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ür den Berufsverband der All- gemeinärzte (BDA) war der 20. Hausärztetag in Dortmund kein Anlaß zu einer optimisti- schen Einschätzung der bisher er- reichten Ziele. Für den BDA ist das Ende der Duldungsstarre erreicht.Damit die hausärztlich tätige Spezies unter den niedergelassenen Ärzten künftig als derSparkommissar aktiviert werden kann, müßten Be- dingungen erfüllt werden, die zum Teil ineinandergreifen, die sich zum Teil aber gegenseitig bedingen. Statt die staatlichen Vorgaben einer sturen Kostendämpfungspolitik zu Lasten der Hausärzte bis ins Tezett umzuzu- setzen, müsse eine Neustrukturierung im ambulanten Sektor erfolgen. Erst dann könnten die auch von den Hausärzten begrüßten Strukturver- träge gemäß § 73 a Sozialgesetzbuch V (SGB V) entworfen und Hausarzt- modelle, vernetzte Praxen und ande- re Kooperationsformen auf dieser Basis erprobt werden. Eine weitere Vorbedingung für
den BDA ist die kon- sequente Umsetzung des in § 73 SGB V seit 1989 verankerten Gliederungsauftra- ges. Erst dann könne der Einheitliche Be- wertungsmaßstab (EBM) auf der Basis von fachgruppenspe- zifischen Leistungs- komplexen weiter- entwickelt werden.
Denn, so wurde ar- gumentiert, auf ei- nem unabgegrenz- ten, ungegliederten Tätigkeitsfeld könne kein den Leistungs- intensitäten beider Gruppen (Haus-/
Fachärzte) gerecht
werdendes Honorarsystem aufgebaut werden. Andernfalls müßten die Hausärzte wie bisher ein existentiel- les Kümmerdasein im unteren Drittel der Einkommensskala fristen.
Der Vorsitzende des BDA, Dr.
med. Klaus-Dieter Kossow, Facharzt für Allgemeinmedizin, Achim-Ba- den, warf dem Vorstand der Kas- senärztlichen Bundesvereinigung (KBV) vor, er habe dieses zentra-
le Problem der vertragsärztlichen Versorgung seit zehn Jahren ver- schleppt. Der jetzt kursierende Ent- wurf eines Strukturvertrages nach
§ 73 a SGB V sei für die Hausärzte in- akzeptabel und verschärfe das Pro- blem mit der Folge, daß es zu einer
chaotischen, unkoordinierten und im- mer teurer werdenden Patientenver- sorgung kommt. Ein System mit knapper werdenden Mitteln, das zu- dem unter dem Diktat der Beitrags- stabilität steht, könne sich künftig kei- ne Doppel- und Mehrfachstrukturen, Doppeldiagnostik und -therapie und ungezügelte fachärztliche Mengen- ausweitung leisten. Dadurch drohe das Krankenversorgungssystem und
das System der kassenärztlichen Si- cherstellung kurzfristig zu kippen.
Die Gefahr bestehe, daß der Gesetz- geber dann erneut eingreife und die Leistungen rationiere.
Die strukturelle Erneuerung der ambulanten Versorgung sei um so dringlicher, als via Psychotherapeu- tengesetz und die vertragliche Zulas- sung eines neuen Heilberufes – der psychologischen Psychotherapeuten – finanzielle Mittel der Krankenversi- cherung zu Lasten der ärztlichen Ge- samtvergütung abgezweigt werden sollen (rund 1,5 Milliarden DM p. a.).
Strukturelle Erneuerung
Was die Animositäten der Fachärzte gegenüber den Hausärzten und deren Widerstand gegen eine Strukturierung auf die jeweils indi- zierte Fachebene betrifft, stellte BDA-Bundesvorsitzender Kossow klar: „Niemand bezweifelt die Kom- petenz der Fachärzte für die spe- zialärztliche Versorgung, wie umge- kehrt die Fachärzte sich nicht über die Qualität und Kompetenz der Haus- ärzte negativ auslassen sollten.“ Be- rufserfahrene Fachärzte, die erfolg- reich im Klinikbereich tätig waren, dürften sich nicht ohne einen Tag all- gemeinärztlicher Weiterbildung und ohne Berufserfahrung im ambulanten Sektor in hausarztspezifische Belange einmischen. Fachärzte hätten in der Regel keine Kompetenz in der hausärztlichen Versorgung. Was die A-2611
P O L I T I K AKTUELL
Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 41, 10. Oktober 1997 (19)
20. Deutscher Hausärztetag
Sympathien für das Primärarztsystem
Der Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands – Hausärzteverband – e.V. (BDA) hat während des 20. Deutschen Hausärztetages am 17./18. September in Dortmund erneut die in § 73 SGB V seit 1989 verankerte Gliederung der vertragsärztlichen Versorgung in einen hausärztlichen und einen spezialärztlichen Sektor angemahnt und die Selbstverwaltung (KBV/Krankenkassen) aufgefordert, Strukturverträge nach Maßgabe von § 73 a SGB V abzuschließen. Der BDA will direkt mit der Politik über die Einführung eines „hausarzt- gestützten Primärarztsystems auf der Grundlage von dreiseitigen Verträgen“ verhandeln.
„Hausarzt statt Rationierung“, so das Thema des 20. Deutschen Hausärzte- tages und der Delegiertenversammlung des Berufsverbandes der Allge- meinärzte Deutschlands – Hausärzteverband – e.V. (BDA) vom 17. bis 20.
September in Dortmund. Auf dem Podium (von links): Dr. med. Klaus-Dieter Kossow, BDA-Vorsitzender; Sanitätsrat Peter Sauermann, 2. stellvertreten- der Bundesvorsitzender des BDA; und Dr. med. Lothar Wilke, 3. stellvertre- tender Bundesvorsitzender Fotos (2): Johannes Aevermann, Berlin
von den Hausärzten empfohlene Trennung der Vergütungen anlangt, wurde berichtet: Diese Trennung in zwei Honorarsektoren im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Sach- sen habe die Spannungen abgebaut und die Kooperation der Fach- und Hausärzte verbessert.
Der BDA beharrt auf den in § 73 SGB V festgelegten Aufgaben der Hausärzte:
– allgemeine und fortgesetzte ärztliche Betreuung eines Patien- ten in Diagnostik
und Therapie bei Kenntnis seines häuslichen und fa- miliären Umfeldes;
– Koordination diagnostischer, the- rapeutischer und pflegerischer Maß- nahmen;
– umfassende Dokumentation, insbesondere Zu- sammenführung, Bewertung und Aufbewahrung der wesentlichen Be- handlungsdaten, Befunde und Be-
richte aus der ambulanten und sta- tionären Versorgung und
– Einleitung und/oder Durch- führung präventiver und rehabilitati- ver Maßnahmen sowie die Integrati- on nichtärztlicher Hilfen und flankie- render Dienste in die Behandlungs- maßnahmen.
Gatekeeper-Modell Nach kontroverser Diskussion sprangen die Delegierten über ih- ren Schatten und kamen zu dem vom BDA-Vorsitzenden angeregten Grundsatzbeschluß (bei einer Gegen- stimme, wenigen Enthaltungen): Da- nach befürwortet der BDA ein haus- arztgestütztes Primärarztsystem, das auf der Basis von „dreiseitigen Ver- trägen“ (Kassenärztliche Vereinigun- gen, Krankenkassen, Hausärzte) ent- wickelt werden soll. Eine sieben Mit- glieder zählende Arbeitsgruppe, die in Dortmund eingesetzt wurde, soll ein Konzept für ein Primärarztsystem entwickeln, das die Nachteile auslän-
discher Primärarztsysteme, die in staatlichen und halbstaatlichen Ge- sundheitsdiensten realisiert sind (Großbritannien, Dänemark und Nie- derlande), vermeidet. Die Strukturen müßten sich strikt nach Qualitätsge- sichtspunkten richten. Auch die Be- darfsplanung müsse dem erhöhten Bedarf an Primärärzten Rechnung tragen. Wer die hausärztliche Versor- gung und die Weiterbildung im Fach Allgemeinmedizin tatsächlich för- dern wolle, müsse jetzt die Weichen
dafür stellen, daß im Jahr 2000 die Quote der Hausärzte nicht von 40 auf 20 Prozent sinkt.
Der BDA fordert auch, endlich
§ 76 Abs. 3 SGB V umzusetzen. Da- nach sind die Krankenkassen ver- pflichtet, den Versicherten zur Wahl eines Hausarztes aufzufordern. Dabei soll sich nach Meinung des BDA jeder Versicherte bei seinem freigewählten Hausarzt für ein Jahr im voraus in eine Patientenliste aufnehmen lassen. Die- ses Einschreibesystem erleichtere die epidemiologische Pflichtaufgabe, in der Primärversorgung über repräsen- tative Patientenkollektive Evaluatio- nen von Behandlungskonzepten vor- zunehmen und Statistiken für die Evi- dence Based Medicine zu erarbeiten.
Handlungsbedarf sieht der BDA auch bei der Krankenversicherten- karte. Der „Chipkarten-Tourismus“
habe seit 1994 eine Mehrfachinan- spruchnahme von Ärzten derselben Fachrichtung provoziert („Focus“ be- richtete über einen Patienten, der 57 Ärzte nebeneinander konsultierte).
Bereits lange vor Einführung der
Chipkarte sei eine Mengenauswei- tung um sieben Prozent prognosti- ziert worden; dies sei aber sowohl von den Krankenkassen als auch der KBV ignoriert worden. Jetzt erhalte man die Quittung: Allein durch die Chip- karte seien Mehrausgaben in Höhe von drei Milliarden DM entstanden (ohne die Verordnungskosten von zwei bis vier Milliarden DM).
Die BDA-Forderungen: Kon- trolle der „Laufschiene“ des Pati- enten durch eine umprogrammier- te Chipkarte mit eventuellem Lei- stungsausschluß oder Zuzahlung bei unkontrollierter In- anspruchnahme mehrerer Ärzte der gleichen Fachrich- tung; Festlegung ei- nes Arbeitsvertei- lungsvertrages, der die fachärztlichen Leistungen durch Hausärzte nur noch so weit vergütet, wie dies für die Notfallversorgung der Patienten erfor- derlich ist. Umge- kehrt sollten hausärztliche Leistun- gen von Ärzten künftig nicht mehr ab- gerechnet werden, wenn der Patient diese beim Facharzt ohne Überwei- sung nachfragt.
Abgelehnt wird ein Bonussy- stem, das einseitig die Ärzte begünsti- gen könnte. Gute Erfahrung habe man mit den in der privaten Kranken- versicherung praktizierten „Elemen- tartarifen“ gemacht. Wer einen Fach- arzt direkt in Anspruch nehme, müsse 20 Prozent zuzahlen. Wer den Haus- arzt vorschaltet, erhalte hundertpro- zentige Kostenerstattung, so das PKV-Reglement. Es werde kein Primärarztsystem „von oben“ mit staatlichen Vorgaben geben, so BDA- Vorsitzender Kossow. Der BDA rech- net mit einer großen Akzeptanz des Primärarztmodells in der Bevölke- rung, bei Teilen der Politik (Oppositi- on), der Wissenschaft und den BDA- Mitgliedern. 80 Prozent der im BDA organisierten Allgemeinärzte und 60 Prozent der Allgemein-Internisten verlangen bereits das Primärarztsy- stem. Dr. Harald Clade A-2612
P O L I T I K AKTUELL
(20) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 41, 10. Oktober 1997
BDA-Delegiertenversammlung in Dortmund: Breite Zustimmung für ein „hausarztgestütztes Primär- arztsystem auf der Grundlage von dreiseitigen Verträgen“