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eltweit leiden rund 400 Mil- lionen Menschen unter psychi- schen, neurologischen oder psy- chosozialen Störungen. 28 Prozent aller Behinderungen sind psychisch bedingt.Etwa ein Fünftel aller Kinder und Ju- gendlichen unter 16 Jahren ist von einer psychischen Störung betroffen – viele bleiben unbehandelt. Bis zum Jahr 2020 werden allein affektive Störungen nach Einschätzung der Weltgesundheitsorga- nisation (WHO) die zweithäufigste Ur- sache für Arbeitsunfähigkeit sein. „Kein Land kann es sich leisten, nicht in psychi- sche Gesundheit zu investieren“, erklär- te Dr. med. Dr. phil. Wolfgang Rutz, Re- gionaler Beauftragter für Psychische Ge- sundheit der WHO, zum Auftakt des Weltgesundheitstages am 6. April 2001 in Köln, der sich erstmals auch an die breite Öffentlichkeit richtete: An rund 40 Stän- den konnten sich Interessierte auf einer Gesundheitsmesse über Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen in- formieren. „Öffentlichkeit ist wichtig, weil psychische Erkrankungen immer noch mit Stigma behaftet sind“, betonte die Schirmherrin, Bundesgesundheitsmi- nisterin Ulla Schmidt.
Erheblich fortgeschritten sei das Ver- ständnis der biologischen und psycholo- gischen Mechanismen, die zur Entste- hung psychischer Erkrankungen führen, berichtete Prof. Dr. med. Wolfgang Mai- er, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Bonn. Die Behandlungsfortschritte hät- ten jedoch mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten. Bei der Behandlung von Depressionen und Angsterkrankun- gen wiesen die Antidepressiva der drit- ten Generation zwar weniger Nebenwir- kungen auf als die herkömmlichen Präparate, seien in ihrer Wirkung jedoch kaum überlegen. Besonders wirksam sei die Kombination von Pharmakothera- pie und stark strukturierten Psychothe-
rapieverfahren wie kognitiver Verhal- tenstherapie und interpersoneller The- rapie. Generell sei die psychotherapeuti- sche Wirkung jedoch ebenso begrenzt wie die pharmakologische. Maier hofft darauf, dass die Genforschung die kau- salen Ursachen der De-
pression entdeckt.
Bei Alkoholerkran- kungen hätten sich vor allem verhaltensthera- peutische Techniken be- währt, berichtete Maier.
Diese wirken – ebenso wie Psychopharmaka – über die Komponenten des Belohnungssystems des Mittelhirns. Eine zusätzliche pharmako- logische Behandlung habe sich in der Praxis zwar als hilfreich erwie- sen, jedoch auch weit- reichende Erwartungen enttäuscht. Künftig müs- se verstärkt auf Früher- kennung und Präven-
tion gesetzt werden statt auf die Ent- wicklung neuer Medikamente und The- rapietechniken.
Frühwarnzeichen und Risikofaktoren seien bei fast allen psychischen Störun- gen zu erkennen, berichtete Prof. Dr.
med. Joachim Klosterkötter, Früherken- nungs- und Präventionszentrum für psy- chische Krisen an der Klinik und Poli- klinik für Neurologie und Psychiatrie, Universität zu Köln. Wichtig sei, die Be- völkerung darüber aufzuklären und Be- troffene gegebenenfalls an einem Früh- erkennungszentrum (Standorte: www.
kompetenznetz-schizophrenie.de) zu testen. Durch frühzeitige Therapie kön- ne den nach wie vor starken Chronifi- zierungstendenzen psychischer Erkran- kungen mit sozialen Behinderungen ent- gegengewirkt werden.
Etwa eine Million Menschen in Deutschland leiden unter einer mittel- schweren bis schweren Demenz, davon rund 650 000 an einer Alzheimer-De- menz. Doch nur jeder zehnte Patient er- halte eine geeignete antidementive Be- handlung, beklagte Prof. Dr. med. Hans Förstl, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Technischen Uni- versität München. Dabei ständen inzwi- schen Medikamente zur Verfügung (zum Beispiel Acetylcholinesterase- hemmer, Memantine, Ginkgo biloba), die einen nachweisbaren Effekt nicht nur auf den Hirnstoffwechsel, sondern auch auf die intellektuelle Leistung und die Verhaltensstörungen der Patienten
hätten. Selten begleitend psychologisch unterstützt würden auch die Angehö- rigen, die die Pflege vor allem in der Spätphase der Erkrankung überneh- men. Ebenso werde die Diagnostik therapierbarer Begleitkrankheiten ver- nachlässigt. Da die Behandlungsverfah- ren zwar wirksam seien, den Krank- heitsprozess jedoch nicht zum Stillstand bringen, wende sich die Forschung ver- stärkt der Prävention zu.
Es zeichne sich ab, dass die de- generativen Hirnveränderungen und ihre Auswirkungen auf die geistige Leistungsfähigkeit beeinflusst werden können. Auf großes Interesse stie- ßen zurzeit Tierexperimente, so Förstl, die eine „Impfung gegen Alzheimer“
in den Bereich des Möglichen rück-
ten. Petra Bühring
P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 16½½½½20. April 2001 AA1035
Psychische Erkrankungen
Noch mit Stigma behaftet
Der Weltgesundheitstag 2001 hatte erstmals die Erhaltung und Wiederherstellung der psychischen Gesundheit zum Thema.
In der Kunst- therapie werden psy- chisch Kranke an un- bewusste Konflikte herangeführt. Bild
„Ohne Titel“ von Hans Hermes im Rah- men einer
Ausstellung psych- iatrieerfahrener Künstler beim Land- schaftsverband Rheinland, Köln Medizinreport