Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte der Dich- ter meist im Bett, in einem Zimmer mit Korkwänden und stets geschlossenen Fenster- läden. Hier arbeitete er, un- terbrochen von den schreck- lichsten Erstickungsanfällen.
Eine Klingel war stets in Reichweite, damit er zu jeder Zeit Weste, seine treue Die- nerin, die nie vor morgens sieben Uhr schlafen ging, her- beirufen konnte.
Er ging nun, wenn über- haupt, nur noch nachts aus.
So kam es einmal vor, daß er gegen Mitternacht im Haus der Madame de Caillaret er- schien und inständig bat, ihre Tochter sehen zu dürfen.
Aber die Tochter sei schon schlafen gegangen. „Ich flehe Sie an, Madame, erfüllen Sie meinen Wunsch." Und die sechzehnjährige Simone wur- de geholt.
Immer seltener ließ sich Proust in den Salons sehen.
Meist lud er seine Freunde jetzt ins Hotel Ritz zu einem fürstlichen Menü ein, das er mit großer Sorgfalt zusam- menstellte, während er selbst eingehüllt in warme Pelze, denn er fror zu jeder Jahres- zeit, mit bleichem Gesicht und fiebrig glänzenden Au- gen dabeisaß. Für sich be- stellte er ein Glas Wasser, um seine Medizin einzunehmen, und Kaffee, mehrere Tassen.
Als er schließlich sein Zimmer nicht mehr verlassen konnte, bat er — wiederum in den Nachtstunden — seine nächsten Freunde zu sich.
Während aleste sie bewirte- te, fragte er sie über die neue- sten Ereignisse in den Salons aus. So wurde er nicht müde, in den wiederkehrenden Si- tuationen und Menschen den Wandel zu studieren, dem sie unterworfen waren. Und so wurde aus der „Suche nach der verlorenen Zeit" die
„wiedergefundene Zeit".
„Jeder Tag führt Proust neue Leser zu, und das heißt neue Freunde. Jeden Tag tritt jemand mit dem Gefühl be- glückten Staunens in sein Buch" (Jacques Rivikre).
Ilse Dittmar
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b Nico in Köln als Christa Päffgen ge- boren wurde, ob es der 15. Oktober war, und ob dies wirklich ge- nau 50 Jahre her ist, wird wahrscheinlich für immer im Reich der Legende bleiben.Aber eben aus dem Reich der Legenden stammt der Stoff für Sensationen, und heiß ge- nug war sie, die Lebensge- schichte dieser nahezu unbe- kannten Frau, die die Sprin- ger-Presse am Hundstag des Juli 1988 als raumfüllende Ti- telstory zu erzählen wußte;
der Anlaß dafür war, wie man nicht anders vermuten konn- te, ein trauriger: Nico war tot.
Nico nannte man sie, seit sie als junges Mädchen Man-
nequin für Oestergaard war, und seit sie mit diesem Na- men 1959 in Fellinis Fresco
„La Dolce Vita" eine unter zahllosen Partygängerinnen spielte. Die Rastlosigkeit des
„dolce vita" fand für Nico auch im wahren Leben statt.
Sie war Klassenkameradin von Marilyn Monroe in Lee Strasbergs berühmter New Yorker Schauspielschule, wurde alsbald Mutter eines Sohnes von Alain Delon und schließlich zur Frontfigur im florierenden Kitschkunstim- perium des Meisters Andy Warhol. Dieser lancierte die schweigsame Schönheit als
„Chanteuse" an seine Haus- band „The Velvet Under- ground", deren geringe Popu- larität während ihrer kurzen Existenz in umgekehrtem Verhältnis zum langfristigen Einfluß steht, den „The Vel-
vet Underground" auf die Rockmusik voraussichtlich auch noch in den 90er Jahren haben wird.
Nicos Teilhabe an der le- gendären Velvet-Debut-LP (1967) mit ironisch sanften, autobiografischen Songs wie
„Femme Fatale" und „All To- morrow's Parties" geriet zum Wendepunkt in ihrer beweg- ten Laufbahn. Bis dahin schienen ihre Sängerambitio- nen nur die für Starlets obli- gatorische Verlegenheitslö- sung zur Imagepflege zu sein, gleichwohl sie kraft ihres Sze- newertes keine geringeren als Bob Dylan und den späteren Led-Zeppelin-Boss Jimmy Page als Songwriter für sich gewinnen konnte. Nico pach- tete sich eine Nische in der Ewigkeit, jenseits der Zeit und vom Leben selbst.
Noch vor Joni Mitthell ver- wandelte sich Nico zu einer der ersten poetisch eigenständi- gen Frauenpersönlichkeiten der damals an dunklen Seiten noch armen Popmusik. Ihre erste Solo-LP „Chelsea Girl"
(1968) und alle Nachfolgeplat- ten stehen isoliert von jegli- chem musikalischen Ver-
Zwei Jahrzehnte Nico, links zur Zeit als Modell bei Andy Warhol in New York, oben live im irdischen Exil
gleich, lassen zwischen völli- gem Unverständnis und faszi- nierter Hingabe kaum eine Grauzone an Sympathie.
Das Maß an Einsamkeit und Melancholie, das Nico zu sparsamer Kammermusik auf
„Chelsea Girl" verbreitete, steigerte sich auf den späteren Alben zu morbiden Klage- gesängen, die sie in Deutsch und Englisch mit grabestiefer Stimme auf einem nepalesi- schen Harmonium intonierte.
„Warum Selbstmord begehen, wenn Sie sich diese Platte kau- fen können?" hieß es im Werbeslogan für ihre LP „The End" (1974). Ganze sechs LPs veröffentlichte sie in zwanzig Jahren, verschwand immer wieder für lange Zeit zwischen Heroin, Alkohol und Entzie- hungskuren. In diesen zwanzig Jahren schien sie im Leben an sich fehl am Platz zu sein. Das Nachtwesen Nico starb 1988 bei einem Fahrradunfall unter der Juli-Sonne Ibizas, dem ge- meinsamen Refugium von ihr und Delon-Sohn Ah. Das bit- tere Ende ihres einst süßen Le- bens war für viele bedrückend, aber für kaum jemanden über- raschend. cue
Bonne Nuit,
Tristesse!
Dt. Ärztebl. 86, Heft 41, 12. Oktober 1989 (85) A-2989