Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 6|
7. Februar 2014 A 187O
ft werden sie gerufen, wenn bereits nichts mehr zu retten ist, wenn ein Kind infolge von Miss- handlungen durch ein Elternteil gestorben oder irre - versibel geschädigt ist. Die Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat von der Berliner Charité be- richten in dem Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ über ihre beruflichen Erfahrungen mit Kin - desmisshandlungen in der Familie. Und sie erheben schwere Vorwürfe gegen alle diejenigen, die offen- bar nicht zu verhindern wissen, dass jede Woche in Deutschland drei Kinder an den Folgen elterlicher Ge- walt sterben, dass jede Woche 70 Kinder so schwer misshandelt werden, dass sie ärztlicher Versorgung be- dürfen, wobei die Autoren von einer weitaus höheren Dunkelziffer ausgehen. Das System des Kinderschut- zes in Deutschland versage fast auf der ganzen Linie, lautet der Grundtenor des Buches, öffentlichkeitswirk- sam vorgestellt Ende Januar in Berlin bei der Bundes- pressekonferenz.Auch bei den Kinder- und Jugendärzten wird das Buch auf wenig Begeisterung stoßen, gehören sie für die Autoren doch mit zu dem System, das nicht verhin- dert, dass Kindern in der eigenen Familie Schreckliches angetan wird. „Das Schweigen der Ärzte“ ist das fünfte Kapitel des Buches überschrieben, und auch hier wird kräftig ausgeteilt. Tagtäglich würden „Hunderte miss- handelter Kinder wieder in die Hände ihrer Peiniger übergeben, mit aktiver Beihilfe der Ärzte oder zumin- dest mit ihrer stillschweigenden Duldung“. Ausgehend von Einzelfällen kommen Tsokos und Guddat zu dem Schluss, viele Ärzte neigten dazu, körperliche Gewalt gegen Kinder zu bagatellisieren. Kein Wunder, dass der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte postwen- dend die in dem Buch erhobenen Vorwürfe zurückweist – insbesondere den, dass es ökonomische Erwägungen seien, die Ärzte zum konsequenten Wegschauen be- wegten.
Solch polemische Rundumschläge könnten dazu führen, dass durchaus Bedenkenswertes in dem Kapitel nicht mehr wahrgenommen wird. „Misshandlungsme-
dizin“, schreiben die Autoren, sei für viele Kinder- und Jugendärzte in Deutschland – anders etwa als im anglo- amerikanischen Sprachraum – immer noch Neuland.
Sie müssten sich rechtsmedizinisch weiterbilden, um unfalltypische von misshandlungstypischen Verletzun- gen unterscheiden zu können. Tsokos und Guddat ma- chen deutlich, dass das hohe Gut der ärztlichen Schwei- gepflicht nach der (Muster-)Berufsordnung dort seine Grenzen habe, wo „die Offenbarung zum Schutz eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist“; dies sei der Fall, wenn beim konkreten Verdacht auf Kindes- misshandlung Wiederholungsgefahr bestehe. Und: Bei konkretem Verdacht sollten die Ärzte gesetzlich ver- pflichtet werden, das potenzielle Missbrauchsopfer in eine Klinik zu überweisen, wo ein Rechtsmediziner oder eine forensisch geschulte Fachkraft zur Abklärung herangezogen werden kann.
Das Buch macht es vielen, die sich von den Kritik- breitseiten getroffen fühlen, leicht, dagegen zu argu- mentieren. Aber es bleiben die vielen geschilderten Einzelschicksale von geschundenen Kindern – zu Tode geschüttelt und geschlagen oder dauerhaft an Körper und Seele verletzt – und das unbestimmte Gefühl, dass in einer Gesellschaft, in der so etwas immer wieder vor- kommt, vieles im Argen liegt. Und deshalb kann diese schmerzhafte Lektüre durchaus heilsam sein.
BUCH ÜBER KINDESMISSHANDLUNG
Polemik, die gleichwohl schmerzt
Thomas Gerst
Thomas Gerst Redakteur für Gesundheits- und Sozialpolitik