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Archiv "Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer: Der gegenwärtige Stand der Gerontologie und der Geriatrie - Empfehlungen zu ihrer künftigen Entwicklung" (20.11.1992)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

BUNDESÄRZTEKAMMER

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer

Der gegenwärtige Stand

der Gerontologie und der Geriatrie Empfehlungen zu

ihrer künftigen Entwicklung

Vorwort

Das erreichbare biologische Alter des Menschen, also seine natürliche Lebenszeit ohne lebensverkürzende Krankheiten und/oder traumatische Beeinträchtigungen der Vitalität, be- trägt 100 bis max. 110 Jahre. Die bewei- senden Argumente für diese Annahme lieferten Fibroblasten-Kulturen sowohl von menschlichen Embryonen, die 50

± 5 Verdoppelungen ihrer Population generieren konnten, als auch die Fibro- blasten-Kulturen aus dem Unterarm von 100 Versuchspersonen unter- schiedlichen Lebensalters. Dabei er- reichten die Fibroblasten aus dem 3.

Lebensjahrzehnt weniger als 40 und diejenigen aus dem 8. Lebensjahrzehnt weniger als 30 Populations-Verdoppe- lungen.

Die durchschnittliche Lebenserwar- tung hat sich in den letzten 100 Jahren nahezu verdoppelt. Für die Frauen stieg sie von rund 40 auf fast 79 Jahre und für die Männer von rund 38 auf fast 72 Jahre. Die Zahl der Menschen, die 90 Jahre und älter waren, betrug 1989 in den alten Bundesländern 220 000 (Frauen: 174 300; Männer

45 700) und in den neuen Bundeslän- dern 39 800 (Frauen: 31 000; Männer 8800* )).

Früher gliederte sich das Leben des Menschen in drei Abschnitte: Kindheit und Jugend; Beruf und Familie; Ruhe- stand und Lebensende (etwa im fünf- ten bis siebten Lebensjahrzehnt). In unserer Zeit kommt durch die Verdop- pelung der Lebenserwartung ein vier- ter Lebensabschnitt hinzu, der durch den mehr oder weniger deutlichen Ab- bau im körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Bereich charakterisiert ist.

Wie weltweite gerontologische For- schungen ergeben haben, wird der un- terschiedliche Abbau in einem nicht zu unterschätzenden Umfang auch von Umweltfaktoren wie körperlichem und geistigem Training, vernünftiger Er- nährung sowie Beachtung des circadia- nen Schlaf-Wach-Rhythmus beein- flußt.

Die Sportärzte rechnen damit, daß im Alter zwischen 50 und 70 Jahren et- wa 20 bis 40 Prozent der Muskelmasse durch Inaktivität verloren gehen. Die Muskulatur als besonders umfangrei- ') Quelle: Statistisches Jahrbuch 1991

ches Stoffwechselorgan wird dadurch in entscheidender Weise reduziert.

Vermutlich ist diese Inaktivitätsatro- phie eine wichtige, durch entsprechen- des körperliches Training aber zu ver- hütende Teilursache der als typische

„Alters-Erscheinungen" fehlgedeute- ten Alters-Resignation und Alters- Depression. Im engen Zusammenhang zu einer allgemein befriedigenden Be- findlichkeit müssen auch die speziellen Symptome der organisch bedingten Al- terserscheinungen (chirurgisch, inter- nistisch, urologisch, gynäkologisch oph- thalmologisch u. a.) diagnostiziert und behandelt werden.

In diesen und weiteren Bereichen liegen wichtige, oft noch unterschätzte Ansatzpunkte für die Prävention. Ins- besondere die Mobilisierung bisher nicht genutzter, körperlicher und gei- stiger Reserven sind erfolgverspre- chende Möglichkeiten für Hilfen zur Rückgewinnung von Selbständigkeit durch eigene Aktivitäten.

Diese Bilanz des status praesens und die Erörterung der Möglichkeiten einer sinnvollen Gestaltung der geria- trischen Versorgung in der Zukunft sind Gegenstand dieser Empfehlungen.

(Dr. med. Karsten Vilmar)

Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages

(Prof. Dr. med. Klaus-Ditmar Bachmann) Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer

1. Die Aufgabe

1.1 Definitionen:

Gerontologie ist Teil aller der Wissenschaften, die sich mit dem Alt- werden und Altsein des Menschen be- fassen. Dies schließt insbesondere bio- logische, psychische, personale sowie soziale, kulturelle, philosophische und theologische Aspekte ein.

Geriatrie ist der medizinische Teil der Gerontologie. Sie dient, als Quer- schnittsfach aller klinischen Diszipli- nen, der Umsetzung gerontologischer Erkenntnisse in die ärztliche Praxis, einschließlich der Entwicklung alters- angemessener präventiver* ) diagnosti- scher, therapeutischer und rehabilitati- ver** ) Methoden. Eine exakte Alters- grenze für „geriatrische Patienten"

*) Prävention umfaßt alle Maßnahmen, die der Krankheitsverhütung, der Früherkennung, der Rückfallvermeidung, der Verhinderung von Funktionsverschlechterungen und der Minderung therapiebedingter, unerwünschter Wirkungen dienen.

**) Geriatrische Rehabilitation umfaßt Ver- besserungen der körperlichen, psychischen und sozialen Möglichkeiten zur individuellen, selbständigen Lebensführung des alten Men- schen.

Dt. Ärztebl. 89, Heft 47, 20. November 1992 (73) A1-4025

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kann angesichts der großen zeitlichen Streuung und erheblichen individuel- len Intensitätsunterschieden von Alte- rungsvorgängen nicht angegeben wer- den.

1.2 Zur gegenwärtigen Situation:

Die ständig wachsende Zahl älterer und alter Menschen einerseits und die Zunahme ärztlicher sowie nicht-ärztli- cher Möglichkeiten zur Hilfe anderer- seits, stellen unsere Gesellschaft und unser Gesundheitswesen vor neue, rasch zunehmende und zum Teil noch ungelöste Aufgaben.

Unzulänglichkeiten bei der Bewälti- gung dieser prinzipiell lösbaren, medi- zinischen, psychischen, sozialen und ökonomischen Aufgaben führen häufig zu Not- und Mißständen, die weder aus ärztlichen, allgemein humanitären noch aus verfassungsrechtlichen Grün- den hingenommen werden können (1).

1.3 Hilfen für ältere Menschen set- zen Aktivitäten zahlreicher Berufe vor- aus, in die auch Angehörige, Nachbarn und Selbsthilfegruppen einbezogen werden sollten.

1.4 Die multiprofessionellen Altenhil- fen erfordern Rahmenbedingungen, die politische Entscheidungen in Bund, Län- dern und Gemeinden notwendig ma- chen.

1.5 In ärztliche Verantwortung gehö- rigen Forschung und Lehre sowie Prä- vention, Diagnostik, Therapie ein- schließlich der Rehabilitation und Be- gutachtung. Der Arzt ist dabei auf die Mitarbeit der Angehörigen aller Fach- berufe im Gesundheitswesen angewie- sen.

Die Verantwortung für Indikation und Koordination diagnostisch-thera- peutischer Methoden liegt beim Arzt.

Die Verantwortung für die Durchfüh- rung liegt sowohl bei den Ärzten als auch bei den nicht-ärztlichen Berufen, die in Diagnostik, Therapie, Rehabili- tation und Langzeitbetreuung sowie mit der Sozialhilfe zusammenwirken.

1.6 Geriatrische Kompetenz umfaßt Wissen, Können, Erfahrung und spezi- fisches Verhalten. Diese Befähigung orientiert sich ganzheitlich an den Er- fordernissen des Patienten und umfaßt ebenso Leib und Seele wie auch seine sozialen Bindungen und Abhängigkei- ten. Aus diesem Grunde kommen der Allgemeinmedizin, der Inneren Medi- zin, der Psychiatrie einschließlich der Psychotherapeutischen Medizin — aber auch den übrigen klinischen Fächern mit ihren jeweils spezifischen geriatrischen Aufgaben — besondere Verantwortung zu.

Grundsätzliche Therapieziele sind Heilung und Linderung von Krankheiten

des alten Menschen sowie die Verbesse- rung seiner Möglichkeiten im körperli- chen, psychischen, personalen und so- zialen Bereich.

Von besonderer Bedeutung ist da- bei auch die Anpassung des Umfeldes an die verbliebene Leistungsfähigkeit des alten Menschen. In seiner unmit- telbaren Umgebung sind die Bereit- schaft zur Hilfeleistung, Zuwendung und Toleranz zu fördern, damit insge- samt die Möglichkeiten zur Gestaltung verbliebener Freiheitsgrade verbessert werden.

2. Empfehlungen zur geriatrischen Forschung

2.1 Alle klinischen Fächer, die ältere und alte Patienten versorgen, sind in erheblichem Umfang auf spezielle geri- atrische Forschungen angewiesen, die daher gezielt unterstützt und stärker gefördert werden müssen.

2.2 Vor allem die auf den gesamten Organismus des Individuums ein- schließlich seiner psychosozialen Di- mension gerichtete Forschung ist ge- genüber der organorientierten For- schung vernachlässigt worden.

2.3 Folgende Forschungsansätze sollten schwerpunktmäßig gefördert werden:

— Gerontologisch-geriatrische Feld- forschung in ärztlichen Praxen mit dem

Ziel, den Umfang der Aufgaben zu klä- ren, die dort zu bewältigen sind sowie vorhandene Mängel zu erkennen (Kompetenz-Bedarfsforschungen) und durch inhaltliche Verbesserungen der Aus-, Weiter- und Fortbildung zu be- seitigen. Zugleich sollte der Aufbau be- darfsgerechter und leistungsfähiger Versorgungsstrukturen unterstützt werden;

— Feldforschungen mit dem Ziel des besseren Zusammenwirkens ambulan- ter, teilstationärer und stationärer Dienste zu analysieren und die offen- sichtlich dringend erforderlichen Ver- besserungen wissenschaftlich begrün- den zu können sowie bestehende For- schungshindernisse abzubauen (4).

— Auf die Notwendigkeit von Kompe- tenzbedarfsforschungen ist aufgrund des Berichtes „Forschungsdefizite und för- derungswürdige Forschungsansätze in der Medizin" der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich-Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2) vom Bundesministerium für Forschung und Technologie ausdrücklich hingewiesen worden. Ebenso hat auch die Nerven- arztstudie (3) diesen Sachverhalt über- zeugend dargelegt.

2.4 Ausschreibungen und Förderun- gen von Forschungsprogrammen über

Ministerien und Forschungsförderor- ganisationen sind besonders dringlich.

3. Zur geriatrischen Ausbildung der Studierenden

3.1 Die systematische Vermittlung gerontologischen und geriatrischen Wissens ist derzeit im Studiengang der Humanmedizin nicht gesichert. Es ist noch nicht Gegenstand des Prüfungs- kataloges. Entsprechende Lehrinhalte werden derzeit systematisch nur an ei- nigen Universitäten sowie für Interes- sierte angeboten.

3.2 Die vornehmlich organ-orien- tierte Lehre in den klinischen Fächern berücksichtigt nicht hinreichend den notwendigen patientenorientierten Ansatz der Geriatrie. Angehende Arz- te müssen jedoch in die Lage versetzt werden, biologische, psychische, perso- nale und soziale Gegebenheiten auch von älteren Patienten regelmäßig in die Diagnostik und Therapie einbeziehen zu können.

Hierzu müssen Studierende ent- sprechend systematisch ausgebildet werden. Dringend erforderlich ist es, gerontologisch/geriatrische Lehrveran- staltungen, insbesondere mit internisti- schen und psychiatrischen einschließ- lich psychotherapeutischen Inhalten, in die Approbationsordnung aufzuneh- men (siehe auch Empfehlungen des Sachverständigenrates für die Konzer- tierte Aktion im Gesundheitswesen, zuletzt: 1990 [5]).

3.3 Die Sicherstellung von geriatri- scher Forschung und Lehre auf hohem wissenschaftlichem Niveau erfordert die universitäre Etablierung des Fa- ches. Bis dahin sollten geeignete Ver- treter klinischer Fächer, insbesondere Internisten und Psychiater, diese Auf- gaben wahrnehmen.

4. Zur ärztlichen geria- trischen Weiterbildung

Der 95. Deutsche Ärztetag (12. bis 16. Mai 1992) hat die Einführung einer curricular strukturierten Weiterbil- dung „Klinische Geriatrie" von minde- stens zwei Jahren in den Fächern „All- gemeinmedizin", „Innere Medizin",

„Neurologie", „Psychiatrie" und „Ner- venheilkunde" beschlossen.

In der gegenwärtigen Situation müs- sen Ärzte leitende geriatrische Positio- nen auch ohne formale Qualifikation aufgrund ihrer speziellen, durch eine geeignete Weiterbildung gewonnenen Kenntnisse ausfüllen können. Geria- trisch-gerontologische Fachgesellschaf-

A1-4026 (74) Dt. Ärztebl. 89, Heft 47, 20. November 1992

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ten sollten beratend hinzugezogen wer- den.

5. Zur ärztlichen geria- trischen Fortbildung

5.1 Praxisrelevante gerontologische und geriatrische Kenntnisse sind konti- nuierlich zu vermitteln

— durch Fortbildungsveranstaltungen,

— durch praxisorientierte wissen- schaftliche Beiträge.

5.2 Besondere Aufmerksamkeit ist der Fortbildung niedergelassener Ärzte zu widmen, da diese die Hauptlast der ambulanten geriatrischen Versorgung tragen.

6. Zur geriatrischen Aus- und Fortbildung für Fachberufe innerhalb und außerhalb des

Gesundheitswesens

6.1 Besondere Kenntnisse in der Geriatrie sind erforderlich für folgende Berufsgruppen:

— Krankenpflege

— Ergotherapie

— Krankengymnastik Physiotherapie

— Sporttherapie

— Sprach- und Heilpädagogik

— Logopädie

— Orthopädische Prothetik

— Sozialmedizin

— Ernährungsberatung

— Psychologie

— Seelsorge

— Musiktherapie

— Rechtspflege, soweit sie Straf-, Zi- vil- und Sozialverfahren mit Belangen älterer Menschen betrifft, einschließ- lich der Polizei.

— Selbsthilfegruppen

6.2 Die Inhalte der geriatrischen Ausbildung sollten an den praktischen Aufgaben der einzelnen Berufsgruppen orientiert werden. Eine Kompetenzbe- darfsforschung soll Anhaltspunkte für notwendige Lehrinhalte geben.

6.3 Der Tätigkeitsbereich „Alten- pflege" sollte durch eine spezielle Qua- lifikation der vorerwähnten staatlich anerkannten Berufsgruppen aufgewer- tet sowie durch eine angemessene Ho- norierung attraktiver gestaltet werden.

Gleiche Förderung ist Selbsthilfegrup- pen zu gewähren.

6.4 Durch die Krankenpflegefor- schung sollten die besonderen Pflege- bedürfnisse in Altenheimen ermittelt und eine entsprechende bedarfsge- rechte Ausbildung des Personals durchgeführt werden.

7. Zur Institutionalisie- rung der Geriatrie

7.1 In den universitären klinischen Bereichen sollten geriatrische Abtei- lungen einschließlich Tageskliniken und geriatrischer Rehabilitationsein- richtungen etabliert werden.

7.2 An den großen Krankenhäusern sollte die Einrichtung geriatrisch/ge- ronto-psychiatrischer Spezialabteilun- gen ermöglicht werden und in Zukunft auch selbstverständlich sein. Eine enge Zusammenarbeit mit den anderen Fach- abteilungen muß allerdings gesichert wer- den!

7.3 Geriatrische Abteilungen müs- sen neben der Krankenbetreuung auch folgende Aufgaben übernehmen:

— Ausbildung von qualifiziertem Lehrpersonal.

— Angemessene Aus-, Weiter- und Fortbildung; dies entbindet die Vertre- ter der übrigen klinischen Fächer nicht davon, auch geriatrische Inhalte zu ver- mitteln.

— Anregung und Unterstützung des akademischen Nachwuchses zur wis- senschaftlichen Arbeit in allen Berei- chen der Gerontologie und Geriatrie.

7.4 Als „geriatrisch-relevant" ist vor allem jenes Wissen und Können zu be- trachten, das die praxisbezogene geri- atrische Diagnostik und Therapie, Re- habilitation und Förderung der Selb- ständigkeit umfaßt. In Zukunft muß besonders auch auf die altengerechte bauliche Gestaltung der Wohnungen und ihrer Zugänge geachtet werden.

8. Versorgung älterer Patienten in Akut- krankenhäusern

8.1 Da ältere Patienten — mit oft längeren Liegezeiten — in zunehmend größerer Zahl in Akutkliniken behan- delt werden müssen, sollen geriatrische Therapieangebote in ausreichendem Umfang vorgehalten werden.

Dies setzt voraus:

— eine generelle Verbesserung der Rehabilitations-Möglichkeiten unter besonderer Berücksichtigung der Maß- nahmen im geriatrischen Bereich;

— zusätzliche geriatrische Fortbildung des ärztlichen und nicht-ärztlichen Per- sonals;

— Kooperationen mit Krankengymna- sten, Logopäden, Physiotherapeuten, Sozialarbeitern u. a. (vgl. 7.1);

— Einbeziehung von Konsiliarien, be- sonders bei Multimorbidität;

— sorgfältiges Abwägen der Chancen und Risiken bei Indikationen zu dia- gnostischen und therapeutischen Maß-

nahmen unter Berücksichtigung der Konsequenzen für eine Verbesserung der persönlichen Handlungs- und Er- lebnismöglichkeiten, insgesamt also der sog. Lebensqualität des Patienten.

— Daraus ergibt sich, daß aus ärztli- cher Sicht eine — nicht individuell be- gründete — Altersgrenze für diagnosti- sche und therapeutische Indikationen abzulehnen ist.

— Die Mitaufnahme von Begleitper- sonen ins Krankenhaus während der akuten Krankheitsphase.

8.2 Die offensichtlichen Versor- gungslücken zwischen dem Akutkran- kenhaus und dem Pflegeheim müssen beseitigt und angemessene Therapie- bzw. Rehabilitations-Möglichkeiten ge- schaffen werden, um vorzeitige Einwei- sungen in Pflegeheime zu vermeiden.

Folgende Maßnahmen kommen in Betracht:

— Der Ausbau ortsnaher Spezialein- richtungen für geriatrische Behandlung und Nachsorge einschließlich Geronto- Psychiatrie;

— die Einrichtung von Tagespflege- heimen zur Überwachung therapeu- tischer Maßnahmen während Arbeits- zeiten und Abwesenheiten von Ange- hörigen;

— der Ausbau von sozio-ökonomi- schen, sozialen und pflegerischen Hil- fen, die dem älteren Patienten ein möglichst selbständiges Leben in eige- ner Wohnung erlauben;

— die Förderung von Selbsthilfegrup- pen.

9. Zur Entlassung von älteren Patienten aus Akutkliniken

9.1 Die Entlassung oder Verlegung von stationär behandelten Patienten in höherem Lebensalter darf nicht zum Abbruch oder Unterlassen sinnvoller therapeutischer Maßnahmen führen.

Alle sinnvollen Behandlungsmög- lichkeiten sollten vor einer Verlegung des Patienten ausgeschöpft sein. Dies kann erreicht werden:

a) durch Bereitstellung angemessener Behandlungskapazitäten unter beson- derer Berücksichtigung der oft erfor- derlichen längeren Liegezeiten;

b) durch Förderung der Einsicht, daß Kompensationsverbesserung im körper- lichen, psychischen und sozialen Be- reich auch dann Indikationen zu ärztli- chen oder ärztlich veranlaßten Maßnah- men darstellen, wenn einer Behandlung der zugrundeliegenden Krankheit medi- zinisch Grenzen gesetzt sind.

c) Der humanitären Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes gegen die

A1-4028 (76) Dt. Ärztebl. 89, Heft 47, 20. November 1992

(4)

vorzeitige Verlegung aus Akutkliniken in Pflegeheime vor Ausschöpfung sinn- voller therapeutischer Maßnahmen sollte mit Hilfe ärztlicher Gutachten zur Durchsetzung verholfen werden (6, 7).

9.2 Eine gute ambulante geriatrische Versorgung älterer Menschen erfor- dert als Bindeglied zwischen der Allge- meinmedizin und den Subspezialitäten der verschiedenen klinischen Fächer einen gezielten kollegialen Gedanken- austausch über die jeweils altersbe- dingten Besonderheiten.

10.

Zu Pflege- einrichtungen

10.1 Zur häuslichen Pflege:

Die Hauptlast der Versorgung alter kranker Menschen trägt heute vorwie- gend die Familie. Dies wird sich zuneh- mend ändern, da die Familien kleiner werden und oft Ehelosigkeit besteht.

Nicht selten müssen wegen der Alters- entwicklung inzwischen zwei Genera- tionen gleichzeitig versorgt werden.

Da die häusliche Pflege für alte, pflegebedürftige Personen zumeist aus menschlichen wie auch aus ökonomi- schen Gründen vorzuziehen ist, müs- sen Behandlungsmöglichkeiten für die häusliche Versorgung aufgebaut wer- den.

Folgende Gesichtspunkte sind zu- sätzlich zu berücksichtigen:

— Angehörige und Nachbarn sollten zur Pflege motiviert und dafür auch ausreichend entschädigt werden.

— ambulante Dienste müssen ausrei- chend organisiert und finanziert wer- den, damit Pflegebedürftige auch dann zu Hause bleiben können, wenn die Angehörigen bzw. Nachbarn die erfor- derliche Pflege nicht oder nur teilweise übernehmen können.

— die Leistungsfähigkeit der caritati- ven und privaten Träger bei der Ver- sorgung Pflegebedürftiger ist zu för- dern.

— Dienste und Einrichtungen für Pflege, Versorgung und Rehabilitation sind dem Bedarf entsprechend zu diffe- renzieren (die Versorgungskette und die Durchlässigkeit der Einrichtungen ist zu verbessern).

10.2 Zur Geriatrie in Pflegeheimen 10.2.1 Die Fortschritte der Medizin und die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes machen die Verbesserung der Situation geriatri- scher Patienten im Pflegeheim mög- lich. Dennoch kann eine Vielzahl the- rapie-bedürftiger Patienten nicht von

notwendigen kurativen Hilfen erreicht werden.

10.2.2 Pflegeheime müssen perso- nell, organisatorisch und baulich jene Voraussetzungen erfüllen, die es erlau- ben, vorhandene Rehabilitationsmög- lichkeiten voll zu nutzen. Es ist dafür Sorge zu tragen, daß die Patienten nicht durch inaktivierende, kommuni- kations- und bewegungshemmende Be- triebsabläufe in Betreuung und Be- handlung behindert werden.

10.23 Ärzte, die Alten- und Pflege- heime betreuen, benötigen geriatrische Kompetenz (siehe 1.6).

10.2.4 Die freie Arztwahl sollte auch in den Fällen erhalten bleiben, in denen die Patienten des Alten- bzw.

des Pflegeheimes durch hauptamtlich tätige Ärzte versorgt werden.

10.2.5 Die notwendigen Verbesse- rungen in Pflegeheimen sollen chro- nisch Kranken aller Altersstufen glei- chermaßen zugute kommen.

11. Zeitbedarf und dessen Finanzierung

11.1 Zur Verbesserung der thera- peutischen Versorgung in ambulanten, teilstationären und stationären Berei- chen muß der erhöhte Zeitbedarf auf- grund rehabilitativer Bedürfnisse und von Kommunikationsschwierigkeiten (z. B. Sprachfremdheit, Schwerhörig- keit und psychische Störungen) bei der Honorierung aller Beteiligten ange- messen berücksichtigt werden.

11.2 Konsiliarische Hausbesuche — auch durch Fachärzte— bei älteren und alten Patienten, die in der eigenen Wohnung oder in Heimen in Selbstän- digkeit leben, sollen durch eine ent- sprechende Honorierung gefördert werden.

12. Zur Pflege- versicherung

Die Schaffung einer ebenso sozial- verträglichen wie auch angemessenen Versicherung für Haus- und Heimpfle- ge erscheint dringend geboten.

Literatur

1. Deutscher Bundestag (Hrsg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stand 1989

2. Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich-Me- dizinischer Fachgesellschaften (Hrsg.):

Forschungsdefizite und förderungswürdige Forschungsansätze in der Medizin. 1989 3. Bochnik, H. J. u. H. Koch: Die Nervenarzt-

studie, Praxen, Kompetenzen, Patienten.

Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1990 4. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärzte-

kammer: Wahrung der ärztlichen Schwei-

gepflicht und des Datenschutzes in der me- dizinischen Forschung. Dtsch. Ärztebl. 86, Heft 40 (1989) Ausg. A, 2843 — 2845 5. Sachverständigenrat für die Konzertierte

Aktion im Gesundheitswesen (Hrsg.): Her- ausforderungen und Perspektiven der Ge- sundheitsversorgung, Jahresgutachten 1990, Nomos-Verlagsgesellschaft Baden- Baden, 1990

6. Bochnik, H. J.: Triage heute: Vom Behand- lungs- zum Pflegefall, § 184 RVO. Psycho 18 (1992) 307 — 318

7. Anschütz, A., D. Bauer u. W. Krüll: Pflege- heim oder häusliches Milieu? Untersu- chung zum überlebensverhalten klinikent- lassener Patienten. Psycho 18 (1992) 319 — 325

Mitglieder des Arbeitskreises:

Prof. Dr med. F. Anschütz, Vorsitzender der Akademie für ärztliche Fortbildung der Landesärztekammer Hessen, Bad Nauheim

Prof. Dr. med. K-D. Bachmann, Vorsit- zender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, Münster Prof. Dr. med. H. J. Bochnik (federfüh- rend), Zentrum der Psychiatrie der Uni- versität, Frankfurt

Prof. Dr. med. F.-W. Eigler, Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik, Essen Prof. Dr. med. I. Füsgen, Lehrstuhl für Geriatrie der Universität Witten/Her- decke

Prof. Dr. med. Dr. h. c. W. Hollmann, Präsident des Deutschen Sportärztebun- des, Brüggen

Dr. med. W. Kruse, Geriatrisches Zen- trum Bethanien am Klinikum der Uni- versität Heidelberg

Prof. Dr. med. H. Losse, ern. Direktor der Medizinischen Universitäts-Polikli- nik, Münster

Prof. Dr. med. R.-M. Schütz, Direktor der Klinik für Angiologie und Geriatrie der Universität, Lübeck

Dt. Ärztebl. 89, Heft 47, 20. November 1992 (79) A1-4029

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