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ur von außen wirkt der Reichstag imposant. Das Innere versprüht den Charme eines Sitzungszimmers, grau in grau. Schon Westerwelles ukraine-orange Krawatte be- deutet da ein Highlight. Kein Ort der historischen Stun- den, sondern der Geschäfts- ordnung. Geschäftsordnungs- gemäß ruft Bundestagspräsi- dent Thierse um Punkt zehn am 1. Juli den Tagesord- nungspunkt 21 und die Bun- destagsdrucksache 5825 auf, den Antrag des Bundeskanz- lers, ihm gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes das Vertrauen auszusprechen. Jeder im Saal weiß, dass Schröder und seine Strippenzieher darauf bauen, den Antrag scheitern zu las- sen. Doch Thierse, dem nach- gesagt wird, das Manöver zu missbilligen, wickelt unge- rührt die Routine ab.Schröder verliest sein Re- ferat, 30 Minuten lang, wie ein Notar, der eine Eigentums- übertragung zu beurkunden hat. Merkel reitet ihre braven Angriffe. Müntefering unter- bricht einmal die Vorlese- stunde und enthüllt blitzartig die Wahrheit: Würde die Op- position einen Misstrauens- antrag gegen den Kanzler stellen, dann werde Schröder die Mehrheit der Regierungs-
koalition bekommen. Aber darum gehe es heute nicht.
Zuvor hat Schröder darge- legt, er sei sich der stetigen Mehrheit seiner Koalition nicht sicher. Den Terminus
„stetig“ muss er mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht verwenden, das 1982 – bei der ähnlich konstruierten Vertrau- ensfrage von Helmut Kohl – befunden hatte, eine Regie- rung sei handlungsfähig, wenn
sie vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragen sei.
Schröder will nun die Handlungsunfähigkeit bele- gen, und das gelingt ihm nur mühsam, denn bisher hat er seine Mehrheiten immer be- kommen. In Wirklichkeit ist er enttäuscht darüber, dass die Wähler seine Agenda 2010 ablehnen. Doch er hält diese Reformen für notwen- dig, um den Sozialstaat auch in Zukunft zu erhalten. Er be- klagt massive Widerstände von Interessengruppen, po- pulistische Kampagnen. „Nur zu gut erinnern wir uns an die öffentliche Aufregung bei der Einführung der Praxisgebühr und an die Protestwelle beim Beschluss der so genannten Hartz-IV-Gesetze.“ Am Ende der Rede bekommt Schröder eine lustlose Standing Ova- tion, auch das ist Routine.
Alle Fraktionen stimmen mit dem Noch-Bundeskanzler überein, dass es jetzt zu Neu- wahlen kommen soll. Glos von der CSU beglückwünscht Schröder gar zu seinem Mut, die Entscheidung durch die Vertrauensfrage zu erzwin- gen. An die früheren Rück- trittsforderungen aus der Uni- on erinnert nur Schröder selbst: Der Weg, darüber die Auflösung des Bundestages zu erreichen, sei mit der Würde
des Hauses nicht vereinbar.
Vereinbar scheint den Frakti- onssprechern hingegen die fingierte Vertrauensfrage. Le- diglich der Grünen-Abgeord- nete Werner Schulz aus Ost- Berlin protestiert und spricht von Flucht aus der Verantwor- tung. Er wird später zum Que- rulanten gestempelt. Joschka Fischer nutzt die Vertrau- ensdebatte zu einem Wahl- kampfauftritt. Er heizt ein mit einer Rede, nach der man hin- terher zwar nicht weiß, was ge- nau gesagt wurde – aber es war toll. Fischer, immer halb gewendet zu Schröder, vertei- digt rundum die Politik von Rot-Grün: ein letzter Freund- schaftsdienst für Schröder.
Die Abstimmung erbringt ein wenig mehr an Ja-Stimmen als von der Regie erwartet, aber es reicht zu Schröders planvollem Scheitern. Der geht sogleich ab, die Kabinetts- riege folgt. Nur Fischer steht noch da, das Handy am Ohr.
Schröders Regierung und wohl auch das rot-grüne Projekt sind auf verkorkste Weise zu Ende gebracht. Nie- mand kann sich vorstellen, wie diese Regierung, sollte der Bundespräsident nicht wunschgemäß funktionieren, weiter regieren könnte. Schrö- der hat aber auch nicht darle- gen können, wie er nach einer eventuellen Wiederwahl wei- termachen will. Gewiss, die Reformen der Agenda 2010 will er fortführen. Aber wäh- rend er das im Bundestag be- kräftigt, arbeiten die Wahl- kämpfer seiner Partei an ei- nem Programm, das die Agen- da zurücknimmt.
Aber auch Merkels Pro- gramm bleibt nebulös: „unse- re Werte behaupten“, „Politik aus einem Guss“, „endlich wieder aufwärts“, „Neuan- fang“ und „durchregieren“.
Offenkundig ist nur die Sehn- sucht nach Neuwahl, ihrer Chance. Doch Neuwahl be- deutet nicht unbedingt Neu- anfang. Nach zwei Stunden Vertrauensdebatte dämmert dem Beobachter, dass nach dem 18. September die politi- sche Losung lauten könnte:
weiter so, egal mit wem. Bon- jour tristesse. Norbert Jachertz A K T U E L L
A
A1920 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 278. Juli 2005
SPD
Wahlmanifest abgestimmt
PKV soll in der Bürgerversicherung Bestand haben.
D
ie SPD hat am 4. Juli in Berlin ihr Wahlmanifest„Vertrauen in Deutsch- land“ für den Fall einer vor- gezogenen Bundestagswahl präsentiert. Es umfasst rund 40 Seiten. Wie im Vorfeld bekannt wurde, soll die Krankenversicherung zu ei- ner Bürgerversicherung wei- terentwickelt werden, in der die Gesetzliche und pri-
vate Krankenversicherung nebeneinander Bestand ha- ben. Auch Beamte, Selbst- ständige und Politiker sollen nach ihrer Leistungsfähig- keit einzahlen.
Auf Kapitalerträge sollen ebenfalls Beiträge gezahlt werden, allerdings nicht auf Einnahmen aus Vermietung oder Verpachtung. Vorgese- hen ist zudem, dass jede Kasse jeden Bürger unge- achtet des individuellen Ri- sikos versichern muss.
Der Wortlauf des abge- stimmten Manifests lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Bekannt wurde aber auch, dass die SPD die Mehrwertsteuer nicht er- höhen will, da die Lage auf dem Binnenmarkt einen solchen Schritt verbiete. FO
Verkorkstes Ende der Regierung: Kanzler Schröder verlässt nach dem planmäßigen Scheitern der Vertrauensfrage den Plenarsaal.
Berliner Notizen
Bonjour tristesse
Schröder scheitert an seiner sozialpolitischen Agenda, und Merkel stochert im Nebel.
Foto:dpa