der Änderung der eigenen Verzweiflung nicht folgenlos bleiben wird. Ein gewisses Maß an Selbstbestimmung kann dem Menschen, der sich tötet, also nicht abgesprochen werden (bei aller Enge seiner reflexiven Verge- wisserung, die durch seine Ver- zweiflung vorgezeichnet ist). Dieser eigenwilligen Struktur der suizida- len Erfahrung entspricht nicht nur, dass eine vom Betreffenden zu- nächst ungeahnte Hilfe oftmals möglich ist, welche dann die Option des Suizids aus dem näheren Blick- feld entschwinden lässt (wie es ne-
ben der palliativen Medizin am Le- bensende insbesondere auch die Psychiatrie beziehungsweise Psy- chotherapie zeigt). Sondern hierzu passt auch, dass die Suizidprophyla- xe in unserer Gesellschaft letztlich ein Angebot (und keine Verpflich- tung) ist. Dass eine Sterbehilfe in gewissen Fällen geboten sein kann (Stichwort: palliative Sedierung), ändert nichts daran, dass derjenige, der sich sein Leben nehmen will, dies letztlich selbst tun muss. Ange- sichts dieser besonderen Struktur der suizidalen Erfahrung brauchen auch wir in Deutschland eine offe- nere Diskussion über die Größe und Gestalt der „Schlupflöcher“ unserer Praxis der Suizidverhütung bezie- hungsweise -gewährung, statt im Verweis auf die ärztliche Garanten- stellung ein (praxisfernes) Entwe- der-oder zu fordern. Die Schweizer Kollegen könnten hier durchaus ein Vorbild sein.
Priv.-Doz. Dr. med. Jann E. Schlimme M.A., Christian-Doppler-Klinik Salzburg,
Universitätsklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität, A-5020 Salzburg
PSY C HIA TRIE
Im neuen Abrech- nungsschlüssel wer- den notwendige Ver- sorgungsstrukturen nicht abgebildet (DÄ 10/2010: „DRG in der Psychiatrie:
An den Bedürfnissen vorbei“ von Marc Meißner).
Konstruktiver Gegenvorschlag
. . . Bisherige Berichte lesen sich zu harmlos. Die negativen Auswirkun- gen für die Versorgung psychisch Kranker werden nicht erkannt –
oder sollen nicht erkannt werden.
Kritische Nachfragen und Proteste unerwünscht.
Und es sind nicht nur der ambulante Bereich oder sektorübergreifende Ansätze nicht berücksichtigt.
Die Deutsche Gesellschaft für Ge- rontopsychiatrie und -psychothera- pie hat eine sehr praxisnahe sechs- seitige Auflistung von Basisleistun- gen der Gerontopsychiatrie veröf- fentlicht, die sich nicht in den
„25-Minuten-Therapieeinheiten“
der OPS fassen lassen, aber doch den Kern (geronto-)psychiatrischer Arbeit ausmachen.
Stellt man diese Auflistung den bis- her veröffentlichten sogenannten Komplexcodes und Codierrichtlini- en gegenüber, wird schnell deutlich, dass sich eine lebendige, humane und an fachlichen Standards orien- tierte Psychiatrie nie und nimmer mit einem solchen praxisfernen, am grünen Tisch ersonnenen und einzig auf Schematisierung und Kosten- kontrolle ausgerichteten Entgeltsys- tem wird umfassend darstellen las- sen, es sei denn, man räumte diesen Basisleistungen gegenüber den OPS-Ziffern einen Anteil von über 90 Prozent am Klinikbudget ein.
Umgekehrt lässt die Einführung ei- nes solchen Systems befürchten, dass wesentliche und unverzichtba- re Teile unserer psychiatrischen Ar- beit, da im neuen Entgeltsystem nicht dargestellt und somit nicht vergütet, schlicht entfallen oder um- sonst erbracht werden müssten.
Also sollte man meines Erachtens daraus den einzig konsequenten Schritt ableiten und die Einführung eines solchen pauschalierenden Entgeltsystems aus fachlicher Sicht unisono ablehnen.
Denn: Das Ganze der Psychiatrie ist wesentlich mehr als die Summe sei-
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21. Mai 2010 ner – gewaltsam in die 25-Minuten-Taktung gepressten – Teile.
Nicht psychiatrische Behandlung hat sich dem Entgeltsystem, son- dern ein Vergütungssystem hat sich klinischen Realitäten und fachli- chen Vorgaben anzupassen.
Der immense personelle und finan- zielle Aufwand für die Implemen- tierung eines solchen Entgeltsys- tems geht vollständig zulasten der ohnehin schon unter immer schwie- rigeren Bedingungen zu erbringen- den therapeutischen Arbeit mit dem Patienten. Immer weiter sich aufblä- hende Bürokratie und ausufernde Dokumentationspflichten nähren lediglich entsprechende staatliche Institutionen sowie Heerscharen kommerzieller Beratungsfirmen und entziehen so Versichertengelder der eigentlichen Patientenversorgung . . . Konstruktiver Gegenvorschlag könnte eine Weiterentwicklung und vorsichtige Ausdifferenzierung der Psychiatrie-Personalverordnung mit ihrer Klassifizierung von Behand- lungsbereichen und Patientengruppen und der berufsgruppenspezifischen Zuschreibung von Minutenwerten sein. Der hierfür erforderliche Auf- wand würde sich im klinischen Routinebetrieb darauf beschränken können, jeden einzelnen Patienten an jedem Behandlungstag einer am Behandlungsaufwand orientierten Kategorie zuzuordnen . . .
Dr. med. Johannes Ullrich, 75365 Calw/Hirsau
Negative Stimmung verbreitet
Die Umrisse der Entwicklung des neuen Entgeltsystems für Psychia- trie und Psychosomatik sind erst seit wenigen Wochen zu erkennen, da wird schon behauptet, dass es sich um eine verpasste Chance han- delt. Das Urteil fällt schnell, und man kann sich des öffentlichen Bei- falls sicher sein . . . Aber ist es des- halb berechtigt, die Öffentlichkeit einseitig zu informieren und eine negative Stimmung zu verbreiten, welche die notwendigen Anpassun- gen in den Kliniken erschwert? . . . Die Entwicklung des neuen Entgelt- systems findet im Sinne eines ler- nenden Systems statt. Es soll dazu führen, dass die Entgelte zuneh-
mend leistungsgerechter und -diffe- renzierter werden. Wenn dies gelän- ge, würde es bedeuten, dass auf- wendige Leistungen für einen ein- zelnen Patienten besser finanziert werden, intensiver zu behandelnde und betreuende Patienten einen hö- heren Tagessatz in der Behandlung erhalten. Das wäre doch gut. Ganz klar besteht die Gefahr eines Sys- temanreizes, dass einfach nur mehr Therapie (ob sinnvoll oder nicht) besser bezahlt wird.
Das neue Entgeltsystem wird dazu führen, dass transparenter wird, welche Patienten einen stationären und teilstationären Klinikaufenthalt benötigen und welche Leistungen für den einzelnen Patienten erbracht werden. Die Transparenz müssen die psychiatrischen und psychoso- matischen Klinken nicht fürchten.
Dennoch besteht sicherlich die Ge- fahr, dass die Veränderungen zu ei- ner unverhältnismäßigen Zunahme der Bürokratie führen und die Me- dizinischen Dienste die Transparenz vor allem im Sinne von Kontroll- möglichkeit interpretieren.
Die Finanzierung des psychiatri- schen Versorgungssystems ist der- zeit ungerecht, da die tagesgleichen Pflegesätze zwischen 170 und 350 Euro schwanken – obwohl dies si- cherlich nicht durch unterschiedli- che Patientenpopulationen zu erklä- ren ist. Diese Gerechtigkeitslücke zu schließen, ist eine Chance des neuen Entgeltsystems. Dabei wird es Verlierer geben, die verständli- cherweise nicht jubeln, aber eigent- lich auch wissen, dass ihre Argu- mente für die bestehenden Differen- zen schwach sind.
Die fehlende Einbeziehung der psy- chiatrischen Institutsambulanzen im ersten Schritt ist eine richtige Ent- scheidung, da sowohl die Doku- mentation als auch die Finanzierung der Institutsambulanzen in den Bundesländern völlig unterschied- lich sind. Der Gesetzgeber hat in
§ 17 d SGB V vorgegeben und da- mit den Willen bekundet, dass die PIAs einbezogen werden . . . Die berechtigte Hoffnung, dass mit dem neuen Entgeltsystem innovati- ve Versorgungsformen, wie zum Beispiel integrierte Versorgung, Home Treatment, auskömmlich fi-
nanziert umgesetzt werden können, wird der zweite Schritt sein, dessen Vorbereitung in den sogenannten Prüfaufträgen im Gesetzestext fest- geschrieben wurde. Erfahrungen aus lokalen Initiativen, wie zum Beispiel dem sogenannten Regio- nalbudget in Schleswig-Holstein, werden dabei zu berücksichtigen sein . . .
Dr. med. Iris Hauth, PD Dr. med. Frank Godemann,
St. Joseph-Krankenhaus Berlin Weißensee GmbH, 13088 Berlin
OPIA TA BH Ä NGIGE
Die Bundesärzte- kammer hat novel- lierte Richtlinien zur Substitution be- schlossen (DÄ 11/
2010: „Substituti- onsbehandlung Opiatabhängiger: Neue Richtlinien ver- abschiedet“ von Wilfried Kunstmann, Christoph von Ascheraden und Frieder Hessenauer).
Existenz massiv bedroht
In den letzten Jahren erlebten wir hier in Niedersachsen eine massive Existenzbedrohung von substituie- renden Ärzten (Gefängnis, Berufs- verbot, Disziplinarstrafen, Raster- fahndung, gesteigerten Verwal- tungsaufwand, straf- und verwal- tungsrechtliches Prozessieren), dem nun hoffentlich eine Phase der Ver- sachlichung folgt.
Leider sind öffentlich-rechtliche Körperschaften wie medizinischer Dienst, Kassenärztliche Vereini- gung, Ortskrankenkassen sowie de- ren Gutachter derart aufgetreten, dass oben genannte Schäden die Folge waren. Eklatantestes Beispiel ist im „Spiegel“ Anfang des Jahres nachzulesen.
Meines Erachtens sind nun die ver- öffentlichten Richtlinien geeignet, auch die Verantwortung und Fürsor- ge der selbst nicht substituierenden Körperschaften zu bekräftigen und die Substitution nicht allein den
„Einzelkämpfern an der Front“
– insbesondere den sicherstellen- den Vertragsärzten – zu überlas- sen . . .
Jürgen Schlee, 31675 Bückeburg
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D k l S s 2 o Opiatabhängiger: Ne